Besuche
in Lübeck
Aufzeichnungen
über Lebensumstände
meines
Ahns
Johann
Anton Grimm
Eine familienhistorische
Reportage
Vorwort
Diese familienhistorische Reportage über meinen Urururgroßvater Johann Anton Grimm entstand aus einer Laune heraus. Jetzt, da ich in Pension gegangen bin, verfüge ich plötzlich über Zeit - erwartet zwar, dennoch überraschend und verwirrend -, und da habe ich begonnen, mich mit der Vergangenheit meiner Familie zu beschäftigen, etwas, das mich bisher nicht besonders gereizt hat. Und es war genau dieser Mann, mit dem ich mich befassen wollte, dieser Ahn, der vor zweihundert Jahren als Speditionskaufmann in Lübeck lebte.
Warum er? Warum Johann Anton, und nicht zum Beispiel dessen Sohn Eduard Wilhelm Tielemann, der in Riga viel bedeutender gewesen ist als sein Vater in Lübeck, sogar Bürgermeister war? Der Grund: Der Champagnerkelch, der auf meinem Schrank steht. Es war so: Eines schönen Tages sitze ich im Sessel und sehe, wie die Sonne so lustig auf dem Glaskelch funkelt. Da sage ich zu mir: Wer war das eigentlich genau, jener Johann Anton Grimm, der uns dieses Glas hinterlassen hat? Denn das eine, dass der Kelch von ihm war, das wusste ich.
So kam die Idee zu den
Aufzeichnungen über Johann Anton Grimm, über ihn und Umstände
seines Lebens. Sie sind natürlich nicht vollständig, sie sind kein
Essay über „Grimm und seine Zeit“, mit Absicht fehlt im
Untertitel vor dem Wort „Lebensumstände“ der Artikel „die“:
Weder bin ich in der Lage, das Lübeck von vor zweihundert Jahren
umfassend auszuleuchten, noch ist es bei den geringen Informationen,
die es über Johann Anton gibt, möglich, ihn eingehend zu
beschreiben, geschweige denn zu charakterisieren.
Bevor ich vor einem
halben Jahr mit den Aufzeichnungen begann, hatte ich herzlich wenig,
nahezu gar nichts über diesen Mann gewusst. Ich habe als Kind immer
mal wieder etwas über ihn von den Eltern und Großeltern gehört, das
alles aber immer sofort wieder vergessen, weil es mich nicht
interessierte. Daher freue ich mich jetzt, dass ich das Wenige weiß,
das man über ihn in Erfahrung bringen kann.
Ich habe diese Schrift
eine familienhistorische Reportage genannt. Hochtrabend? Aber das ist
es nun einmal, was sie ist, egal wie bescheiden sie ausgefallen sein
mag: familienhistorisch sowieso, und eine Reportage. Ich stelle mir
vor: So wie man ein fremdes Land besucht, um es kennenzulernen –
und um gegebenenfalls über diese Reise eine Reportage zu schreiben
–, so habe ich die Zeit vor zweihundert Jahren in Lübeck besucht,
und ich berichte über sie. Unvollständig, ich sagte es ja, aber bei
welchem Besuch sieht man alles?
Man kann meine Reportage
nicht wie eine Biographie lesen, so ist sie nicht angelegt. Die
einzelnen Informationen über den Ahn, die Stadt, die Zeit werden im
Laufe der Kapitel beliebig eingestreut, so, wie sie im textlichen
Zusammenhang gerade passen. Kein streng chronologischer Bericht also, sondern ein bunt zusammengesetztes Mosaik, eine Patchworkdecke, ein Blumenstrauß.
Leider hat Johann Anton
Grimm um 1800 gelebt und nicht um 1400. Um 1400 war nämlich die
Blütezeit der Hanse, und Lübeck war da die mächtigste, die
reichste Stadt von allen über einhundert damals zum Hansebund
gehörenden Städten, mächtiger und reicher als Hamburg, sie war
die führende Hansestadt. Die ganze Ostsee blickte zu Lübeck auf.
Danach ist es wirtschaftlich wie politisch langsam bergab gegangen,
Hamburg, der Hafen zu den neu entdeckten Welten, lief Lübeck nach
und nach den Rang ab, Lübeck, dem Hafen zur klein gewordenen
Ostseewelt. „Ach Gott“, lässt Ida Boy-Ed in ihrem Lübeck-Roman
den Protagonisten um 1900 über seine Heimatstadt sagen, Lübeck, „die
Königin der Hansa einst – einer kümmerlichen Matrone hat sie
jahrhundertelang mehr geglichen als einer Fürstin.“ Und die
napoleonische Besetzung, auch wenn sie nur sieben Jahre gedauert hat,
machte Lübeck zusätzlich noch wirtschaftlich schwer zu schaffen. In
dieser für Lübeck bitteren Zeit hat unser Ahn gelebt, mit ihr
musste ich mich beschäftigen, nicht mit der goldenen Zeit von
Lübecks Größe.
Hamburg im Sommer 2016
Am 1. Juni 1823, einem
milden, sonnigen Spätfrühlingstag, wehte von der Ostsee her ein
schwacher Wind. Das Meer glitzerte in der Sonne, sanft schwappten
Wellen an die Kaimauern von Travemünde. Im Hafenwasser Holzreste,
vereinzelt Seetang, ein toter Fisch. Die Taue der Takelage in den
Fischerbooten und Frachtseglern schlugen leicht an die Masten. Die
Luft war gewürzt mit Seewasser und Fisch vom Meer her, vom Land her
duftete der Raps der nahen Felder. Durch den Hafen hallten die Rufe
der „Schauerlüüt“, über den Speichern die zeternden Schreie
der Silbermöwen und Seeschwalben. Die Menschen, die hier zu tun
hatten, die Schauermänner und Fischer, die „Folgemädchen"
mit Einkaufskörben für ihre Herrschaften, die Höker, die Kutscher
auf Pferdefuhrwerken, drei Matrosen auf dem am Kai festgemachten
kleinen modernen Fluss-Dampfsegler mit den beiden großen
Schaufelrädern an den Seiten, sicher auch einige Spaziergänger vom
neuen Strandbad her, Frauen mit kleinen Kindern an der Hand, alte,
gebeugte Männer, Hände auf dem Rücken und Pfeife im bärtigen
Mund, Dragoner der in der Nähe stationierten Hanseatischen Brigade
zu Pferd in blauer Uniform und schwarzen Tschakos, sagen wir zwei,
sich unterhaltend, der eine beugte sich vielleicht gerade halb
höflich lächelnd, halb anzüglich grienend zu zwei ihnen
entgegenkommenden „Demoiselles“ mit Körben auf dem Kopf herab
und lüpfte seinen hohen Tschako: „Gaudn Dach, smucke Mamsellings,
hüüt hefft wi fien Weder, wat?", worauf beide aufkicherten
und die eine halb spöttisch, halb kokett, ohne sich nach dem jungen
Reiter umzusehen, rief: „Jo, un so'n mojen Blötenröök inne Luft."
(so ein schöner Blütenduft) ..., diese Menschen sahen auf und
blickten über das Wasser. Vom Horizont her segelte langsam ein
Schiffsgeschwader in die Lübecker Bucht herein, drei imposante große
Dreimaster und mehrere kleine Boote, ein beeindruckendes Bild, auch
für die schiffsgewohnten Travemünder. „De Schwadroon föör de
schweedsche Königin", sagte einer, viele nickten wissend. Ein
anderer meinte: „Öäwer de kümmt nich in'n lüttn Tramünner
Haabn, de sün tau vääl.“
Es waren Schiffe der
schwedischen Kriegsmarine, die sich da mit schlaffen Segeln langsam
Travemünde näherten, ein sehr großes, gewaltiges Linienschiff,
zwei etwas kleinere Fregatten und mehrere noch kleinere Schiffe. Sie
fuhren nicht ganz an den Hafen heran, sondern ankerten draußen auf
der Reede. Vom Linienschiff, einem eindrucksvollen Schlachtschiff mit
drei Kanonendeckreihen, löste sich bald ein langes Beiboot, das, von
kräftigen Matrosenarmen gerudert, in den Hafen einfuhr und gleich
neben dem Travedampfer am Kai festmachte. Mehrere Männer, ganz
offensichtlich ranghohe Persönlichkeiten, einige in schwedischer
Uniform, sprangen lachend und heiter redend an Land, empfangen von
einer Gruppe Lübecker Honoratioren, die schon einige Zeit auf die
Ankömmlinge gewartet hatten, unter ihnen ein älterer Herr mit
gepflegtem Knebelbart, ungefähr Mitte sechzig, etwas altmodisch mit
einem Dreispitz auf einer gepuderten Zopf-Perücke mit Lockenröllchen
an den Seiten, dem offiziellen Anlass entsprechend. An einem
Halsband trug er ein ovales dunkelrot-goldenes Medaillon, die
schwedischen Besucher erkannten sofort den schwedischen Ritterorden.
Man begrüßte sich förmlich und höflich, dennoch entspannt und
heiter. Einige der Lübecker Herren mühten sich redlich mit dem
Schwedischen ab, die meisten schwedischen Offiziere sprachen Deutsch
in dem charakteristischen schwedischen Singsang.
Genau dreizehn Herren
waren da von dem Kriegsschiff gekommen. Sie stiegen, nachdem sie sich
über längere Zeit mit dem Lübecker Empfangskomitee unterhalten
hatten, alle zusammen in mehrere bereitstehende Kaleschen und fuhren
in den Ort.
Erst am Abend kamen sie zurück zum Hafen. Die Neuankömmlinge waren wohl in der Zwischenzeit bewirtet worden. Jetzt stiegen sie in den kleinen Schaufelrad-Dampfer, der augenblicklich losmachte, Segel setzte, die kleine Dampfmaschine aufstampfend anwarf, eine dicke schwarze Wolke in die Luft schleuderte und die Trave hinauf in Richtung Lübeck davonpuffte.
Erst am Abend kamen sie zurück zum Hafen. Die Neuankömmlinge waren wohl in der Zwischenzeit bewirtet worden. Jetzt stiegen sie in den kleinen Schaufelrad-Dampfer, der augenblicklich losmachte, Segel setzte, die kleine Dampfmaschine aufstampfend anwarf, eine dicke schwarze Wolke in die Luft schleuderte und die Trave hinauf in Richtung Lübeck davonpuffte.
Wechsel des Schauplatzes:
Oldesloe (Bad wurde der Ort offiziell erst hundert Jahre später),
dreißig Kilometer südwestlich von Lübeck, Poststation, 2. Juni
1823, fünf Uhr Nachmittag, immer noch herrliches Wetter, die Luft
satt mit Raps und Lindenblüten. Mehrere herrschaftliche Kutschen
standen vor der Station und den angrenzenden Häusern aufgereiht,
unter ihnen eine sehr große, sehr vornehme Karosse mit einer
riesigen Federung. Verteilt über den Sandplatz Soldaten zu Pferd,
laut, fröhlich, erschöpft, in verschiedenen Uniformen. „Mia san
heit von Hambuak ume kimma", hörte man einen sagen: bayrische
Kürassiere, begleitet von dänischen Husaren – Oldesloe gehörte
zu Dänemark – und von Angehörigen der Hamburger Bürgerwehr.
Der hochherrschaftlichen
Kutsche entstieg, nachdem ein dienstbeflissener bayrischer Offizier
den Schlag geöffnet und die Treppe heruntergeklappt hatte, ein
junges Mädchen, gerade sechzehn Jahre alt, offensichtlich von hoher
Abkunft. Derselbe ältere Herr mit dem Dreispitz und der altmodischen
gepuderten Zopf-Perücke mit den Lockenröllchen, der am Tag zuvor am
Travemünder Kai zum Empfangskomitee für die schwedische
Gesandtschaft gehört hatte, trat aus einer Gruppe lübischer
Honoratioren hervor und verneigte sich tief vor dem Mädchen. In
einem nicht ganz lupenreinen Französisch mit norddeutschem Akzent
brachte er seine große Freude über die hohe Ehre zum Ausdruck, die
junge bayrische Herzogin und nunmehrige schwedische Kronprinzessin
Josefina empfangen und nach Lübeck geleiten zu dürfen. Das Mädchen
antwortete charmant in akzentfreiem Französisch.
Erneuter Ortswechsel:
Zwei Stunden später in der Breitenstraße, Haus Nummer 821, im
Zentrum Lübecks, im großzügigen Hause eines Dr. med. Jacob August
Schetelig. Dichtes Gedränge in der weiten Diele, der Vorhalle. Die
dreizehn hohen Herren, die tags zuvor mit der schwedischen Schwadron
nach Travemünde gekommen waren, standen ebenso hohen Herren aus
München gegenüber. Es wurden feierliche Reden gehalten, man
unterhielt sich leise, aber zwanglos, Champagner wurde von Lakaien
auf riesigen Tabletts angeboten. Im Hintergrund hielt sich auch
wieder der ältere, knebelbärtige Herr Mitte sechzig auf mit der
Zopf-Perücke, wobei das keineswegs die einzige Perücke im Saal war.
In einem thronartigen Sessel inmitten der bayrischen Edlen saß
freundlich lächelnd und neugierig auf die schwedischen Herren
gegenüber blickend die sechzehnjährige Prinzessin, die Französisch
sprach wie eine Französin, umgeben von einigen jüngeren und älteren
Damen. Dann wurde sie gebeten sich zu erheben, und ein noch junger
Bayer, er mochte, nach seiner Kleidung zu schließen, ein Graf oder
gar ein Herzog sein, führte das Mädchen galant an der Hand hinüber
zur schwedischen Gruppe, aus der sich ein ebenfalls eher jüngerer
Herr, wohl auch ein Graf, herauslöste, auf die Prinzessin zuging,
sie aus der Hand des bayrischen Herzogs in Empfang nahm, sie ähnlich
galant zu einem anderen thronartigen Sessel führte, um den sich die
Schweden gruppierten, und lud sie dort mit einem höflichen Diener
ein darin Platz zu nehmen. Damit war die offizielle Übergabe der
bayrischen Prinzessin durch den bayrischen Hofstaat an den
schwedischen Hofstaat vollzogen, und man begab sich zur Abendtafel.
Gesprochen wurde
vorwiegend Französisch. Nur wenn gelegentlich Schweden
untereinander redeten, geschah das auf Schwedisch. Und wenn
gelegentlich Lübecker miteinander redeten, etwa Herr Dr. Schetelig
mit Senator von Evers oder der alte Konsul Grimm mit dem
Bürgermeister, dann sprach man Platt. „Sei snackt je man bannich
akkraat Franzöösch, dei Prinzess", könnte der Konsul gesagt
haben. „Nu,
dat is je ook ehr Mudderschpraak", lasse ich den Bürgermeister
entgegnen. (Die Lübecker, die eher das Mecklenburger Platt sprechen,
sstolpern nicht über sspitze Ssteine wie die Holsteiner und
Hamburger, also sagen sie „Mudderschpraak“ statt „Muddersspraak“,
„Mudder“ übrigens fast wie „Murrer“ ausgesprochen, und
„Schpraak“ mit langem, offenem o, also etwa: „Murrerschprork“.)
Nach dem Essen wurden die Herren in einen Nebenraum geladen, wo die neuartigen englischen Zigarren aus den Kolonien in Amerika angeboten wurden. „Dei Knastersmöök“, werden die Älteren gesagt haben, „nee, dat is nix föör mi. Dor preferier ik mien meerschümern Pipen tau Huus.“
Am folgenden Tag, dem 3. Juni 1823, früher Abend, im Holstentor, dem mittleren Tor der früheren Anlage, die ursprünglich aus drei hintereinander folgenden Toren bestanden hatte. (1823 stand noch das äußere Holstentor, „Krummes Tor“ genannt; es wurde erst 1853 abgerissen.) Ein noch größerer Kutschenkonvoi als am Vortag in Oldesloe, noch mehr Soldaten, und die größte Kutsche noch vornehmer. Diesmal trat eine Dame Mitte vierzig aus dem Innern des fürstlichen Gefährts, etwas füllig, aber mit einem besonders anziehenden Lächeln: die schwedische Königin Desideria. Sie blickte zum abendlichen Himmel empor und sog sichtlich zufrieden die frühsommerliche Luft ein. Nachdem drei schwedische Grafen die Monarchin begrüßt hatten, ein älterer und zwei jüngere in Paradeuniform, trat auch der uns bereits bekannte ältere Herr mit dem Dreispitz und der gepuderten Perücke und dem ovalen dunkelrot-goldenen Medaillon am Halsband auf die Königin zu, stellte sich als der schwedisch-norwegische Generalkonsul in der Hansestadt Lübeck vor und fragte, den Hut ziehend und sich ehrerbietig tief verbeugend, in einem mit plattdeutschem Akzent versehenen Französisch, ob Ihre Majestät eine angenehme Reise aus Paris hinter sich habe, worauf die Königin, wie die bayrische Prinzessin akzentfrei, antwortete: „Un voyage très agréable, Monsieur le Consul Général. Il fait beau temps maintenant ici, Monsieur. J'espère que cela soit pareil en Suède en été." - „Tout pareil", beruhigte sie der ältere Herr und verneigte sich so tief, dass es aussah, „as wenn hei Knöpnadeln up den Fautbodden säuken ded“ (Fritz Reuter. Knöpnadeln sind Stecknadeln). „Vous aimerez l'été Suédois. Il est tout comme à Paris." Er wusste, wie sehr die Königin den kalten Norden fürchtete. Schließlich war sie vor zwölf Jahren, als sie zum ersten Mal schwedischen Boden betreten hatte – im Winter –, Hals über Kopf wieder in ihre französische Heimat zurückgekehrt und dort geblieben.
Der Blick der Königin
fiel auf das Medaillon am Halsband, und sie fragte: „Un ordre?"
„Un ordre Suédois, Son Altesse. Le roi, le prédécesseur de
l'époux de Son Altesse, m'a remit cet ordre de chevalerie de Vasa."
„Chevalier?", erwiderte die Königin. „C'est très bon."
Sie hatte offenbar nie etwas von dem Wasa-Orden gehört, alles
Schwedische war ihr fremd. Er sagte, er habe die überaus große
Ehre, Ihre Majestät Allerhöchst in die Stadt begleiten zu dürfen.
Und gemeinsam ratterte man in einer großen offenen Kutsche über die
gepflasterten Straßen auf die Parade, eine Straße oberhalb des
Doms, zur Villa des Senators Christian Nicolaus von Evers, Haus
Nummer 950.
Dort, in der vornehmen
Villa des Senators von Evers, so stelle ich es mir vor, gab es einen
großen Empfang. Hohe Würdenträger aus Frankreich, aus Schweden,
aus Bayern, aus Lübeck drängten sich im Empfangssaal. Auch die
sechzehnjährige Prinzessin war anwesend. Wieder wurden Reden
gehalten, Toasts ausgesprochen, man unterhielt sich leise und höflich
über Belangloses, man langweilte sich und wartete sehnsüchtig auf
das Essen.
Irgendwann erhob sich der
schwedische Generalkonsul in Lübeck, Johann Anton Grimm, der ältere
Herr mit dem gepflegten Knebelbart, der gepuderten Perücke und dem
dunkelrot-goldenen Ritterorden am Hals. Er trat an einen der mit
Getränken überbordenden Tische, nahm von dort einen hohen,
prachtvollen gläsernen Champagnerkelch auf, voll gefüllt mit
perlendem – lassen wir es einen Chartogne Taillet sein, der klingt
sehr edel und den gab es 1823 schon. Mit zwei Händen musste er den
Kelch tragen, schritt mit ihm feierlich zur Königin, die lässig in
einem Repräsentationssessel lehnte, verbeugte sich und reichte ihr
das Glasgefäß mit den Worten: „Son Altesse Royale, soyez la
bienvenue. Je me sens très honoré de vous accueillir pour votre
visite ici dans la ville anséatic de Lübeck", und so weiter;
mag sein, dass das Französisch nicht ganz fehlerfrei war. Die
Königin nahm den Kelch, fast verschüttete sie dabei ein wenig,
setzte ihre rot geschminkten Lippen an den Goldrand, was ihr, da sie
saß und der Fuß des Kelches an ihren Schoß stieß, nur mit Mühe
gelang. Sie musste ihren Kopf heben, so hoch war das Gefäß. „Comme
il est beau, le verre", sagte Königin Desideria, das
goldverzierte Prachtglas bewundernd, nippte einmal, nippte zweimal
und nahm dann nochmal zwei kräftige Schlucke, setzte ab, setzte
wieder an und nahm einen abschließenden Schluck. Der Chartogne
Taillet gefiel ihr sichtlich. Dann gab sie das Glas zurück. Auch der
jungen Prinzessin Josefina wurde der Champagner kredenzt, auch sie
machte auf Französisch eine anerkennende Bemerkung über den
Glaskelch, auch sie hinterließ leichte Lippenstiftspuren an dem
Goldrand.
Und dann hieß es
endlich: „Ses Altesses Royales, Mesdames et Messieurs, à table,
s'il vous plaît."
Der Champagnerkelch
Um mir für die
Beschreibung den Champagnerkelch, unser Familienheiligtum, vom
Schrank herabzuholen, wasche ich erst einmal meine Hände und ziehe
weiße Baumwollhandschuhe an wie in einem Archiv, wenn man besonders
alte und wertvolle Pergamentrollen in die Hand nehmen möchte.
Vorsichtig hebe ich mit beiden Händen das geheiligte Glasgefäß vom
Schrank herunter. Ganz so heilig glänzen tut es allerdings nicht, es
ist völlig verstaubt, unten im Kelchgrund modert unter Fusseln eine
vertrocknete Mückenleiche. Vielleicht sollte man das Heiligtum ab
und zu mal waschen.
Das mache ich jetzt, und
zwar ganz respektlos mit Wasser. Das Bad tut ihm sichtlich gut: Es
beginnt zu glänzen. Ich stelle es sodann vorsichtig vor mir auf den
Tisch.
Knapp 43 Zentimeter hoch
ragt der Glaskelch vor mir auf, die Öffnung mit dem Goldrand oben
mit einem Durchmesser von achteinhalb Zentimetern, und der kreisrunde
flache Fuß unten mit dem doppelten Goldrand hat einen Durchmesser
von zehneinhalb Zentimetern. Dieses wunderschöne Stück festes,
relativ dickes, solides Glas ist eine Handarbeit, nichts ist
maschinell regelmäßig, einige kleine Luftbläschen unten im Stiel
und im Fuß, der ganze Kelch steht ein wenig wackelig. Mit vierzehn
Zentimetern bietet der oktagonische Stiel oberhalb des runden Fußes
gerade genug Platz, um das Gefäß mit zwei Händen zu greifen.
Oberhalb des Stiels öffnet sich der Kelch schlank über 26
Zentimeter hoch. Und dieser Hauptteil des Kelches, in den der
Champagner eingefüllt wird, ist durchzogen von Verzierungen in
dunklem Gold: stilisierte Blumen, länglich in die Höhe gezogene
Bogenlinien, oben am Rand Borten, Eichenblätter, mäandernde
Blumenmuster, alles wie auf einem Ehrenpokal, nicht überladen, ein
dicker Goldrand oben, wo der (oder die) Trinkende nippt.
Ich kenne diesen
Glaskelch seit meiner Kindheit. Er stand immer schon auf dem
Schrank, auch bereits in unserem elterlichen Wohnzimmer. Und einmal im
Jahr, zu Silvester, wurde er feierlich vom Schrank heruntergeholt,
mit Sekt gefüllt und als Neujahrstrunk herumgereicht. Jeder durfte
einen Schluck nehmen, auch wir Kinder, jeder durfte seine Lippen an
den geschichtsträchtigen Goldrand setzen und nippen wie –
vielleicht – die schwedische Königin Desideria und die
schwedische Kronprinzessin Josefina im Juni 1823. Für uns war
dieser gläserne Prachtkelch eine Ikone, ein Palladium, der Gral.
Denn: Auch wenn Königin und Prinzessin daraus gar nicht getrunken
haben, und auch wenn nicht einmal genau feststeht, bei welchem
Empfang der Kelch zum Einsatz gekommen ist, von einem dürfen wir mit
Sicherheit ausgehen: Der Champagnerkelch ist für einen königlichen
Empfang angeschafft worden. Daran lässt die Familienüberlieferung
keinen Zweifel.
Ich setze jetzt mal fest,
es war der Empfang Anfang Juni 1823. Aber woher wissen wir, dass es
diesen Empfang gegeben hat, den ich in meinen Eingangsszenen
ausfantasiert habe?
Es gibt eine Notiz von
Johann Anton, nicht im Original, sondern in einer Abschrift von
dessen Enkel Wilhelm, meinem Urgroßvater. Der hat biografische
„Lebensskizzen“ über einige Grimms verfasst, eben auch über
seinen Großvater Johann Anton, und darin zitiert er die Notiz. Sie
lautet – fehlerbereinigt – so:
"Im August 1823 erhielt
ich von Sr. Königlichen Hoheit, dem Kronprinzen Oscar zum Beweise
Allerhöchst dero Zufriedenheit für die Aufnahme Ihro
Durchlauchtigsten Braut, der Prinzessin Josephine, Tochter des
Herzogs von Leuchtenberg und Fürsten zu Eichstätt Eugène de
Beauharnais, diese goldene Dose, auf deren Deckel sich ein O
(?) Brillanten findet, zum Geschenk. Zur Abholung der Prinzessin von hier
nach Stockholm traf hier am 1. Juni eine schwedische Escadre von 1
Linienschiff, 2 Fregatten und verschiedenen kleineren Fahrzeugen auf
der Travemünder Reede ein, auf welcher sich die königl. schwed.
Suite zur Empfangnahme allhier befand. Sie bestand aus 13 Personen,
worunter sich ... befanden, die denselben Abend noch mit einem
Dampfschiffe von Travemünde nach Lübeck kamen.
Den 2. Juni um 5 Uhr
nachmittags traf die Prinzessin mit ihrer Suite in hohem Wohlsein
hier ein. Ich hatte den ehrenvollen Auftrag, die Prinzessin in
Oldesloe zu empfangen und nach Lübeck zu begleiten, wo sie im
Hause des Dr. Schetelig in der Breitenstraße abstieg, wo sie von
dem schwed. Hofstaat empfangen wurde. Noch denselben Abend um 7 Uhr
wurde die Prinzessin Braut von dem kgl. bayrischen Hofstaat
übergeben, bei welchem Akte ich gegenwärtig war. Und um 9 Uhr war
große Abendtafel, wozu ich, wie auch den anderen Mittag, gezogen
wurde.
Noch denselben Abend
trafen Ihre Majestät die Regierende Königin von Paris hier ein.
Ich empfing Allerhöchst dieselbe mit drei anderen schwedischen
Herren vor dem Holstentor und begleitete Allerhöchst nach ihrem
Absteigequartier bei dem Senator v. Evers auf der Parade.
Da am 4. der Wind sehr
vorteilhaft war, so gingen die Allerhöchsten Herrschaften schon um
1 Uhr mittags mit dem Dampfschiffe von hier durch Travemünde nach
der Reede auf den Kriegsschiffen ab und setzten ihre Reise nach
einer Stunde mit günstigem Wind nach Stockholm fort, wo sie nach
einer angenehmen Fahrt von 8 Tagen glücklich und gesund angekommen.
Dieses meinen lieben
Kindern zur Nachricht.
Lübeck, d. 9. Novbr.
1823
Joh. Anton Grimm"
Das ist meine Quelle. Ich
denke, dass das meiste, was hier steht, so stimmt: die Orte, die
Schiffe, die schwedische Abordnung, aus dreizehn Personen bestehend,
die zeremonielle Übergabe der Prinzessin von einem Hofstaat an den
anderen, die Abendtafel, die Namen Evers, Schetelig (Ich habe die
beiden später in dem Lübecker Adressenverzeichnis im Archiv
gefunden), den Ort Oldesloe, das Holstentor, die Parade und
Breitenstraße, die beiden Fregatten, das Linienschiff, und so
weiter. Fast alles habe ich an anderer Stelle bestätigt gesehen.
Nur den Empfang am 3. Juni abends im Hause Evers auf der Parade, den
habe ich erfunden. Aber ich gehe einfach davon aus, dass es
irgendeine solche Zeremonie für die Königin gegeben haben muss.
Und dabei ist eben unser Kelch zum Einsatz gekommen.
Warum haben die Empfänge
nicht im Haus des Generalkonsuls stattgefunden? Ich vermute: Sein
Haus war zu klein. Das Haus des Senators von Evers befand sich in der
Parade Nr. 950. An seiner Stelle – heute Nr. 1 – steht jetzt das
„Schloss Rantzau“, ein zwar neugotischer, aber dennoch schöner,
jedenfalls prachtvoller Repräsentativbau. Wenn man davorsteht, kann
man sich das Gebäude leicht für einen königlichen Empfang
vorstellen. So muss auch das Evertsche Haus gewirkt haben.
Auch das Haus des Dr.
Schetelig in der Breitenstraße Nr. 821, in dem die Prinzessin
abgestiegen war, wird so ein repräsentatives Gebäude gewesen sein.
Das kann man heute allerdings nicht mehr nachvollziehen, denn an der
Stelle stehen jetzt, mitten in der Einkaufszone, zwei nüchterne
Büroklötze, in denen unten eine „Back-Factory“ und ein
„Nordsee“-Fischrestaurant untergebracht sind.
Ist die Königin am 3.
Juni oder schon am 2. Juni angekommen? Ich lasse sie am dritten in
Lübeck eintreffen, nach Johann Antons Worten in der Notiz („noch
denselben Abend“) müsste es jedoch eher der zweite gewesen sein.
Demnach wäre sie noch am Abend der Ankunft ihrer Schwiegertochter um
neun Uhr zu der „großen Abendtafel“ dazugestoßen. Ich bin mir
da nicht sicher. Aber allzu genau können wir das leider ohnehin
nicht nehmen, weil die Daten der Notiz nicht sattelfest zu sein
scheinen. Dazu später in diesem Kapitel mehr.
Jetzt die Frage: Wieso
kam die Königin überhaupt aus Paris? Warum war sie nicht in ihrem
Schweden, wo sie hingehörte? War sie auf Reisen? Nein, das war sie
nicht. Sondern sie kam aus ihrer Heimat. Königin Desideria hieß
nämlich eigentlich Désirée und war Französin. Daher sprach sie
auch akzentfrei Französisch. Warum war sie nun in ihrer Heimat und
nicht in dem Land, dessen Königin sie war?
Désirée Clary, so hieß
sie mit vollem bürgerlichen Namen, stammte aus Marseille. Ihr Vater
war Seidenhändler, und sie heiratete einen Monsieur Bernadotte aus
der Gascogne. Als ihr Mann 1810 Kronprinz von Schweden wurde, musste
sie ihm in dieses ferne, unbekannte Land folgen. Es war auch noch
Dezember, als sie, 1810, reiste, und die arme, bedauernswerte
Südfranzösin war krank vor Heimweh bei der Kälte und der
Dunkelheit des Nordens. Die ganze Fahrt über hatte sie schon an
einem grippalen Fieber gelitten. Kein halbes Jahr hielt sie es in
Stockholm aus, dann zog es sie zurück in ihr geliebtes Paris. Zwölf
Jahre blieb sie dort, fern von Ehemann, Sohn Oscar und ihrem Volk,
bis sie sich im Sommer 1823 endlich entschloss, doch für immer nach
Schweden zu ziehen. Auf dieser zweiten Reise kam sie eben durch
Lübeck (wo ich den Generalkonsul der Königin beim Empfang am
Holstentor versichern lasse, dass der schwedische Sommer ganz wie in
Paris sei), und dort traf sie mit ihrer Schwiegertochter Josefina
zusammen. (Offiziell erhielt Désirée den Namen Desideria übrigens
erst am 21. August 1829 bei ihrer zeremoniellen Krönungsfeier.)
Und wer war diese
sechzehnjährige Kronprinzessin Josefina aus Bayern, die so „akkraat
Franzöösch snackt", weil das „ehr Mudderschpraak" ist?
Sie war keineswegs
Bayerin, sondern ebenfalls Französin und hieß eigentlich nicht
Josefina, sondern Joséphine. Ihr Vater, der Herzog von Leuchtenberg
und Fürst zu Eichstätt, war nämlich auch kein gebürtiger Bayer,
sondern er stammte aus Paris. Er hieß Eugène de Beauharnais und
war der Sohn der berühmten Joséphine de Beauharnais aus ihrer
ersten Ehe – sie war in zweiter Ehe mit Napoleon verheiratet, bis
1810. Mit Napoleons Unterstützung – der war sein Adoptivvater –
heiratete dieser Eugène de Beauharnais die Prinzessin Auguste von
Bayern, Tochter des bayrischen Königs Maximilian. Eugènes und
Augustes Tochter Joséphine, geboren 1807, lebte ab 1815, dem Jahr
von Napoleons Untergang, in Bayern. Sicher sprach sie Deutsch,
schließlich war ihre Mutter Auguste Deutsche, aber ihre Haussprache
gewissermaßen, die Sprache, mit der sie groß wurde, ihre
Vatersprache sozusagen, war Französisch.
Die Hochzeit zwischen
dieser Joséphine und dem schwedischen Thronfolger Oscar, dem Sohn
Désirées also, fand in zwei Teilen statt. Im ersten Teil gab es
eine Zeremonie in Abwesenheit des Bräutigams, und zwar am 22. Mai
1823 in München. Von dort fuhr Joséphine Anfang Juni 1823 über
Lübeck, wo sie mit ihrer aus Paris kommenden Schwiegermutter
zusammenkam und vom bayrischen an den schwedischen Hofstaat
übergeben wurde, nach Stockholm. Dort, in Stockholm, wurde dann am
19. Juni der zweite Teil der Hochzeit gefeiert, diesmal zusammen mit
Bräutigam Oscar.
Das war die Situation, in
der Königin Desideria und Prinzessin Josefina in Lübeck von dem
schwedischen Generalkonsul Johann Anton Grimm empfangen wurden. Es
war Frühling, die Luft lau und blütenschwanger. Das versetzte die
Frau, die zwölf Jahre zuvor nach Nordeuropa gefröstelt war, in
eine weit bessere Stimmung, eine Stimmung, in der man auch gerne
einen Schluck Champagner trinkt, erst recht, wenn man ihn in einem so
schönen Glaskelch dargereicht bekommt. Und der Frühling versetzte
sie in eine Stimmung, in der man auch als Südfranzösin gern nach
Schweden segelt, vor allem wenn es sich um ein so stattliches Schiff
handelt wie das Linienschiff, das vor Travemünde in der Lübecker
Bucht auf sie wartete.
Exkurs: Linienschiff. Mit
diesem Begriff konnte ich nichts anfangen, als ich ihn zum erstenmal
las. Ich habe ihn gegoogelt und bei Wikipedia dies gefunden:
Linienschiffe waren damals die größten Kriegs-Segelschiffe,
bestückt mit fünfzig bis hundertdreißig Kanonen verteilt über
zwei, drei oder sogar vier Decks. Sie waren größer und damit
schwerfälliger als Fregatten, bei denen es mehr auf Schnelligkeit
und Wendigkeit ankam. In der Gefechtsordnung segelten die
Linienschiffe in Formation hintereinander in Kiellinie – daher der
Name – und bildeten so, alle zusammen, zur Seite hin eine Front mit
unzähligen Kanonen. Taktisches Ziel solcher Seeschlachten mit
Linienschiffen war es unter anderem, die Linien des Gegners zu
durchbrechen. Daher fuhr man mit möglichst vielen Linienschiffen
auf. In der Schlacht von Trafalgar 1805 beispielsweise, in welcher
die Briten der Marine Napoleons eine vernichtende Niederlage
beigebracht haben, standen sich mehrere solcher Kampflinien von etwa
dreißig Linienschiffen auf jeder Seite gegenüber, grob geschätzt
dreitausend Kanonen pro Seite. Es gibt Skizzen und Gemälde, in denen
man das schön sehen kann.
Das Flaggschiff der
Briten in der Trafalgarschlacht übrigens, ein
Dreidecker-Linienschiff, die "Victory", auf der der
siegreiche Admiral Nelson fiel, steht heute als Museumsschiff im
Hafen von Portsmouth im Süden Englands. Ich war einmal dort und habe
das Schiff besichtigt – ohne zu wissen, dass es sich um ein
Linienschiff handelt –, und ich erinnere mich, wie überrascht ich
war von der Größe dieses Segelschiffes: Auch wenn man heutige
Frachter gewohnt ist – klammern wir mal die Containerhypergiganten
aus –, so ist man doch beeindruckt von so einem Schiffsriesen, in
dem man sich über die vielen Stockwerke, Treppen, Gänge leicht
verlaufen könnte. Man wundert sich, dass so ein gewaltiger Koloss
allein durch Windkraft in Bewegung gesetzt werden kann.
Ich erinnere mich aber
auch, wie beklemmend eng es in den Kanonendecks war: Kanone neben
Kanone, und jede musste von mehreren Männern bedient werden, unter
niedrigen Decken, für den einzelnen gerade so viel Platz, dass
Kugeln geholt, die Kanonen gestopft und abgeschossen werden konnten.
Was muss das für ein Krach gewesen sein. Die Leute müssen, wenn sie
überhaupt eine Schlacht überlebt haben, mit einem Ohrenschaden nach
Hause zurückgekehrt sein. Und dann, in dieser Eingeschlossenheit –
nach draußen sah man gar nichts, und von draußen pfiff nur Luftzug
herein –, die ständige Angst vor Zertrümmerung der Bordwand,
Wassereintritt, Untergang. Viel enger ist es in einem U-Boot auch
nicht mehr.
Unvorstellbar auch die
Männermassen, die auf so einem Schiff hausten und arbeiteten,
Hunderte pro Schiff, von bis zu dreihundert Matrosen lese ich, bei
großen Kriegsschiffen noch weitere vierhundert Soldaten.
Siebenhundert Männer auf dem Schiff, und das oft über Monate! Die
Schlaf-Hängematten, die jeweils von zwei oder drei Matrosen
abwechselnd belegt wurden, hingen dicht bei dicht nebeneinander, so
dass man sich nur mit Mühe hineinzwängen konnte.
Ich füge Informationen
hinzu, die ich von einer Tafel im „Maritimen Museum" im
ehemaligen Kaispeicher B in der Hafencity in Hamburg habe: Die Decks
wurden selten gewaschen, Schmutz bei schlechtem Wetter einfach in die
Bilge geleitet. (Bilge, auf See wohl auch eng-lisch ausgesprochen,
Biltsch, ist der unterste Raum in einem Schiff gleich über den
Kielplanken, in dem ständig eindringendes fauliges Wasser
schwappte.) Zur Belüftung der unteren Decks wurden die
Geschützpforten geöffnet. Bei schwer geladenen Schiffen unterblieb
selbst das, denn die Öffnungen waren dann unter Wasser.
Feuchtigkeit, Dunkelheit und schlechte Luft setzten den Seeleuten zu.
Und in dieser Atmosphäre leisteten Matrosen Schwerstarbeit. Sie
waren manchmal so erschöpft, dass sie aus purer körperlicher
Kraftlosigkeit Fehler begingen und Unfälle verursachten.
An Bord wurde eiserne
Disziplin eingefordert, selbst bei kleinsten Vergehen gab es die
Prügelstrafe. Was zur Meuterei auf der Bounty führte, war, wie ich
auch woanders einmal irgendwo gelesen habe, gang und gäbe auf allen
Schiffen der Weltmeere. Mit Windjammer-Romantik hat das nicht viel zu
tun.
Lebensmittel wurden auf
langen Reisen immer ungenießbarer. Trocknen und Salzen waren die
einzigen Möglichkeiten zu ihrer Konservierung, frischer Proviant
fehlte meist völlig. Nach wenigen Wochen auf See wurde zudem das
Trinkwasser brackig. Ersatzweise gab man den durstigen Männern
Branntwein, und zwar in großen Mengen. Zum Durstlöschen! Jedenfalls
war wenigstens an Schnaps kein Mangel auf den Schiffen, die Seeleute
müssen alle Alkoholiker gewesen sein. Es ist, glaube ich, kein
Seemannsgarn, wenn erzählt wird, dass Admiral Nelson nach seinem Tod
während der siegreichen Schlacht von Trafalgar in einem Fass voll
Rum – davon hatte man genug – zurück nach England gebracht
wurde, damit der Körper bis zur Siegesfeier und Bestattung nicht
zerfiel.
Die häufigste
Todesursache auf See jedoch waren Mangel- und Infektionskrankheiten,
so die Infotafel weiter. Die Geißel der Seefahrt war der Skorbut.
(Die Infotafel schreibt „die Skorbut", mehrmals, leider
falsch.) Erst als der schottische Arzt James Lind 1753 nachwies, dass
der Verzehr von Vitamin C enthaltenden Zitrusfrüchten den Ausbruch
der Krankheit verhindere, konnte sie ihren Schrecken verlieren. Doch
die Studie blieb lange unbeachtet. Ich denke aber, bis 1823 hatte sie
sich bis Schweden herumgesprochen, und die Besatzungen der
schwedischen „Escadre" vor Travemünde brauchten zumindest
diese Geißel nicht mehr zu fürchten.
An all das dachte man
jedoch nicht, wenn man 1823 von einem Linienschiff schrieb, sondern
man dachte an ein stolzes Schlachtschiff, an ein Schiff zum
Repräsentieren: Eine Königliche Hoheit fuhr in einem Linienschiff.
Der riesige Viermaster „Passat“ übrigens, der heute als Museumsschiff in Travemünde liegt, verzerrt uns Heutigen die Vorstellung von so einem Linienschiff, da es sich dabei um eine Stahlbark aus dem frühen 20. Jahrhundert handelt, nicht vergleichbar mit den Schiffen von über einem Jahrhundert davor.
Der riesige Viermaster „Passat“ übrigens, der heute als Museumsschiff in Travemünde liegt, verzerrt uns Heutigen die Vorstellung von so einem Linienschiff, da es sich dabei um eine Stahlbark aus dem frühen 20. Jahrhundert handelt, nicht vergleichbar mit den Schiffen von über einem Jahrhundert davor.
Zurück nach Lübeck zu
Johann Anton Grimm: Leider stimmen einige Angaben aus seiner Notiz
nicht überein mit dem, was ich in anderen Darstellungen gelesen
habe. In einer sehr detaillierten Biographie Bernadottes, des
Ehemanns der Désirée, einem Buch, das ganz offenbar auf gutem
Quellenstudium beruht, nämlich Alan Palmers „Bernadotte,
Napoleon's Marshal, Sweden's King“ (1990), lese ich, dass Königin
und Kronprinzessin am 3. Juni mit den Schiffen schon vor Stockholm
eingelaufen seien, dem Tag, an dem ich noch große Abendtafel in
Lübeck halten lasse. Johann Anton schreibt, erst am 4. Juni sei die
Schwadron vor Travemünde in See gestochen. Wem dürfen wir glauben?
Ich fürchte, eher Alan Palmer.
Der schreibt außerdem,
die schwedische Abordnung habe mehrere Tage auf günstigen Wind
warten müssen, habe also nicht gleich am folgenden Tag abreisen
können. Und: So angenehm scheint die Seereise zumindest für die
Königin nicht gewesen zu sein, wie Johann Anton notiert hat: Sie
sei, so schreibt Palmer, die ganze Fahrt über seekrank gewesen. Aber
das gute Wetter, das ich für ihre gute Laune in Lübeck und für
ihre Zuversicht auf einen zweiten Versuch in Stockholm brauche, das
wird von Alan Palmer bestätigt.
Eine weitere
Ungereimtheit habe ich ebenfalls nicht klären können: In zwei
historischen Berichten finde ich, dass das erste Dampfschiff in
Lübeck erst 1824 zum Einsatz gekommen sei. In der Aufzeichnung meines Ahns wird aber unmissverständlich der Dampfer erwähnt,
zweimal, und die Aufzeichnung ist nicht etwa viel später
niedergeschrieben worden mit der Möglichkeit einer irrigen
Erinnerung, die Aufzeichnung stammt vom November 1823. Die Daten mag
er nicht mehr genau im Kopf gehabt haben, mit dem Dampfer kann er
sich nach einem halben Jahr nicht geirrt haben. Erklärungsversuch:
In den historischen Berichten wird von dem Einrichten der ersten
Dampfschiff-Linie zwischen Travemünde und Kopenhagen gesprochen.
Eventuell gab es vorher schon einen kleinen Flussdampfer-Betrieb
zwischen Lübeck und Travemünde.
Wie auch immer, dieser
Dampfer hatte zwei große Schaufelräder, eines an jeder Seite,
worüber die Trave-Fischer sich beschwerten, wie ich lese, weil
„durch solche wöchentlich wiederkehrende Bewegungen des Wassers
der Trave die junge Fischbrut im Sommer zerstört, das Ausbrüten
derselben gehemmt und durch das gewaltige Schlagen der auf den beiden
Seiten eines Dampfschiffes sich mit großer Gewalt bewegenden Räder
das Fortkommen der jungen Fische, die länger als ein Jahr bedürfen,
gestört wird." Auf Bildern aus der Zeit sieht man übrigens,
dass diese Dampfer noch hohe Masten hatten und auch unter Segel
fuhren.
Die goldene Dose mit dem "O Brillanten" (mir unverständlich. Kreis Brillanten?) ist
verschollen. Wilhelm notierte, sie sei im Besitz seines Neffen
Herbert. Die letzte mir bekannte Nachricht von diesem Neffen: 1921
geschieden. Dessen Nachkommen möchte ich nicht nach der Golddose
absuchen. Die können sonstwo in der Welt verstreut sein, das ist mir
zu aufwendig. Und wer weiß, am Ende finde ich heraus, dass die Dose
irgendwann verpfändet wurde. Von so einem Familiensakrileg möchte
ich lieber nicht erfahren.
Aber der Champagnerkelch,
den gibt es. Den habe ich hier vor mir. Und dass der bei einem
Empfang im Juni 1823 zum Einsatz kam, das ist zumindest gut möglich.
Wenn der Generalkonsul die beiden Hoheiten nicht in seinem eigenen
Hause absteigen lassen konnte – weil es nicht herrschaftlich genug
war? –, dann wollte er der Königin und der Kronprinzessin bei dem
offiziellen Empfang im Hause des Senators von Evers auf der Parade
wenigstens feierlich etwas kredenzen; und er dachte daran, einen
Champagnerkelch machen zu lassen, natürlich nicht irgendeinen,
sondern einen großen, einen prächtigen mit Goldverzierungen, einen
Repräsentationskelch.
Kann aber natürlich auch
sein, dass keine von den beiden hohen Herrschaften das Glas überhaupt
gesehen hat. Vielleicht hat der Konsul es gar nicht anfertigen,
sondern von einem seiner Gesellen in einem Glasgeschäft kaufen
lassen und es für den Empfang bereitgehalten. Dann jedoch war die
Königin vielleicht zu erschöpft von der langen Reise und hat sich
gleich mit ihrer Schwiegertochter an den Esstisch gesetzt, um schnell
einen Imbiss einzunehmen und sich dann eilig ins Bett zu begeben.
Der Kelch stand dann noch immer in der Vorhalle des Hauses, in dem
der Empfang stattgefunden hatte – ein kurzer, hastiger Empfang,
keine Zeit für ermüdende Rituale –, und der Champagner darin
moussierte unangetastet vor sich hin, bis das Folgemädchen, wie die
Dienstmädchen genannt wurden – bei Thomas Mann lese ich auch
„Folgmädchen", ohne e –, bis solch ein Folgemädchen ihn
mit dem anderen Geschirr abräumte, wusch und zum Haus des Herrn
Konsul brachte. Und der Konsul stellte das gute Stück dann, ohne
dass es je von königlichen Lippen berührt worden wäre, in seinen
Wohnzimmerschrank.
Es ist übrigens
keineswegs ausgeschlossen, dass nicht (nur) Désirée, sondern (auch)
Bernadotte aus dem Glas getrunken hat. Es ist nämlich
wahrscheinlich, sogar sicher, dass sich auch der schwedische
Herrscher und der schwedische Konsul in Lübeck persönlich begegnet
sind: Mindestens zwei Anlässe kommen in Frage: Die Befreiung Lübecks
von der französischen Besatzung im Dezember 1813 durch Bernadotte,
damals noch nicht König, sondern schwedischer Kronprinz. Und
zweitens die Rückkehr des Kronprinzen von den Siegesfeiern über
Napoleon in Paris 1814. Dabei ist er nachweislich durch Lübeck
gekommen, um am 26. Mai in Travemünde an Bord einer Fregatte nach
Stockholm zu gehen. Und dass der Kronprinz Schwedens durch Lübeck
reiste, ohne dass der schwedische Konsul ihn empfing, das ist nahezu
ausgeschlossen. Es ist daher denkbar, dass unser Champagnerkelch
schon bei einem dieser beiden Anlässe seinen Auftritt hatte und
somit Bernadottes Lippenspuren trägt. Und wenn es so war, warum soll
der Generalkonsul nicht den Kelch neun Jahre später noch einmal aus
dem Schrank geholt und ihn beim Empfang im Haus des Senators auf der
Parade auch der Königin und der Kronprinzessin dargereicht haben?
Damit hätten Désirée und Bernadotte daraus getrunken, und
zusätzlich noch die Prinzessin
Das alles ist leider
nicht belegt. Aber eines ist sicher: Der Kelch existiert, er ist
zweihundert Jahre alt und stammt von meinem Urururgroßvater. Und
wenn er gar nicht bei einem königlichen Empfang zum Einsatz
gekommen ist, so war er zumindest für einen königlichen Empfang
gedacht. Daher: Ich bewahre den Champagnerkelch wie den heiligen Gral
und erzähle jedem: Aus diesem Glas tranken einst die schwedische
Königin, die Urmutter des Hauses Bernadotte, und Carl Johann, wie er
sich in Schweden nannte, der Urvater des Hauses Bernadotte, des
Königshauses, das noch heute in Drottningholm residiert.
Bernadotte
Haus Bernadotte, so heißt
die heutige schwedische Königsfamilie. Bernadotte? Wer war
Bernadotte, der Ehemann Désirées? Ein Franzose, der 1810 Kronprinz
und dann 1818 König von Schweden wurde? Ein Bürgerlicher in einem
Königreich, das keine Revolution erlebt hatte wie Frankreich? Und
auch noch ein Katholik in einem Land, in dem der Protestantismus
Staatsreligion war? Man reibt sich verwundert die Augen, und auch die
Zeitgenossen haben sich verwundert die Augen gerieben.
Französischer König
irgendwo in Europa unter Napoleon, das kennen wir: Der „Empereur"
hat seinen Bruder Joseph zum König von Neapel, später von Spanien
gemacht, einen anderen Bruder, Louis, zum König von Holland, und
Bruder Jérôme wurde König von „Westphalen“. Napoleons
Vertrauter Murat war Josephs Nachfolger in Neapel, und auch für
Polen hatte Napoleon zeitweilig einen Franzosen vorgesehen.
Aber Schweden! Schweden war von den Franzosen gar nicht besetzt. Und vor allem: Es war nicht etwa der Europabeherrscher Napoleon, der Bernadotte zum König bestimmte, es waren die Schweden selber, die ihn gewählt haben, aus freien Stücken. Sie wollten ihn, und sie begrüßten ihn jubelnd, als er, zum ersten Mal in seinem Leben, nach Schweden kam. Nie zuvor hatte er etwas mit dem Land zu tun gehabt, und er sprach dementsprechend auch kein Wort Schwedisch.
Aber Schweden! Schweden war von den Franzosen gar nicht besetzt. Und vor allem: Es war nicht etwa der Europabeherrscher Napoleon, der Bernadotte zum König bestimmte, es waren die Schweden selber, die ihn gewählt haben, aus freien Stücken. Sie wollten ihn, und sie begrüßten ihn jubelnd, als er, zum ersten Mal in seinem Leben, nach Schweden kam. Nie zuvor hatte er etwas mit dem Land zu tun gehabt, und er sprach dementsprechend auch kein Wort Schwedisch.
Es lohnt sich, diesen
Werdegang genauer zu betrachten, so ungewöhnlich, ja sensationell
ist er, dieser Aufstieg und Nationalitätenwechsel, keineswegs
typisch für die Zeit. Und Bernadotte hat für Lübeck und für uns eine Bedeutung gehabt.
Jean Baptiste Bernadotte,
so sein vollständiger Name, wurde als Sohn eines Anwalts geboren,
in Pau in der südfranzösischen Gascogne. Dass er als Bürgerlicher
in Frankreich eine Karriere bis in die höchste Machtsphäre in Paris
hingelegt hat, das ist leicht nachzuvollziehen, wir kennen das ja
schon von Napoleon. Die Revolution hat ihm, einem militärisch
Hochbegabten, in der Armee Tür und Tor geöffnet, was vor 1789, als
er seine Militärlaufbahn begann, unmöglich gewesen wäre. Er hat
unterschiedliche hohe Funktionen innegehabt, unter Napoleon war er
Gouverneur, noch in Zeiten der Republik ist er für einige Monate
Kriegsminister gewesen. Er gehörte sogar zu den Männern, die als
mögliche Nachfolger Napoleons gehandelt wurden für den Fall, dass
der selbsternannte Kaiser in einem seiner Feldzüge fiel.
Obwohl Bernadotte einer
von Napoleons höchsten Militärs war, nämlich einer der achtzehn
Marschälle, gehörte er nicht zum engeren Vertrautenkreis des
Kaisers. (In Napoleon-Biographien findet man ihn keine sehr große
Rolle spielen.) Die beiden sind sich nie ganz grün gewesen. Das
fing schon mal damit an, dass Désirée Clary, Bernadottes Ehefrau,
in jungen Jahren in Marseille die Verlobte des damals noch völlig
unbekannten Napoleone Buonaparte gewesen war. Der hatte dann später
mit Joséphine de Beauharnais lieber in die Pariser Machtwelt hinein
geheiratet, statt die zwar reiche, aber in Paris unbekannte
Seidenhändlerstochter Désirée aus Marseille zur Frau zu nehmen.
Das dürfte allerdings
für die späteren Spannungen zwischen den beiden Männern nicht ins
Gewicht gefallen sein – behaupte ich nach der Lektüre von
Bernadotte-Biographien, im Gegensatz zu Annemarie Selinko in ihrem
„Désirée"-Roman (siehe nächstes Kapitel). Es gab andere
Gründe für das gespannte Verhältnis, nämlich dass Bernadotte noch
vor Napoleons Staatsstreich, in seiner Zeit als Kriegsminister, die
Macht im Staate hätte an sich reißen können, wenn er der Typ
dafür gewesen wäre – er war es nicht, Napoleon hatte da ein ganz
anderes Naturell –, und dass sich Bernadotte daher später immer
im Schatten dieses Machtmenschen Napoleon sah, und dass andererseits
Napoleon Bernadotte misstraute, und dass er ihn für einen nur
mäßigen Militär hielt – er sagte einmal, Bernadotte sei ein
guter General, würde aber nie ein guter Feldherr sein –, das alles
machte das Verhältnis zwischen den beiden Männern dauerhaft
schwierig.
Regelrechte Feinde waren
sie allerdings nie. Das lag vor allem daran, dass Bernadotte sich
immer zurückgenommen hat. In den Auseinandersetzungen mit Napoleon
ging er nie bis zum Äußersten. Er war seinem Wesen nach mehr
Diplomat als Militär, eher nachgiebig, in seinen Ansichten sogar
schwankend.
Wenn man die
Darstellungen über Bernadottes Weg zur schwedischen Krone liest,
dann stößt man auf Wörter wie „seltsam", „merkwürdig",
„überraschend", „unglaublich", „abenteuerlich",
„Husarenstreich“. Was geschah?
Bernadotte
erhielt
im Sommer 1810 in seiner Villa in Paris einen
eigenartigen Besuch. Es handelte sich um einen jungen, gerade
29-jährigen schwedischen Leutnant, Baron Carl Otto Mörner. Der
stellte sich als Angehöriger einer größeren frankophilen Gruppe
von schwedischen Adligen vor und bot Bernadotte rundweg die
schwedische Krone als Nachfolger des zwar erst 61-jährigen, aber
früh alternden Königs Carl an. Unschwer sich vorzustellen, wie
überrascht Bernadotte war. Nichts hatte er zuvor in dieser Richtung
auch nur geahnt – konnte er auch nicht, denn der junge Leutnant
agierte auf eigene Faust.
Wie kam der dazu?
Schweden war
innenpolitisch zerfallen: Adelssippen befehdeten sich aufs Blut, der
Adel, das Königshaus und das Bürgertum waren hoffnungslos
miteinander zerstritten. Auch wirtschaftlich lag das Land am Boden.
Und außenpolitisch stand Schweden auf verlorenem Posten: Als Gegner
Napoleons verlor das Land Finnland an Russland, zwischenzeitlich auch
Pommern an Frankreich. Und Norwegen, auf das Schweden immer Anspruch
erhoben hatte, gehörte dem mit Napoleon verbündeten Dänemark.
1792 fiel König Gustaf
III. einem Attentat zum Opfer, er wurde auf einem Maskenball
ermordet. (In Verdis „Un ballo in maschera" ist das zu einem
Eifersuchtsdrama umgedichtet worden, was gar nichts mit den
wirklichen Ereignissen zu tun hat. In einer späteren Fassung ist der
Handlungsort auch in die USA verlegt worden.) Da auch Gustaf IV.
Adolf, Sohn des Ermordeten, die gegen Frankreich gerichtete Politik
seines Vaters fortsetzte, wurde er schließlich abgesetzt und
verhaftet. Das war im März 1809.
Eine echte Revolution war
das nicht, auch wenn der Vorfall als „Revolution von 1809“ in die
schwedischen Geschichtsbücher eingegangen ist. Die neue Verfassung
war auch keineswegs republikanisch – allerdings hatte sie
immerhin, mit Abwandlungen, Bestand bis 1975. Man wählte sich einen
neuen König, Carl XIII., den Bruder des siebzehn Jahre zuvor
getöteten Monarchen. Den mochte man, er war freundlich,
volkstümlich, konziliant. Und der wechselte endlich die Seiten: Er
schloss 1810 Frieden mit Napoleon, was viele in Schweden sich schon
lange gewünscht hatten.
Napoleon befand sich auf
dem Höhepunkt seiner Macht. Die Schweden sahen in ihm den
unüberwindlichen Herrscher Europas, der er zu der Zeit auch war. Sie
sahen in ihm den Hoffnungsträger für wirtschaftlichen Aufschwung
sowie für ein Wiederaufleben alter Großmachtherrlichkeiten. Es
hatte schon etwas eigenartig Irrationales an sich, wie die Schweden
nach Frankreich stierten und in Napoleon geradezu den großen
Heilsbringer sahen, wenn man sich mit ihm nur gut stellte.
Der neue König Carl
XIII. tat genau dies. Aber er hatte zwei Mankos: Er war trotz seiner
erst 61 Jahre senil, und, noch schlimmer, er war kinderlos. Also
sahen sich König, Staatsrat und Reichstag nach einem potenziellen
Nachfolger um, der gleich vom König adoptiert und zum Kronprinzen
ernannt werden sollte, um im Falle des Todes des Königs keine
Machtkämpfe aufkommen zu lassen. Man suchte im weit verzweigten
Königshaus Wasa – groß war die Auswahl an ranghohen und halbwegs
konsensfähigen Kandidaten nicht – und fand Prinz Friedrich von
Holstein-Sonderburg-Augustenburg, einen entfernten Wasa-Verwandten
aus Deutschland – leider einen Mann, der allgemein als Dummkopf
angesehen und daher regelrecht verachtet wurde. Aber König Carl
wollte ihn, alle anderen Kandidaten kamen aus den verschiedensten
politischen Gründen noch weniger in Frage.
Was der König jetzt tat,
macht deutlich, wieso die Nachfolgefrage überhaupt Richtung
Frankreich ging. Er schrieb dem französischen Kaiser im Juni 1810
einen Brief, in dem er ihm den Kronprinz-Kandidaten vorstellte und um
seine Meinung bat. Er hoffte, sich die Franzosen auf diese Weise zu
Freunden und Helfern zu machen.
Während jedoch der
schwedische Botschafter im Auftrag seines Königs in Paris mit
Napoleon über die Kronprinzenfrage redete – Napoleon schwebte der
dänische König vor, sein Verbündeter, weil er gern Skandinavien
unter ihm vereinigt gesehen hätte im Kampf gegen England –,
während also offiziell die Kronprinzenfrage erörtert wurde, ging
der Leutnant Baron Mörner, ohne den Botschafter davon in Kenntnis zu
setzen, zu Bernadotte.
Mörner nämlich, ein
junger Heißsporn, war völlig anderer Meinung als der König, und
damit war er in Schweden keineswegs allein. Es gab eine Gruppe von
jungen frankophilen Offizieren, die sich an der Spitze ihres Landes
nichts sehnlicher wünschten als einen starken Mann, einen
erfolgreichen Militär. Und das treffe auf den Kandidaten des Königs,
Friedrich von Holstein, ganz und gar nicht zu, meinten sie, so einen
Kandidaten gebe es weit und breit überhaupt nicht unter den Wasas.
So einen gebe es nur in Frankreich.
Und genau so sah es auch
der Baron Mörner. Auch er war der Meinung, Friedrich von Holstein
sei komplett unfähig. Er sei nicht in der Lage, das Land
wirtschaftlich aufzurichten, und schon gar nicht sei er in der Lage, Finnland zurückzuerobern oder Norwegen den Dänen abzunehmen.
Helfen könne jetzt, so Baron Mörner, kein Wasa-Verwandter mehr,
sondern nur ein Mann Napoleons, einer aus dessen Familie, oder ein
französischer Marschall, der bewiesen habe, dass er Schlachten
schlagen könne.
Einige der Marschälle
ging Mörner durch, viele waren es nicht, es gab ja nur achtzehn.
Aber alle waren sie mit Ämtern und Militäraktionen beschäftigt,
die meisten nicht einmal in Frankreich anwesend. Außer einem:
Bernadotte. Das war ein Mann des Sieges, sowieso, das waren die
anderen ja auch. Aber Bernadotte hatte noch andere Vorzüge: Er galt
als freundlich, umgänglich und charmant – und Schweden-freundlich:
Als nach der Eroberung Lübecks im November 1806 – nach der
Niederwerfung Preußens bei Jena und Auerstedt – schwedische
Verbände in Bernadottes Hände geraten waren, hatte er sie, obwohl
sie Feinde Frankreichs waren, ehrenvoll in die Heimat entlassen. Das
hatte man ihm in Schweden nicht vergessen. (Dazu mehr im Kapitel
„Bernadotte in Lübeck 1806“.)
Auch hieß es, dass
Bernadotte in seinen Zeiten als Gouverneur von eroberten Gebieten
entgegenkommend, ja volkstümlich gewesen sei, jemand, der einen
Sinn für die Bedürfnisse und Nöte der Menschen habe. Maßnahmen
zur Minderung von Abgabenlasten und zur Ankurbelung der Wirtschaft
in den eroberten Gebieten seien auf ihn zurückgegangen.
Und damit fiel Mörners
Wahl auf Bernadotte. Mörners Wahl, so und nicht anders, Bernadotte
war Mörners Idee, ein „Husarenstreich“.
Jetzt kann man sagen: Na
und? Wenn dieser Springinsfeld der Meinung war, Bernadotte solle
schwedischer Kronprinz werden, gut. Aber was hatte König Carl damit
zu tun? Was hatten der schwedische Staatsrat und der Reichstag mit
dieser Phantasterei zu tun? Was Napoleon? Und was Bernadotte selber?
Das Seltsame an der
Geschichte: Mörner setzte sich durch, nicht sofort, aber dann doch
überraschend schnell.
So verblüfft Bernadotte
von dem Angebot war, reagierte er zwar zunächst zurückhaltend, dann
aber, als er sah, dass Mörner nicht allein war mit seinem Anliegen,
hellauf begeistert. König von Schweden? Nie im Traum hatte sich
dieser Bürgersohn aus der Gascogne das vorstellen können. Diese
Aussicht tat seiner Eitelkeit gut. Das war die Krönung seines
Lebenslaufes. Alte republikanische Ideale? Weg damit!
Als Mörner zurück nach
Stockholm kam, traf er zwar in Regierungskreisen
Aber das Befinden im Volk
war ein anderes: Als die Kandidatur Bernadottes bekannt wurde,
entstand so etwas wie eine „Massenpsychose", so lese ich.
Bernadotte wurde wie eine Art ferner „Märchenprinz"
angesehen, weil man von ihm eigentlich gar keine rechte Vorstellung
hatte. Man erinnerte sich nur seiner Siege, an denen er, unter
Napoleon, beteiligt gewesen war, und ebenso unvergessen war die
wohlwollende Behandlung der schwedischen Kriegsgefangenen in Lübeck
vier Jahre zuvor. Man wusste, dass er als volksnah galt. Das sprach
nicht nur bei den jungen Offizieren für ihn, sondern auch bei den
Handwerkern in den Werkstätten Stockholms wie bei den Bauern in den
Dörfern. Und die waren alle auch vertreten im ständisch
zusammengesetzten Reichstag.
Bernadotte schlug
inzwischen selber durch französische Mittelsmänner in Schweden ganz
gehörig die Propagandatrommel. Und er versprach, die beiden
Haupthindernisse seiner Kandidatur aus dem Weg zu räumen: Er wollte
zum lutherischen Glauben übertreten, und er wollte so schnell wie
möglich Schwedisch lernen. (Ersteres geschah, das andere ist ihm nie
gelungen, sein Schwedisch blieb bis an sein Lebensende rudimentär,
was zumindest am Hof keine Schwierigkeiten machte, weil die Sprache
des Hochadels das als vornehm angesehene Französisch war.) Das
Endergebnis jedenfalls war, dass sich alle Stände – Adel, Armee,
Bürger, Bauern – im Reichstag für den französischen Marschall
aussprachen und der König, widerwillig seufzend, sich fügte und der
Kandidatur zustimmte. Ohnmächtig und zähneknirschend musste die
Familie Wasa zuschauen. Sie spürte, dass ihre Zeit abgelaufen war.
Napoleon hatte die Sache
anfangs als lächerlich abgetan. Aber am Ende gab auch er seine
Zustimmung. Einerseits war ihm das kleine Schweden zu unbedeutend und
zu schwach, so dass ihm die Nachfolgefrage in diesem Land nicht
wichtig erschien. Andererseits hoffte er, Bernadotte als schwedischen
Kronprinzen, und später als König, so unter Druck setzen zu können,
dass der zumindest nicht gegen Frankreich zu Felde ziehen würde. Das
hat er übrigens auf die Dauer nicht geschafft: Bernadotte wechselte
nicht nur die Nationen, er wechselte auch die Seiten. Er kehrte
Frankreich den Rücken und schloss sich, gerade rechtzeitig, der
anti-napoleonischen Koalition an. Und die verlangte natürlich von
Schweden, im Oktober 1813 ebenfalls Kontingente nach Leipzig zu
schicken. Bernadotte zögerte lange, musste dann aber wohl oder übel
gegen sein altes Heimatland zu Felde ziehen, was ihm nicht leicht
fiel. Immerhin, an der Schlacht bei Waterloo konnte er sich später
weigern teilzunehmen.
So ist ein französischer
Marschall schwedischer Kronprinz geworden, und 1818, beim Tode Carls
XIII., wurde er dann König und nannte sich Carl XIV. Johann. Er war
beliebt, nicht erfolglos: Norwegen beispielsweise kam unter seiner
Herrschaft in Personalunion zu Schweden, eminent wichtig für sein
Überleben als König. Und sein 1799 noch in Frankreich geborener
Sohn Oscar übernahm 1844 den Thron vom Vater. Die Installation des
Hauses Bernadotte in Schweden war vollbracht.
Und die kleine,
charmante, aber offenbar, wie man gelegentlich liest, etwas
unbedarfte Seidenhändlerstochter aus Marseille, ehemalige Verlobte
Napoleons, Désirée Bernadotte geb. Clary, wurde zur schwedischen
Königin Desideria. So stolz diese Südfranzösin auf ihren sozialen
Aufstieg zusammen mit dem Gatten war, so schwer hatte sie mit der
Tatsache zu kämpfen, dass sie jetzt eigentlich ihr geliebtes Paris
aufzugeben hatte, das Paris, in dem sie ihre Villa hatte und ihren
großen, hoch geachteten Freundeskreis – ihre Schwester Julie war
bis 1815 Königin von Spanien, als Ehefrau von Napoleons Bruder
Joseph –, das Paris der vielen Vergnügungen und des warmen Klimas,
das Paris, in dem sie sich wohl und zu Hause fühlte. Das alles für
das kalte, dunkle, unbekannte Stockholm aufzugeben, das konnte sie
nicht – und sie tat es auch nicht: Sie hielt Schweden nicht aus und
fuhr nach kurzer Zeit zurück nach Paris, was die Schweden ihr
übelnahmen, natürlich. Erst im Juni 1823 kam sie dann für immer in
ihre neue Heimat ... über Lübeck, wo – möglicherweise – ihre
königlichen Lippen den Goldrand unseres Champagnerkelchs berührten.
___________________________________
Die meisten Informationen
zu Bernadotte habe ich aus Alan Palmers Buch „Bernadotte –
Napoleon's Marshal, Sweden's King“, eine bis in kleinste
Einzelheiten gehende Biographie. Eine deutsche Übersetzung gibt es,
glaube ich, nicht.
Das Désirée-Buch
„Désirée" –
1951 veröffentlichter Roman von der österreichischen
Schriftstellerin Annemarie Selinko, die durch Heirat Dänin wurde –
ist ein Weltbestseller, leicht lesbar. Es sind die fiktiven
Tagebuchaufzeichnungen der Frau, die in jungen Jahren mit Napoleon
verlobt war, dann aber Bernadotte heiratete, der später einer von
Napoleons achtzehn Marschällen wurde, und die schließlich zusammen
mit diesem Bernadotte den schwedischen Thron bestieg. Ich habe es
gern gelesen, es ist unterhaltsam. Die Handlung zieht sich durch die
historischen Ereignisse der Zeit, von der Revolution über Napoleons
Putsch, die Schlachten, das Kaisertum bis hin zur schwedischen Krone
für das Ehepaar Bernadotte, alles aus der Sicht der naiven, etwas
unbedarften Désirée Clary.
Viele Details sind
natürlich erfunden – das große Problem von historischen Romanen.
Nicht jede Begegnung, nicht jedes Gespräch hat es so gegeben wie im
Roman erzählt. Aber welche Begegnungen, welche Gespräche? Das
wüsste der historisch Interessierte gern. Man muss raten. Zwei
Beispiele:
Die Szene, in der Désirée
und Bernadotte sich zum ersten Mal begegnen, dürfte ausgedacht sein:
In einem Pariser Salon hält sich Napoleon auf zusammen mit der von
ihm angehimmelten, etwas zwielichtigen Joséphine de Beauharnais.
Die blutjunge Mlle. Désirée Clary, die heimlich aus ihrem
Elternhaus in Marseille weggelaufen ist, um sich in Paris bei
Napoleon über die briefliche Auflösung der Verlobung mit ihr zu
beschweren, darf jedoch das Haus dieses Salons nur in
Herrenbegleitung betreten und wird von einem ihr völlig unbekannten,
zufällig auftauchenden Offizier mit hineingenommen, Bernadotte.
Nach dem Auftritt im Salon, bei dem Désirée Napoleon eine Szene
macht, fließen Tränen. Tröstung durch den fremden Offizier. Das
ist selbstverständlich hochromantisch. Herzergreifend dann die
Überraschung, als sie sich später zufällig wiedertreffen. Nach den
historischen Berichten jedoch, die ich kenne, haben die beiden sich
ganz simpel im Hause des mit Bernadotte befreundeten Joseph
Bonaparte kennengelernt, des ältesten Bruders Napoleons, der mit
Désirées Schwester verheiratet war.
Auch glaube ich nicht,
dass Madame Bernadotte am Vorabend der Hinrichtung des Herzogs von
Enghien Napoleon aufgesucht und diesen um Begnadigung für den Herzog
gebeten hat, jenes jungen adligen Gegners Napoleons, der aus
Deutschland nach Frankreich gekidnappt worden war und dann zur
Abschreckung gegen anti-napoleonische Umtriebe nach einem kurzen
Schauprozess quasi standrechtlich erschossen wurde und damit einen
Entrüstungssturm in ganz Europa ausgelöst hat. Die Buchszene ist
aber wichtig, damit der Leser Napoleons Ansicht zu diesem Ereignis
erfährt, da Désirée ja die Ich-Erzählerin ist. Außerdem sollen
alte Gefühle aus der Verlobungszeit noch einmal aufkochen, was ich
allerdings auch für erfunden halte. Ich meine, dass solche Liebes-
und Eifersuchtsgefühle, wie sie im Roman immer mal wieder
beschrieben werden, in Wirklichkeit für die Spannungen zwischen
Napoleon und Bernadotte keine Rolle gespielt haben. Da gab es, wie
im vorigen Kapitel schon erwähnt, ganz andere Gründe, nämlich
politische und militärische Rivalitäten.
Zudem finde ich, dass
Bernadotte ein bisschen zu gut wegkommt in dem Buch. Er muss ein
großer Militär gewesen sein, aber er hat Fehler begangen. Er war
zwar anfangs ein aufrechter Republikaner, wie Napoleon ursprünglich
ja auch, aber später erwies er sich als in keiner Weise prinzipientreuer als Napoleon, als Marschall schon nicht, und schon
gar nicht mehr, als er schwedischer Kronprinz wurde. Und schließlich:
Seine Eitelkeit kommt in dem Buch gar nicht vor. In den historischen
Darstellungen liest man immer wieder, wie selbstgefällig und eitel
er gewesen sei, was selbst Wohlmeinenden unangenehm aufgestoßen sei.
Aber gut: Die liebende Ehefrau sieht das in ihrem Tagebuch eben
nicht.
Enttäuschend kurz und
obenhin wird in dem Buch die Art und Weise geschildert, wie
Bernadotte überhaupt dazu kommt, Kandidat für die schwedische
Thronfolge zu werden. Aber insgesamt muss ich schon sagen, wer sich
mit Bernadotte beschäftigt, sollte diesen kurzweiligen
Gesellschaftsroman nicht außen vor lassen.
Wer allerdings die
Begegnung der schwedischen Königin Desideria und ihrer
Schwiegertochter, der Kronprinzessin Josefina, Anfang Juni 1823 mit
dem schwedischen Generalkonsul Johann Anton Grimm in Lübeck erzählt
bekommen möchte, der kommt zu kurz: „Wir (Joséphine und Désirée)
standen nebeneinander an der Reling eines imposanten Kriegsschiffes,
das uns im Hafen von Lübeck erwartet hat und nach Stockholm bringen
sollte", steht da auf Seite 796 am Anfang des Tagebuch-Eintrags
„Im königlichen Schloss in Stockholm. Frühling 1823". Das
ist alles. Kein Abholen in Oldesloe durch den Konsul Grimm, kein
Empfang, kein Nippen am Sektkelch, nichts.
Zugegeben: Warum auch?
Erinnerung
an Johann Anton Grimm
Das am 12ten d.M. im
Zwey und Siebzigsten Lebensjahre erfolgte Ableben ihres geliebten
Vaters, des Königl. Schwedischen General-Consuls und Ritters, Herrn
Johann Anton Grimm, wird theilnehmenden Verwandten und Freunden
angezeigt von den Kindern des Verstorbenen.
Lübeck, den 15ten April 1828
Lübeck, den 15ten April 1828
Das las man in der
„Außerordentliche(n) Beylage zu No. 74 des Hamburgischen
unpartheyischen Correspondenten Am Mittwochen 7 May 1828".
Diese Zeitung – ihr vollständiger Name: "Staats- und
Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten",
in Hamburg die erste regelmäßig erscheinende Tageszeitung – diese
Zeitung war in der Zeit um 1828 mit 50.000 Exemplaren die
auflagenstärkste Zeitung Deutschlands, sogar Europas, und das, als
es in England „The Times" schon gab. Das bedeutet, dass die
„Kinder des Verstorbenen" (von Riga aus?) die Anzeige bewusst
nicht (nur?) in einem kleinen Lübecker Blatt lancierten, sondern in
der norddeutschen Zeitung schlechthin. Sagt das etwas aus über
die Bedeutung des „General-Consuls und Ritters"? Dagegen wirkt
die Anzeige zwar ziemlich bescheiden, aber offenbar in dieser Form
damals üblich, wenn man sie mit benachbarten Anzeigen vergleicht.
Was weiß die Familie
über Johann Anton? Und woher hat sie das Wissen?
Es gibt kurze
familienbiographische Aufzeichnungen – genannt „Lebensskizzen"
– meines Urgroßvaters Wilhelm Grimm (1845 – 1926), eines Enkels
von Johann Anton. Diese „Lebensskizzen" beginnen eben mit
meinem Lübecker Kaufherrn-Ahn. Und ich meine, dass das
Familienwissen vor allem daher stammt.
Johann Anton Grimm wurde
am 22. Juni 1756 in Wismar als Sohn eines Pastors geboren. Das
Geburtsjahr war es, das mich dazu brachte, ihm eine gepuderte
Zopf-Perücke mit Lockenröllchen an den Seiten aufzusetzen, die in
seinen Jugendjahren noch üblich war. 1756 ist nämlich auch Mozarts
Geburtsjahr, und selbst den kleinen Wolferl kennt man auf
Konzertbildern nur mit Perücke. Im neuen Jahrhundert kamen sie aus
der Mode, aber ich lese, dass ältere Herren gern an dieser Tradition
bei besonderen Anlässen festhielten, ebenso am Tragen des
Dreispitzes. Warum nicht auch der ältere Konsul und Ritter Grimm?
Pastor, wie sein Vater
und zwei seiner Brüder, wollte Johann Anton nicht werden. Er wollte
Geld verdienen, fühlte wohl, dass ihm das Kaufmännische lag –
immerhin war sein mütterlicher Großvater Kaufmann. Den genauen
kaufmännischen Werdegang kennen wir nicht. Jedenfalls ging er nach
Riga, dieser damals zum Russischen Reich gehörenden, unter dem
beherrschenden Einfluss einer deutschen Kaufmanns-Oberschicht
stehenden baltischen Hafen- und einstmaligen Hansestadt, vermutlich
in den 1770erjahren, vielleicht 1772 im Alter von sechzehn. So früh
begann durchaus die Lehrlingszeit eines werdenden Kaufmanns; die
Lehrlinge im Roman „Die Großvaterstadt“ haben dies Alter; und
auch Johann Antons ältester Sohn Bernhard war später genau
sechzehn, als er 1804 als Kaufmannslehrling von Lübeck nach Riga
ging. Eduard Wilhelm Tielemann, der spätere Rigaer Bürgermeister,
mein Ururgroßvater, hat sogar schon mit fünfzehn Jahren seine
Lehre in Riga begonnen.
In Riga lernte der junge
Johann Anton – in der üblichen fünfjährigen Lehrlingszeit?
Später als Kommis, als Handelsgeselle? – den angesehenen Kaufmann
Bernhard Tilemann Huickelhoven (1723 - 1810) kennen, seit 1785 von Huickelhoven („römischer Reichsadel"), dessen dann
zweiundzwanzigjährige Tochter Katharina er später, 1787, als
Einunddreißigjähriger heiratete. Offensichtlich gleich nach der
Hochzeit zog das Ehepaar nach Lübeck, das erste Kind, Bernhard
Christian, wurde 1788 bereits in Lübeck geboren. Warum Johann Anton
nach Lübeck umzog, ist nicht bekannt.
Über die Lebensdaten der
Kinder gibt es im einzelnen unterschiedliche Angaben, vor allem, was
die Tage anbetrifft, was auch, aber nicht nur, mit den
unterschiedlichen Kalendern zu tun hat, dem gregorianischen in
Deutschland und dem alten julianischen in Russland. Hier die Geburts-
und Sterbejahre aus Wilhelms Lebensskizzen, ergänzt durch Angaben an
anderen Stellen (u.a. im Stadtarchiv Lübeck oder im Baltischen
Biographischen Wörterbuch), nicht immer übereinstimmend; Rufnamen
unterstrichen:
1. Bernhard
Christian, geb. 1788 in Lübeck, gest. 1855 in Riga, erfolgreicher
Kaufmann.
2. Ursula Anna
Katharina, geb. 1790, Ort unbekannt, gest. 1816 in Ronneburg bei
Riga (26-jährig).
3.
Johann Anton
Joachim, geb. 1792 in Lübeck, gest. 1846 in St. Petersburg, Altphilologe, Professor an einem Pädagogischen Institut.
4.
Eduard Wilhelm
Tielemann, geb. 1794 in Riga (Warum in Riga und nicht in Lübeck? Hat Johann Anton zwischendurch wieder in Riga gelebt? –
Auflösung in den Kapiteln „Archiv 2“ und „Archiv 3“),
gest. 1874 in Riga, ebenfalls erfolgreicher Kaufmann, Rigaer
Bürgermeister 1852 - 1867, mein Vorfahr. (Balt. Biogr. Wörterbuch: „geb. in Lübeck“, eindeutig falsch, für mich anfangs verwirrend)
5. Henriette, geb. 1797
in Lübeck, gest. als Kleinkind 1798 in Lübeck.
6. Dorothea („Dorchen"),
geb. 1799 in Lübeck, gest. 20. März 1881 in Riga.
7. Katharina, geb. 1802
in Lübeck, gest. 1860 in Riga.
8. Charlotte, geb. Dez.
1804 in Lübeck, gest. 1835 in Lübeck (mit 30 Jahren).
In Lübeck, wo er am 14.
Mai 1789 die Bürgerrechte erhielt, wie ich später im Lübecker
Archiv entdecken werde (Kapitel „Archiv 3“), hat Johann Anton
eine Seifensiederei (nur bis zur Franzosenzeit 1806 – 1813) und
eine Spedition betrieben. Spedition kann alles mögliche gewesen
sein: Fuhrunternehmen mit Pferdeplanwagen zu Land, oder
Binnenschifffahrt – vor allem über Stecknitz, Delvenau und Elbe
nach Hamburg – oder aber auch Ostseehandel. Wilhelms
„Lebensskizzen" deuten einen Hochseehandel an, und sie
sprechen von einer Mitgliedschaft in dem Schonenfahrer-Kollegium.
Exkurs: Die zwölf
Lübecker Kollegien: Die Lübecker Bürger eines jeden Standes und
einer jeden Zunft gehörten sogenannten Kollegien an, auch Kompanien
genannt, früher natürlich mit c geschrieben. Das war Pflicht, jeder
musste Mitglied in einem Kollegium sein, wohlgemerkt, jeder der
knapp zweitausend männlichen Bürger, nicht die etwa achtzig Prozent
Einwohner ohne Bürgerrechte, die waren ausgeschlossen – ebenso
die Frauen. Diese Kollegien waren so etwas wie Gilden, oder eher noch
Standesvertretungen für die Bürgerschaft, das Lübecker
Stadtparlament. Sie waren ziemlich streng hierarchisch geordnet: Es
gab die hoch geachteten führenden Kollegien der reichen Kaufleute am
oberen Ende der Hierarchie, am unteren Ende die Kollegien der
Handwerker. Eine gute Erläuterung finde ich auf den Seiten 205 bis
207 in einem Stadtführer von 1814: (Zu diesem Stadtführer mehr im
Kapitel „Lübeck 1814“.)
"Die Rechte des Raths
(die Stadtregierung bestehend aus sechzehn Ratsherren ohne die
vier Bürgermeister. Alle zwanzig zusammen bildeten den Senat. So die
Terminologie bis 1848. Grimm war hier offenbar nie Mitglied.)
und ihr Verhältniss zur Bürgerschaft sind in einem
Bürger-Recess (Vergleich nach einer Auseinandersetzung) vom
Jahr 1669 bestimmt. Soll ein allgemeines Gesetz, eine Auflage, eine
Veränderung vollkommen gültig werden: so geschieht es durch
Zustimmung der Bürgerschaft. Durch den Schüttingswortführenden
(„Schütting“ siehe Schonenfahrer, 3. Kollegium)
Aeltermann (Ältermänner waren die Sprecher oder Vorsitzenden
der Kollegien) wird der Vorschlag den Aeltesten eines jeden
bürgerlichen Collegii mitgetheilt, welche ihre Mitglieder zusammen
berufen, darüber votiren, und ihre Stimme abgeben, welche dann als
Eine gerechnet wird. Sind die mehrsten Vota dafür: so ist die Sache
angenommen.
Zu diesem Zwecke ist die
Bürgerschaft in 12 Collegien getheilt. Diese sind
1. die
Junkern-Compagnie, oder Zirkelgesellschaft, 1379 gegründet
und mehrmals, zuletzt 1778, vom Kaiser bestätigt. Dazu gehören
die Patrizier, welche einen goldenen Zirkel als
Abzeichen tragen. (Dieses Kollegium hatte seit 1809 keine
Mitglieder mehr, existierte also nur noch auf dem Papier.)
- Die Kaufleute-Compagnie, 1450 errichtet. Dazu rechnen sich alle, welche zu keinem andern der übrigen kaufmännischen Collegien gehören.
- Die Schonenfahrer, oder der Schütting (von ihrem Versammlungshause also genannt), die ehemals auf Schonen (die südlichste Provinz Schwedens) besonders mit Heringen handelten, (daher noch das Wappen über dem Schütting). Ihr wortführender Aeltermann ist zugleich Präses und Wortführer der Bürgerschaft. (1797 - 1801 war das Johann Anton Grimm, laut „Lebensskizzen“)
- Die Nowgorodsfahrer, von dem einst blühenden Handel nach der Stadt Nowgorod.
- Die Bergefahrer, von dem Comtoir zu Bergen.
- Die Rigafahrer.
- Die Stockholmfahrer, von diesen Handelsplätzen so genannt.
Nur diese sieben Collegia waren bis dahin rathswahlfähig. - Die Gewandschneider-Compagnie, oder die Gesellschaft der Tuchhändler.
- Die Kramer-Compagnie, wozu alle gehören, welche im Kleinen und aus einem offnen Laden verkaufen, z.E. Seidenhändler, Eisenkrämer, Gewürzkrämer u.s.w.
- Die Brauerzunft.
- Die Schiffer, oder alle, welche als Capitain eines Schiffes fahren.
- Die vier grossen Aemter, der Schmiede, Schneider, Becker, Schuster, welche 72 kleine Aemter, nach einer oft unbegreiflichen Vertheilung, umfassen. Sie geben, seit uralten Zeiten, bei Berathungen über bürgerliche Angelegenheiten gemeinschaftlich ihre Stimme ab."
Das waren also
Standesvertretungen in der Bürgerschaft, jedes einzelne Kollegium
hatte eine Stimme. Das bedeutete, dass beispielsweise die über
eintausend Handwerksmeister, die im zwölften Kollegium organisiert
waren, über eine Stimme verfügten, während die kaum einhundert
Großkaufleute, die den Kollegien Nr. 1 – 7 zugehörten, eben
sieben Stimmen hatten. Noch krasser: Die zuletzt – bis 1809 – nur
fünf Angehörigen der Junkern-Compagnie hatten ebenfalls eine ganze
Stimme. Un homme une voix war
für die Lübecker noch ein Fremdwort. Der Gleichheitsgedanke wurde
zwar von Napoleon eingeführt, aber nach seinem Verschwinden gleich
wieder abgeschafft.
Weitere Auskünfte über
die Lübecker Kollegien lese ich in dem Roman „Die Großvaterstadt"
von Ludwig Ewers auf der Seite 32 in touristenführerischer Weise,
wie das typisch ist für dieses Buch: Da belehrt ein junger Kommis
(Französisch auszusprechen mit Betonung auf der zweiten Silbe und
ohne s am Ende: Handelsgehilfe, heute würden wir sagen Geselle)
seinen Freund, der die fünfjährige Kaufmannslehre noch nicht
abgeschlossen hat, dass jeder selbstständige lübische Kaufmann und
Handwerker einem der zwölf Kollegien für die Bürgerschaft
angehören müsse. Und weiter:
"Auch wir werden später
einmal gezwungen werden, in ein kommerzierendes Kollegium
einzutreten. Jochen Bade muß ebenso zu einem Kollegium gehören!
Sonst nehmen ihn die Schonenfahrer in empfindliche Geldstrafe. Wir
können zunächst wählen zwischen Kaufleute-Kompanie, der
vornehmsten, Schonenfahrer- und Bergenfahrer-Kollegium, aus denen
man dann in ein andres, Riga-, Nowgorod-, Stockholmfahrer,
übertreten kann. Das Schonenfahrer-Kollegium ist das mächtigste,
hat allein das Recht, junge Kaufleute zu berufen; ihm gehört auch
der Schütting, Ecke Mengstraße und Fünfhausen. Und dem
Schonenfahrer-Kollegium sind die Stockholmfahrer angegliedert, so
daß sie auch im Schütting tagen."
Und auf den Seiten 33 und
34: Der Lehrling macht vor dem Schütting halt.
"Drunten hinter dem
gewölbten Portal auf der weiten Diele mit ihrem Fliesenboden regte
sich vor den Schaltern das Leben der Lübischen Post. Aber in den
oberen Stockwerken herrschte das mächtigste Kollegium der lübischen
Kaufmannschaft, und dahin gelangte nur, wer dazu gehörte. Er
blickte an der Front hinauf. Droben im höchsten Giebelfeld
blinkten in einem runden goldumrandeten Medaillon untereinander
drei vergoldete Fische. Das also war das Zeichen der Schonenfahrer."
Die
Schonenfahrer-Kompanie war die größte und älteste Lübecker
Großhändler-Vereinigung. Sie wurde
1378 gegründet. Die anderen sind später aus ihr hervorgegangen und
haben sich von ihr abgespalten. Schonenfahrer haben sie sich deshalb
genannt, weil sie – im Mittelalter – ihre Schiffe nach Schonen,
vor die Südküste Schwedens, geschickt haben, um in den damals noch
unendlichen Heringsschwärmen zu fischen. Die Schwärme waren so
dicht, so wird mir erzählt, dass man ins fischezappelnde Wasser
nicht hineingreifen konnte, ohne eine Handvoll Heringe herauszuholen.
Diese Fracht wurde in das Salz eingelegt, das die Stecknitzfahrer auf
ihren Prahmen aus Lüneburg nach Lübeck brachten (gesegelt,
getreidelt, gestakt) und das die Händler in den sechs Salzspeichern
am Holstentor lagerten. So wurde der Fisch haltbar gemacht und konnte
in alle Welt verkauft werden. Dieser Heringshandel war es, der die
Stadt um 1200 reich machte, begünstigt durch die geographische Lage
in der südwestlichsten Ostseebucht als Knotenpunkt zwischen
mitteleuropäischem Festland und dem schwedisch-baltisch-russischen
Meer.
Wenn Johann Anton, wie
sein Enkel Wilhelm in den „Lebensskizzen" andeutet, zu den
Schonenfahrern gehörte – die schon lange nicht mehr nur
Heringshandel trieben, das Meer vor Schonen wahrscheinlich ohnehin
längst überfischt – und von 1797 bis 1801 sogar deren Ältermann
war, dann war er vier Jahre lang Vorsitzender der Lübecker
Bürgerschaft, des Stadtparlaments. Das wäre er immerhin schon acht
Jahre nach Erlangung der Bürgerrechte geworden. Und wenn er Mitglied
der Schonenfahrer-Kompanie war, dann kann er nur Hochseehandel
betrieben haben. Hat er eigene Schiffe gehabt? Oder hat er Schiffe
gechartert? Und hat er viel Geld gemacht?
Bürgermeister war er
nicht, anders als ich mal geglaubt habe, wohl in Verwechslung mit
seinem Sohn in Riga, und Ratsherr war er auch nicht: Er taucht in
keiner Liste der Lübecker Bürgermeister und Ratsherren auf.
Für das Jahr 1803 ist
aktenkundig, dass Johann Anton einen Antrag gestellt hat, zum
schwedischen Handelsagenten ernannt zu werden, mit Erfolg: Per
Dekret des Königs Gustaf IV. Adolf erhielt er die Ernennung zum
königlich schwedischen „Commerzagenten". Man kann davon
ausgehen, dass von diesem Jahr an alle politischen Aktionen zwischen
Lübeck und Schweden über diesen Agenten gingen. Johann Anton war
somit ganz offensichtlich nicht nur schwedischer Handelsvertreter,
sondern allgemein politischer Repräsentant dieses skandinavischen
Königreichs, was gerade in den napoleonischen Kriegen eine gewisse
Rolle spielen sollte.
1810, als der neue König
Carl XIII. den Thron in Stockholm bestiegen hatte und eine neue,
pro-französische Außenpolitik einleitete, wurde Johann Antons
Funktion als schwedischer Handelsagent bestätigt, auch das ist in
Lübeck aktenkundig. 1815, nach dem Ende der napoleonischen
Herrschaft über Europa – Schweden hatte unter Bernadotte, jetzt
Kronprinz in Stockholm, gerade rechtzeitig erneut die Seiten
gewechselt – wurde der Lübecker Handelsagent zum Konsul
befördert, 1818 bestätigt von dem nun neuen König Carl XIV.
Johann, nämlich Bernadotte. Und der „erhob" meinen Ahn –
unsere Familienbrust schwillt noch heute vor Stolz – 1820 zum
schwedisch-norwegischen Generalkonsul. So war es keineswegs
irgendein Nobody, der 1823 der Königin den Champagnerkelch
überreichte.
Wie die ganze Stadt so
hatte auch Johann Anton unter der französischen Herrschaft zu
leiden. Viele Betriebe mussten eingestellt werden, weil die Lübecker
Wirtschaft bei den hohen Zwangsabgaben und anderen Verpflichtungen –
vor allem zu nennen die Kontinentalsperre gegen England –
zusammenbrach. Aus irgendeinem uns unbekannten Grund bekam es der
schwedische Agent Grimm aber auch persönlich mit der französischen
Verwaltung zu tun. Die vage Vermutung lautet, dass das im
Zusammenhang mit Schanzenarbeiten geschah: Die Franzosen, die sich
nach der Katastrophe ihres Überfalls auf Russland kurzzeitig aus
Lübeck zurückgezogen hatten, dann aber noch einmal wiedergekehrt
waren, wollten die Stadt nicht noch einmal kampflos aufgeben und
verpflichteten die Lübecker Bevölkerung, die Befestigungen
auszubauen. Hat sich Johann Anton geweigert, sich persönlich oder
durch Zahlung an diesen Zwangsarbeiten zu beteiligen? Alles, was wir
in diesem Zusammenhang erfahren, ist diese Textstelle aus Wilhelms
„Lebensskizzen":
"Am 24. Juni 1813 fand in
Grimms Wohnung eine Haussuchung statt, und alle Papiere, die in
Beziehung zu seinem Amte eines schwedischen Kommerzagenten standen
– in der betreffenden Akte wird er fälschlich als „Konsul"
bezeichnet –, wurden beschlagnahmt. Sonst aber wurde nichts
anderes Verbotenes gefunden. Weiter ist dann damals über ihn
Hausarrest verfügt und ein Polizeibeamter mit seiner Bewachung
beauftragt worden, bis am 15. Juli desselben Jahres zwei seiner
Nachbarn (Georg August Friedrich Wendt und Johann Christoph Grube - letzterer wohnhaft in Johannisstraße 15 laut Adressenverzeichnis von 1811, 1815 in Nr. 16; ersteren habe ich nicht gefunden.)
sich unter Kautionsstellung dafür verbürgten, dass er „sich
nicht von hier entfernt", sowie auch „für sein Erscheinen zu
allen Zeiten und an allen Orten, wie man von ihm verlangt".
Ernstere Folgen scheint diese Affaire – wohl mit infolge des
Abzugs der Franzosen aus Lübeck – nicht gehabt zu haben."
* * * * * * *
Irgendwann vor der
Ernennung zum Konsul 1815 wurde Johann Anton der schwedische
Wasa-Orden verliehen, eine staatliche Auszeichnung. Er wurde damit
zum Ritter des Wasa-Ordens, so etwas wie das Bundesverdienstkreuz des
königlichen Schweden. Daher also der „Ritter" in der
Todesanzeige.
Exkurs: Der Wasa-Orden.
Den Königlichen Wasa-Orden – „Kungliga Vasaorden“ – stiftete
König Gustaf III. an seinem Krönungstag. Dieser Orden sah,
jedenfalls bis 1866, ganz schlicht aus: ein ovales goldenes Medaillon
umrandet von einem breiten dunkelroten Reifen, auf dem die goldene
Inschrift stand:
GUSTAF DEN TREDIE
INSTIKTARE MDCCLXXII
Das heißt: Gustaf der
Dritte Stifter 1772. In dem offenen Medaillon eine Garbe aus Gold.
Als Johann Anton den Orden erhielt, gab es vier Stufen: Commandeur
mit dem Großkreuz, Commandeur 1. Klasse, Commandeur 2. Klasse,
Ritter. Ritter war die unterste Stufe.
Ich habe ein Buch
gefunden mit diesem Titel:
Geschichte und
Verfassung aller geistlichen und weltlichen,
erloschenen und blühenden Ritterorden
.....
von Ferdinand Freiherrn von Biedenfeld.
Zweiter Band. Blühende Orden.
Weimar, 1841.
Verlag, Druck und Lithogrphie von Bernhard Friedrich Voigt.
erloschenen und blühenden Ritterorden
.....
von Ferdinand Freiherrn von Biedenfeld.
Zweiter Band. Blühende Orden.
Weimar, 1841.
Verlag, Druck und Lithogrphie von Bernhard Friedrich Voigt.
(Solche Schätze findet
man heute durch leichtes Fingerzucken auf der Maustaste. Fabelhaft!)
Dieses Buch wurde keine dreißig Jahre nach der Ordensverleihung an
Johann Anton geschrieben, ist ihm also näher als jede moderne
Erklärung des Wasa-Ordens. Ich zitiere also bewusst daraus. In dem
Buch lese ich auf den Seiten 401 und 402 unter der Überschrift „Der
Wasa-Orden":
"König Gustav III.
stiftete am Tag seiner Krönung, den 26. Mai 1772, den Wasa-Orden,
zur Belohnung für diejenigen, welche für den Ackerbau oder
Bergwerksbetrieb, für Künste und Wissenschaften, Handel oder durch
nützliche Schriften über diese Gegenstände der Nation
ausgezeichnete Dienste geleistet, so wie solche Verbesserungen
gemacht haben, dass über deren Kenntnisse und Eifer kein Zweifel
statt finden kann. Wasa-Orden nannte er ihn, weil das Schwedische
Wort Wasa eine Garbe bedeutet und Wasa der Familienname des alten
Geschlechts ist, aus welchem König Gustav I. (Gustav Wasa) 1523 den
Schwedischen Thron bestieg, und dieses Geschlecht eine Garbe im
Wappen hatte. Der Wasa-Orden wird in drei Classen getheilt:
Commandeurs mit dem grossen Kreuze, Commandeurs und Ritter. Die
Anzahl der Ordensinhaber ist unbestimmt, und kann dieser Orden auch
Ausländern verliehen werden.
"Der König ernennt die
Mitglieder; ist er bei seiner Thronbesteigung aber nicht schon
Mitglied des Ordens, so muss er am Krönungstag den Orden feierlich
aus den Händen des Erzbischofs, welcher die Krönung verrichtet,
annehmen. Die Commandeurs erster Classe tragen die Decoration von
der rechten Schulter nach der linken Hüfte nebst einem Stern auf
der linken Brust. Die Commandeurs zweiter Classe tragen dieselbe
Decoration und auf gleiche Weise wie die der ersten Classe, jedoch
ohne Stern, und die Ritter tragen eine etwas kleinere Decoration um
den Hals hängend. Beim Eintritt zahlt ein Commandeur mit dem
Grosskreuz und ebenso auch ein Commandeur 18 Rthlr. 36 Schilling
Stempel und 2 Rthlr. Canzleigebühren und ein Ritter 6 Rthlr. 12
Schilling Stempel und 2 Rthlr. Canzleigebühren. Bei feierlichen
Gelegenheiten tragen die Commandeurs ein Ceremonienkleid von grünem
Sammet, nebst einem solchen Mantel, mit weissem Atlas gefüttert.
Dabei trägt die erste Classe noch eine goldene Ordenskette, deren
Glieder aus Garben, den Schwedischen und Holsteinischen Wappen, und
Symbolen des Handels, der Künste und des Ackerbaues bestehen.
"Die
Aufnahme-Feierlichkeiten eines Ritters sind wie die beim
Schwert-Orden, und der Eid, den die Ritter ablegen müssen, im
Wesentlichen derselbe."
Beim Schwert-Orden
schwört der Ritter (S. 398),
"die
evangelisch-lutherische Lehre mit Gefahr des Lebens oder Eigentums zu
vertheidigen, dem König und dem Staat treu zu dienen und den
Feinden des Reichs mit Muth entgegen zu gehen."
Und weiter heißt es:
"Wenn ein Ausländer zum
Ritter gewählt ist, so werden ihm die Ordensinsignien zu geschickt,
und er muss dagegen ein Verzeichnis seiner geleisteten Dienste
einsenden, welches im Ordensarchiv niedergelegt wird. Dem Orden
sind Einkünfte angewiesen, welche zu Pensionen verwendet werden,
die das Capitel bestimmt. Die Pensionsfähigkeit erlangen die
Ritter nach der Ordnung, wie sie aufgenommen sind."
Dem nicht-schwedischen Ausländer Johann
Anton Grimm ist demnach das ovale Medaillon zugesendet worden. Und zur
Kasse wurde er gebeten: Sechs Reichstaler und zwölf Schilling
Aufnahmegebühr, und nochmal zwei Reichstaler Kanzleigebühr. Das
sind insgesamt acht Taler, mal drei Mark, also 24 Mark und 12
Schilling. Nach einer Umrechnungstabelle, die allerdings mit größter
Vorsicht zu betrachten ist, wären das heute in etwa 320 €. Das für
die Ehre, die evangelisch-lutherische Lehre mit Gefahr des Eigentums
verteidigen zu dürfen.
Bei LinkFang.de (was
immer das für eine Internetplattform ist) ist er übrigens in der
„Liste der Träger des Wasa-Ordens" nicht dabei. 118 Namen
stehen da, unter anderem finde ich Willy Brandt, IOC-Präsident Avery
Brundage, FIFA-Präsident João
Havelange, Victor Hasselblad, den Entwickler der berühmten
Spiegelreflex-Kamera, Entdecker und Schriftsteller Sven Hedin,
Heinrich Nordhoff, den langjährigen VW-Chef. Aber zwischen Jacques
Goldberg und Christian Gottfried Gruner steht kein Johann Anton
Grimm. Sind hier nur die höheren Ordensklassen aufgeführt, nicht
die Ritter?
* * * * * * *
Johann Anton zu
charakteriseren oder auch nur sein Äußeres zu beschreiben ist nicht
möglich. In den „Lebensskizzen" des Enkels Wilhelm lese ich,
dass der im Besitz eines Bildes sei. Ob es das noch irgendwo gibt?
Persönlich erlebt hat er seinen Großvater nicht, ist er doch erst
siebzehn Jahre nach dessen Tod zur Welt gekommen. Aber auch
irgendwelche charakterisierenden Schilderungen von anderen existieren
nicht. Das ist schade, denn so bin ich auf ein oder zwei sehr, sehr
vage Hinweise angewiesen.
Sicher kein solcher
Hinweis ist ein Gruß an seine Tochter Dorothea zu ihrem 28.
Geburtstag am 23. Mai 1827. Darin wünscht er ihr „einen gnädigen
Gott, ein mäßiges, aber dauerhaftes Glück, eine gute, feste
Gesundheit, ein ruhiges, zufriedenes Gemüt und ein frohes, munteres
Herz." Sagen diese fast schon formelhaften Glückwünsche etwas
aus über den Verfasser? Nein. Ein zufriedenes, bescheiden
glückliches Leben wünschte man eben. Und dass die Wünsche religiös
beginnen, ist wohl zeitgemäß.
Ein vager Hinweis
hingegen könnte die Unterzeichnung in der Notiz über den Besuch der
schwedischen Königin im Juni 1823 sein: „Meinen lieben Kindern zur
Nachricht". Dieses „Meinen lieben Kindern" klingt
familienzugewandt, freundlich, nachsichtig. War er das? Und wenn, war
es altersbedingte Freundlichkeit, während bei ihm als jungem Vater,
dem Zeitgeist entsprechend, strenge Zucht herrschte?
Letzteres könnte man
unter Umständen aus der Tatsache schließen, dass sein Sohn Eduard
Wilhelm Tielemann, der Bürgermeister von Riga, ebendies war: sehr
streng, offenbar hart zu seinen Kindern. Dessen Sohn Wilhelm muss
einen solchen Respekt, ja eine solche Furcht vor ihm gehabt haben,
dass er sich ganz seiner Mutter zuwandte. War es im Hause des
Bürgermeisters, dass die Kinder, wie ich es aus irgendwelchen
Erzählungen erinnere, bei Tisch den Mund zu halten hatten, und bei
Zuwiderhandlung beim Essen am Tisch stehen mussten?
Hat auch in Johann Antons
Haus eine solche Zucht geherrscht? Und ist auch er so auf Ehre
bedacht gewesen wie sein Sohn, der Rigaer Bürgermeister? Geld leihen
kam für den nicht in Frage, auch in wirtschaftlichen Engpässen
nicht. Als ein Freund ihm einmal Geld geradezu aufdrängte, das er
wohl für bestimmte Geschäfte dringend benötigte, da tat er alles,
die Schuld noch vor dem vereinbarten Termin zu tilgen. Hat er das von
seinem Vater Johann Anton übernommen? Ist er so erzogen worden?
Ein Bild von Johann Anton
existiert nicht. Aber es gibt Originalpapiere mit seiner Schrift. Sie
werden im städtischen Archiv von Lübeck verwahrt, soviel nehme ich
aus den Archiv-Kapiteln vorweg. Einige der Schreiben mit seinem
Namenszug am Ende sind eindeutig Abschriften von anderer Hand. Aber
einige der Texte sind von ihm selber verfasst. Man erkennt sie an der
besonderen Unterschrift, übrigens in lateinischen Buchstaben, mit
einer an das zweite m von Grimm angehängten schwungvollen und
komplizierten Schleifenkomposition. So eine Unterschrift denkt sich
kein Kanzleischreiber aus.
Seine Schrift ist von
kalligraphischer Präzision, sorgfältig und gleichmäßig, geradezu
gemalt, gern an Wortenden mit ausschwingenden Kringeln und Schnörkeln
versehen. Ob diese Schrift allerdings etwas über den Charakter
aussagt, mag ich nicht beurteilen. Möglicherweise sagt sie mehr aus
über den schulischen Schreibunterricht.
Der älteste Bruder des
Bürgermeisters, Bernhard Christian, ein ebenso erfolgreicher
Kaufherr in Riga, blieb kinderlos, worunter er litt. Er wollte einen
seiner Neffen adoptieren. Der Bürgermeister verweigerte ihm das,
verständlicherweise, was dieser ihm nicht verzieh. Solche kleinen
Geschichten, die Charakterzüge durchscheinen lassen, fehlen von
Johann Anton vollkommen, leider.
Archiv
1
Wo finde ich weitere
Einzelheiten über Johann Anton Grimm? An wen wende ich mich? Wen
frage ich? Gibt es zum Beispiel ein Archiv in Lübeck, so wie es ein
Tiroler Landesarchiv in Innsbruck und ein Landesarchiv in Salzburg
gibt, mit denen ich mal zu tun hatte?
Ja, das gibt es. Ich
finde im Internet das Archiv der Hansestadt Lübeck. Es befindet sich
im Mühlendamm 1 - 3. Die Öffnungszeiten des Lesesaals, den man
unter der Telefonnummer 0451 für Lübeck und dann 122 41 56
erreicht, sind Montag bis Donnerstag acht bis sechzehn Uhr, Freitag
bis zwölf.
Das klingt gut. Ich muss
ausnutzen, dass ich in Hamburg nur eine Stunde Fahrt von Lübeck
entfernt wohne – anders als Innsbruck und Salzburg, wohin ich immer
umständlich und mit mehrwöchiger Wartegeduld schreiben musste, wenn
ich eine vage Auskunft über meinen anderen vorväterlichen Johann
Anton einholen wollte, Johann Anton von Winkelhofen. Nach Lübeck
fährt man entweder mit dem Auto über die A1, bei wenig Verkehr
vierzig Minuten, mit dem entsprechenden Gefährt auch weniger.
Oder ich fahre mit dem Regionalexpress vom Hamburger Hauptbahnhof
(dreiviertel Stunde Fahrtzeit, Halt nur in Ahrensburg, Bad Oldesloe
und Reinfeld, Preis: 14,10 €).
Wie lange dauerte eine
Fahrt von Hamburg nach Lübeck vor zweihundert Jahren? Wie fuhr man?
Und was kostete sie? Wenn man nicht seine eigene Kutsche besaß und
nicht das Geld für eine Mietkutsche hatte, dann fuhr man mit der
Post, „Thurn und Taxis“. Diese Fahrten empfand man auch damals
als überhaupt nicht angenehm. Der Reisende durchlitt Schlaglöcher,
harte Stöße, Kälte, Hitze, Enge des überfüllten Wagens. Noch gab es nicht die
besser ausgebaute ebenere „Chaussee“ nach Lübeck, die kam erst
in den 1840erjahren, und die Post fuhr auch noch nicht die kürzere
Strecke über Ahrensburg und Bargteheide nach Oldesloe, den
Verlauf der heutigen Bahnstrecke, sondern sie fuhr über
Tangstedt, Kayhude, Bargfeld nach Oldesloe und dann weiter nach
Lübeck. Das waren um die 75 Kilometer. Für eine solche Entfernung
brauchte die normale Postkutsche, die „Ordinari“, ungefähr
fünfzehn Stunden, etwa alle drei Stunden über „Posthaltereien“,
wo die Wagen umgespannt, manchmal auch die Kutscher ausgetauscht
wurden. Das war in einem Tag mit Mühe zu leisten. Meist fuhr man das
in zwei Tagen, mit all den Unterbrechungen, die es unterwegs geben
konnte, schlechtes Wetter, Schlammlöcher, Achsenbrüche,
Schwierigkeiten beim Umspannen in den Posthaltereien. Die
„Eilwägen“, so lese ich es, konnten die Strecke in der Hälfte
der Zeit schaffen, somit eher in einem Tag. Natürlich waren die
teurer. Bequemer waren sie nicht.
Zwei bis drei Mark
Courant kostete so eine Fahrt, je nachdem, ob es sich um eine
„Ordinari“-Post, einen Eilwagen, eine alte Kutsche oder eine
modernere und bequemere „Diligence“ handelte. Umgerechnet in
heutige Kaufkraft waren das schätzungsweise 25 bis 40 Euro, wenn die
Umrechnungskonkordanzen denn stimmen. Das ist teuer, wenn man an die
heutigen vierzehn Euro und zehn Cent für den Regionalexpress der
Deutschen Bahn denkt. Und erst recht ist das teuer, wenn man einen
durchschnittlichen Tageslohn für einen Handwerker von einer Mark
Courant annimmt. Zwei bis drei Tageslöhne für eine Fahrt von Lübeck
nach Hamburg! Bei einem heutigen Monatsgehalt von netto 1.800 Euro
wären das 120 bis 180 Euro. Aber natürlich sind die
Lebensverhältnisse so nicht vergleichbar. Jedenfalls wird sich ein
Durchschnittsverdiener eine solche Kutschenfahrt nicht allzu oft
haben leisten können.
Heute, an einem kühlen,
grauen Wintertag Ende Januar, fahre ich mit dem Auto nach Lübeck.
Ich nehme mir vor, für eine erste Orientierung ein wenig durch die
Altstadt zu schlendern. Wenn ich dabei den Mühlendamm finde mit dem
Archiv der Hansestadt Lübeck, umso besser. Ich fahre über die A 20,
Abfahrt Genin, an der Firma Baader vorbei („Food Processing
Machinery") Richtung Zentrum, folge dem Schild „Klughafen,
Altstadt", fahre von Süden her über die Trave und finde nicht
weit unterhalb des Domes einen noch fast leeren Sand-Parkplatz;
Tagesgebühr sechs Euro.
Während ich am Dom
vorbei Richtung Rathaus gehe, ahne ich nicht, dass ich soeben das
Archiv passiert habe. Erst am Nachmittag auf dem Rückweg sehe ich,
dass sich der Parkplatz des Autos direkt am Mühlendamm befindet.
Und voilà, da steht das Gebäude des Stadtarchivs, gleich neben dem
Dom, von der Straße aus einen leichten Hang hinauf.
Das Gebäude ist ein
großes, einfaches, gepflegtes Klinkerhaus der Nachkriegszeit - Fertigstellung 1961 - und
steht dort, wo in alten Zeiten das Domkloster gewesen ist. Heute
teilt sich das Stadtarchiv den Bau mit dem Museum für Natur und
Umwelt. Neugierig beschließe ich, obwohl meine
Zeit knapp geworden ist, dem Archiv einen ersten Besuch abzustatten,
und ich steige unter den winterlich kahlen Bäumen die Stufen zur
Eingangstür hinauf, gelange in eine kleine Eingangshalle und fahre
mit dem Fahrstuhl hoch in den vierten Stock, wo ich, wie ich auf der
Hinweistafel lese, den Lesesaal des Archivs finden kann.
Ich betrete einen
größeren hellen Raum, darin vielleicht zehn Tische, jeweils mit
Stühlen versehen, an einer Wand, neben der Fensterseite, bis an die
Decke reichende Regale mit alten Folianten, Katalogen, Registern. An
zwei Tischen sitzen zwei Leser, eine Frau und ein Mann, beide wie ich
grauhaarigen Alters. Auch Ahnenforscher? Ahnenforschung soll sich zur
Zeit großer Beliebtheit erfreuen. Eine Mode? Wenn, dann nur in der
älteren Generation: Rentner haben Zeit für sowas.
Ich spreche eine Frau an
einem neben der Tür befindlichen Tresen an, trage ihr mein Anliegen
vor, unsicher, ob es ein ernstzunehmendes Anliegen ist. Die
Bibliothekarin reagiert routiniert, offensichtlich hat sie alle Tage
mit solchen Anfragen zu tun, fragt gleich nach dem Namen und will
Jahreszahlen wissen. Sie wiederholt meine Antwort: „Johann Anton
Grimm? 1828 gestorben?" Ich bejahe, fühle mich in meinem
Anliegen bestärkt, bin mutiger und versuche Einzelheiten zu
erklären, werde aber sofort zurechtgewiesen leise zu reden, dies sei
ein Lesesaal. „Nehmen Sie diesen Antragszettel, setzen Sie sich
dort an einen Tisch und füllen den Zettel aus. Hinterher werden Sie
eine Benutzungsgebühr von sechs Euro zu entrichten haben. Und
ziehen Sie diese weißen Handschuhe über. Manche Bücher sind sehr
alt."
Aha, denke ich, folge ihren nüchternen, deutlichen Anweisungen, und weg ist sie. Ich setze mich, fülle aus: Name, Adresse, E-Mail, Anliegen und derlei, bin noch gar nicht fertig, da liegen plötzlich auf dem Tisch vor mir, wie aus dem Nichts aufgetaucht, drei Bücher, aufgeschlagen, Faksimile-Seiten alter Akteneinträge in Schreibschrift. In den wenigen Minuten, die ich zum Ausfüllen des Zettels brauchte, hat die Bibliothekarin mir diese drei Folianten herausgesucht und die Seiten aufgeschlagen, in denen Johann Anton Grimm erwähnt ist. Ich kann meine Verblüffung nicht verbergen, und die Frau lacht (natürlich leise), das sei ihr täglich Brot.
Aha, denke ich, folge ihren nüchternen, deutlichen Anweisungen, und weg ist sie. Ich setze mich, fülle aus: Name, Adresse, E-Mail, Anliegen und derlei, bin noch gar nicht fertig, da liegen plötzlich auf dem Tisch vor mir, wie aus dem Nichts aufgetaucht, drei Bücher, aufgeschlagen, Faksimile-Seiten alter Akteneinträge in Schreibschrift. In den wenigen Minuten, die ich zum Ausfüllen des Zettels brauchte, hat die Bibliothekarin mir diese drei Folianten herausgesucht und die Seiten aufgeschlagen, in denen Johann Anton Grimm erwähnt ist. Ich kann meine Verblüffung nicht verbergen, und die Frau lacht (natürlich leise), das sei ihr täglich Brot.
Gierig mache ich mich
über die Seiten her. Und ich finde als allererstes die Adresse, in
der unser Ahn im Jahr 1828 gewohnt hat, dem Sterbejahr, das ich der
Frau genannt habe: Fleischhauerstraße 83. Sofort stutze ich.
Fleischhauerstraße? Wohnte er nicht in der Johannisstraße, wie ich
es in einem Stadtführer von 1814 (siehe Kapitel „Lübeck 1814“)
gelesen habe? Ich erkläre der Frau, dass im Stadtführer von 1814
... Schon ist sie unterwegs und bringt mir den Band mit den
Adressenregistern des Jahres 1814. Tatsächlich: Da wohnte er in der
Johannisstraße 11. Dann ist er in der Zwischenzeit also umgezogen.
Leider habe ich heute nicht die Zeit, die Adressenregister aller
Jahrgänge durchzugehen, um zu erfahren, wann der Umzug gewesen ist.
Ich muss das auf einen späteren Archivbesuch verschieben. (Kapitel
„Archiv 2“)
Während ich versuche, in
einem anderen Buch die „No. 291" der „Sterbeauszüge"
zu entziffern, kommt die Frau wieder zu mir und erklärt mir:
„Fleischhauerstraße 83, das ist heute die Nummer 51. Und
Johannisstraße 11 ist heute die Dr.-Julius-Leber-Straße 25."
Da muss ich natürlich hin, habe jedoch leider auch dafür nicht die
Zeit, auch das muss verschoben werden. (Kapitel
„Altstadtspaziergang“)
Aber zurück zum
Sterbeauszug No. 291. Ich lese, bemühe mich Wort für Wort die
zweihundert Jahre alte Handschrift zu entziffern, stelle dabei fest,
dass im frühen 19. Jahrhundert noch nicht durchgängig die deutsche
Kurrentschrift geschrieben wurde. Gerade Eigennamen stehen dort sehr
sauber in lateinischen Buchstaben. Später übrigens erfahre ich,
dass die Lübecker Ämter eigens Kalligraphen angestellt hatten,
damit die Aktenvermerke lesbar in die Register kamen.
Ich lese:
No. 291
Heute den Sechszehnten April Eintausend Achthundert Acht und Zwanzig in der Kanzley der Stadt Lübeck erschien August Friedrich Schultz, Leichenbediener, in der Hüxstraße wohnhaft und zeigte an: daß Herr Johann Anton Grimm, Königlich Schwedischer und Norwegischer General=Consul, Zwey und Siebenzig Jahr alt, aus Wismar gebürtig, Wittwer von Catharina geborene von Huikelhoven, am Zwölften April, Abends Sechs Uhr, in seiner Wohnung in der Fleischhauerstraße belegen, verstorben sey und hat (unlesbar) diesen (unlesbar) mit mir unterschrieben. A.F.Schultz
Heute den Sechszehnten April Eintausend Achthundert Acht und Zwanzig in der Kanzley der Stadt Lübeck erschien August Friedrich Schultz, Leichenbediener, in der Hüxstraße wohnhaft und zeigte an: daß Herr Johann Anton Grimm, Königlich Schwedischer und Norwegischer General=Consul, Zwey und Siebenzig Jahr alt, aus Wismar gebürtig, Wittwer von Catharina geborene von Huikelhoven, am Zwölften April, Abends Sechs Uhr, in seiner Wohnung in der Fleischhauerstraße belegen, verstorben sey und hat (unlesbar) diesen (unlesbar) mit mir unterschrieben. A.F.Schultz
12. April 1828, das
Sterbedatum, das ich schon aus dem „Hamburgischen unpartheyischen
Correspondenten“ kenne, finde ich hier bestätigt. Auch Norwegen,
nicht nur Schweden, vertrat er, natürlich, seit 1814 gehörte
Norwegen zu Schweden. Er war schon Witwer. Wann seine Frau starb,
erfahre ich gleich. Dass Huikelhoven ohne c geschrieben wird, halte
ich für einen üblichen Schreibfehler, in allen anderen Erwähnungen
finde ich diesen Namen mit c.
Aber was ist ein
„Leichenbediener"? Ich finde später mühsam heraus, dass in
Lübeck Leichenbestatter so genannt wurden, Leichenbediener. Ich
hoffe, dass ich das einmal in einem anderen Zusammenhang bestätigt
finden werde.
Rätselhaft bleiben mir
die beiden unverständlichen Wörter am Ende der Anzeige, auch die
Bibliothekarin kann mir da nicht weiterhelfen. Beim zweiten Wort lese
ich „Kerbart", „Knebrart", „Kurbnart", ich
verstehe es nicht. Auch das erste Wort, es ist so sauber gemalt,
entschlüssele ich nicht. Ich entziffere: „Camparnat",
„Canigarrat", ... Ich vermute historische Amtswörter, die ich
nicht kenne. Ich lese dann in den Sterbeanzeigen über und unter Nr.
291, dass diese Wörter dort alle auch auftauchen: Eine
Schlussformel. Was soll sie nur bedeuten?
Das zweite Wort ist der
Begriff für die Anzeige: „diese Anzeige"?, „diese
Todesanzeige"? Ich suche nach weiteren möglichen Begriffen ...
und finde schließlich „Sterbeact". Eine Todesanzeige nannte
sich 1828 in der Lübecker Kanzlei Sterbeakt.
Gut. Aber das Wort davor? Wie hat der Leichenbediener Schultz diesen Sterbeakt unterschrieben. Eigenhändig? Das steht da eindeutig nicht.
Gut. Aber das Wort davor? Wie hat der Leichenbediener Schultz diesen Sterbeakt unterschrieben. Eigenhändig? Das steht da eindeutig nicht.
Und doch heißt es
ziemlich genau das. Ich entdecke viel später nach langem Suchen –
nachts, im Bett liegend, im Internet: Früher nannte man jemanden,
der in einem Amt oder vor Gericht persönlich erschien, einen
Komparenten. „Comparent", steht da, und jetzt ist der Satz
verständlich: "Comparent" ist hier ein Adjektiv, und die Bedeutung
ist: Der "Leichenbediener" August Friedrich Schultz hat den Sterbeakt "Comparent", also persönlich anwesend, "mit mir", d.h. zusammen mit dem Kanzleibeamten,
unterschrieben. Das ist ein Unterschied zu
einem bereits unterschrieben mitgebrachten Sterbeakt.
Frage: War es üblich,
dass Leichenbestatter Todesanzeigen im Rathaus machten? Auch in den
benachbarten Anzeigen werden diese „Leichenbediener" als
Anzeigende genannt. Haben nicht Angehörige Todesfälle angegeben?
Hatte Johann Anton vielleicht keine Angehörigen mehr in Lübeck?
Die Frau tot, die Kinder alle in Riga? Als einzige lebte noch seine
jüngste Tochter Charlotte in Lübeck.
Das dritte Buch, das vor
mir liegt, ist, soweit ich erkennen kann, eine Sammlung von
Stammbäumen. Ich lese Handnotiertes, unübersichtlich, klein und
dicht geschrieben, nicht die Schrift eines Kalligraphen, mühsam zu
entziffern. Ich kenne so eine unübersichtliche Art von Stammbäumen
von den Winkelhofens, man kann die genealogischen Reihenfolgen kaum
erkennen. Die hatte ein Südtiroler Lokalhistoriker im 19.
Jahrhundert aufgeschrieben. Wer zu welchem Zweck diesen Grimmschen
Stammbaum zu Papier gebracht hat, ist mir nicht ersichtlich, es
fehlt eine Überschrift. Jemand aus der Familie?
Diesem kleinen Stammbaum
entnehme ich Folgendes: Johann Anton Grimm, Kaufmann in Lübeck,
gestorben in Lübeck 12.04.1828 (72-jährig), hatte zwei Brüder,
beide Pastoren in Wismar, deren Vater, ich zitiere, „N N. zu
Wismar, verheir. mit ... Rode". Von anderer Stelle weiß ich:
Johann Antons Vater hieß Magister Gottlieb Octavius Grimm (1717 –
1766), war Erzdiakon in St. Marien in Wismar, und seine Frau, Johann
Antons Mutter, hieß Catharina Dorothea Rode (geboren 1722, Todesjahr
unbekannt. Später erfahre ich die korrekten Jahreszahlen: 1726-1806). Weiter entnehme ich dem Stammbaum Johann Antons Ehefrau,
wörtlich: „Catharina von Huickelhoven des Kaufmanns Bernhard
Tilemann von H. zu Riga (gest. 1820, 25 May, 86 Jahr)“ – 1820
ist ein Schreibfehler, er ist 1810 85-jährig gestorben –
„und der Anna Elisabeth von Haffstein (gest. 1821, 23 Februar 83
Jahr) Tochter starb 1823, 12 Juni 58 Jahr."
12. Juni 1823 Katharinas
Tod. Das ist keine zwei Wochen nach dem Besuch der schwedischen
Königin in Lübeck. Sie starb mit 58 Jahren. War sie krank gewesen?
Dann muss Johann Anton ja das Champagnerkelch-Erlebnis gehabt haben,
während seine Frau zu Hause todkrank im Bett lag. Vielleicht ist das
ein Grund, dass die Empfänge nicht bei ihm stattgefunden haben?
Bernadotte
in Lübeck 1806
Lübeck ist über
Jahrhunderte eine gut befestigte Stadt gewesen und nicht ein einziges
Mal eingenommen worden. Selbst im Dreißigjährigen Krieg ist sie
verschont geblieben. Das lag allerdings nicht nur an den guten
Befestigungen mit den vier Toranlagen aus je drei hintereinander
stehenden Toren, sondern auch an dem Geld, das die Kaufmannsstadt
nötigenfalls immer aufbringen konnte, um sich freizukaufen, ähnlich
wie auch Hamburg und Bremen. 1806 gelang das jedoch nicht mehr, als
die Armee Napoleons anrückte. Daran war aber nicht die Armee
Napoleons schuld oder eine mangelnde Bereitschaft Lübecks zu zahlen,
sondern das hatten die preußischen Truppen unter Blücher zu
verantworten. Und Johann Anton Grimm hat die Schlacht in den Straßen
von Lübeck miterlebt.
Wie kam es dazu?
Im Oktober 1806 erlitten
die Preußen eine desaströse Niederlage in der Doppelschlacht von
Jena und Auerstedt in Thüringen. Ein Teil der geschlagenen Armee
stand unter Generalleutnant von Blücher, dem Befehlshaber, der
sieben Jahre später, 1813, nach der siegreichen „Völkerschlacht
bei Leipzig“ zum Generalfeldmarschall ernannt wurde und als solcher
dann 1815, zusammen mit dem Duke of Wellington, als der große
Napoleon-Besieger von Waterloo gefeiert wurde.
1806 sah es aber noch
ganz anders aus. Da war Blücher mit seinen geschlagenen Truppen auf
der Flucht. Er versuchte, von Thüringen nach Ostpreußen zu
entkommen, was ihm jedoch nicht gelang, weil ihm Franzosen dorthin
den Weg versperrten. Er wurde nach Nordwesten abgedrängt und floh
nach Lübeck, immer dicht gefolgt von großen Truppenteilen der
französischen Armee. Napoleon selber hat sich an dieser
Verfolgungsjagd nicht beteiligt, der war als Preußenbezwinger in
Berlin einmarschiert. Drei seiner Marschälle waren es, die hinter
Blüchers Truppenresten her waren, Murat, Soult und Bernadotte.
Blücher erzwang sich den
Zugang zu Lübeck, dessen Senat vergeblich auf seinen
Neutralitätsstatus pochte und tatenlos die preußische Besetzung
geschehen lassen musste. Das wurde Blücher später oft zum Vorwurf
gemacht. Denn durch dieses Manöver Blüchers verlief die
französische Besetzung Lübecks überaus blutig – ganz anders als
die Besetzung der beiden anderen norddeutschen Hansestädte Bremen
und Hamburg, die den Franzosen wohlweislich ihre Tore freiwillig
geöffnet hatten: Kein einziger Schuss war da gefallen. Aber dem
„Haudegen Blücher" – so wurde er gern schon mal genannt –
ist die ehrenvolle Verteidigung Preußens bis zum Letzten wichtiger
gewesen als das Wohl der Menschen in Lübeck.
Blücher erzwang sich
also den Zutritt zur Stadt und verschanzte sich. Die Stadt war gut
befestigt und vor allem durch Trave und Wakenitz bestens geschützt,
eigentlich auch an den Toren. Aber über die Tore versuchten die
Franzosen am Morgen des 6. November in die Stadt einzudringen. Und
nach etwa drei Stunden gelang es ihnen auch, nämlich durch das
nördliche Burgtor.
Das Burgtor, noch heute
ein eindrucksvolles und ansehnliches Gebäude, ist – ähnlich wie das
Holstentor – das einzig übriggebliebene Tor einer
einstigen großen Toranlage gewesen: Neben allerlei Schanzen und
Türmen hatte es noch ein mittleres und ein äußeres Tor gegeben.
1806 gab es diese äußeren Tore nicht mehr, da erstreckte sich vor
dem Burgtor nur noch ein weites Feld. Auf diesem Feld entschied sich
die Schlacht. Den Wakenitz-Durchstich vor dem Burgtor, der heute die
Altstadt zu einer Insel macht, gab es damals noch nicht, der wurde
erst kurz vor 1900 mit dem Bau des Elbe-Lübeck-Kanals geschaffen.
Die französischen Truppen konnten daher vom Norden her ohne
Behinderung durch ein Gewässer bis zum Feld vor dem Burgtor
heranrücken. Deswegen war gerade das Burgtor die Schwachstelle im
Lübecker Verteidigungsring.
An dieser Schwachstelle
hat der preußische Kommandant – es war nicht Blücher selber –
zwei Fehler gemacht, die sich schließlich als schlachtentscheidend
herausstellten. Er hat erstens Bastionen neben dem Tor unnötigerweise
besetzen lassen, unnötigerweise deshalb, weil diese Bastionen gar
nicht gestürmt werden konnten, denn sie waren vom Wasser bereits
geschützt. Soldaten fehlten also an anderer, wichtigerer Stelle: Die
Tore, Türme und Mauern blieben ohne ausreichende Bedeckung.
Und zweitens hat der
Kommandant auf dem Feld vor dem Tor Infanterie aufstellen und kämpfen
lassen, so dass die Artillerie, die von der Stadt und von den
angrenzenden Bastionen aus auf die Franzosen schießen sollte, nicht
abfeuern konnte, ohne ihre eigenen Leute zu treffen.
Diese Fehler hat der
Kommandant auf der anderen Seite – es war Marschall Bernadotte –
erkannt und ausgenutzt. Als die Preußen sich am Ende durch das
Burgtor ins Innere Lübecks zurückzuziehen gezwungen sahen, drangen
Franzosen mit ihnen ein. Und dann begann die Schlacht in den
Straßen. Ein Gräuel, stelle ich mir vor, Hunderte, Tausende, nein,
Zehntausende schreiende Männer schossen, prügelten, säbelten
aufeinander ein, Blut, Schmerzgebrüll, ohrenbetäubender Lärm in
den Gassen und Straßen. In einer Geschichte Lübecks aus dem Jahr
1908, die ich als Faksimile-Druck im Buddenbrookhaus entdeckt habe,
liest sich das aus der Sicht eines Augenzeugen so: „Ein
mörderlicher Kampf verbreitete sich nun in allen Straßen, es war
ein wirkliches Morden, denn man kam sich so nahe, daß man sich das
Gewehr auf die Brust setzen konnte.“ Was müssen die Bewohner
empfunden haben, die Frauen, Kinder, Handwerker, Kaufleute! Welche
unsägliche Angst müssen Johann Anton und seine Frau Katharina
ausgestanden haben mit ihren sechs Kindern, der sechzehnjährigen
Anna, Anton, vierzehn Jahre alt, meinem Urur Wilhelm, zwölf, dem
siebenjährigen Dorchen, der kleinen, knapp vierjährigen Katharina.
Und die noch nicht zweijährige Charlotte wird verständnislos in
der sie umgebenden Panik geschrien haben. Der Älteste, achtzehn,
war seit zwei Jahren in Riga bei den reichen Huickelhovenschen
Großeltern. Er wird später mit Grauen von dieser menschengemachten
Katastrophe gehört haben.
Als das Schlachten im
Laufe des Tages vorüber war, hörte der Schrecken für die Lübecker
noch lange nicht auf. Jetzt folgten die Plünderungen – vereinzelt
auch Vergewaltigungen – durch die französischen Soldaten, die der
Meinung waren, dass sie das Recht hätten über die Lübecker
herzufallen, weil diese, im Widerspruch zu ihrer Neutralität, den
Preußen allzu bereitwillig die Tore geöffnet hätten. Dem war
keineswegs so gewesen, Blücher hatte sich den Zugang zur Stadt
erzwungen. Aber selbst wenn dem so gewesen wäre, gibt es ein Recht
auf Plünderungen? Selbst in damaliger Sicht gab es das nicht. Aber
die drei Marschälle haben ihre wild gewordene Soldateska gewähren
lassen. (Alan Palmer schreibt in seinem glaubwürdigen Buch über
Bernadotte, dieser habe verzweifelt die Plünderungen zu verhindern
versucht.) Von barbarischen Gewaltexzessen liest man, die zum Teil so
schlimm gewesen seien, dass selbst erfahrene Krieger von
„Schreckensszenen" geschrieben haben. Napoleon selber hat
später wegen dieser Vorkommnisse von Berlin aus seine Anteilnahme
ausgesprochen, „doch das waren nur schöne Worte", lese ich.
In der eben erwähnten
Geschichte Lübecks von 1908 finde ich folgende Darstellung von
einem, der die Plünderungen als Junge im Haus eines Nachbarn
miterlebt hat:
"Die Züge von
(französischer) Infanterie und Kavallerie konnten wegen
großem Gedränge nicht fort und machten vor unserem Hause Halt,
die lagerten sich auf den Straßen vor den Häusern umher. Da kamen
fünf derselben an unsere Haustüre, die verschlossen war, und
pochten heftig gegen diese, wir gingen hinunter, und da das Pochen
nicht aufhörte, waren wir gezwungen zu öffnen. Die fünf drangen
sogleich ins Haus und schlossen hinter sich die Türe. Sehr höflich
erbaten sie für ihre ermatteten Offiziere, die sich vor dem Hause
befanden, um Weißbrot und Wein. Beides ward ihnen sogleich
reichlich gegeben. Man hoffte nun, diese unangenehmen Gäste wieder
abziehen zu sehen, statt dessen lagerten sich diese bequem auf der
Diele, legten Gewehre und Tornister beiseite und verzehrten selbst
Brot und Wein. Der in Hast genossene Wein aber stieg ihnen sogleich
in die Köpfe, beraubte ihnen die Vernunft, und nun fingen sie an
zu wüten. Ihre Forderungen nach Essen, Trinken, Kleider, Geld usw.
folgten schnell aufeinander und waren nicht mehr zu befriedigen. Wir
leerten unsere Taschen, womit wir sie zu beruhigen glaubten, aber
sie lachten über das wenige und droheten uns mit ihren
Seitengewehren, wenn wir nicht sogleich mehr herschaffen würden,
dabei machten sie Miene, die auf der Diele liegenden Packen mit
feinen Stoffen zu öffnen. Um ihre Forderungen nach Geld zu
befriedigen, mußte einer von uns in ein oberes Zimmer bei der Kasse
gehen, sie aber wichen uns nicht von der Seite und wurde die Kasse
in ihrer Gegenwart geöffnet, so war auch der ganze beträchtliche
Inhalt nicht zu retten. Unter den fürchterlichsten Drohungen und
Flüchen unserer Peiniger zögerten wir noch immer, zur Kasse zu
gehen, da, aufs äußerste gedrängt und von einem der gräßlichen
Menschen erfaßt, der ihm die Uhr aus der Tasche ziehen wollte,
näherte sich Herr Behn der Haustüre, sprang auf die Straße,
ergriff den Arm eines Offiziers, und zog ihn fast mit Gewalt ins
Haus. Der Offizier machte den trunkenen Soldaten über ihr Verhalten
die heftigsten Vorwürfe, zog den Degen und drohete, sie zum Hause
hinauszutreiben. Einer aber von ihnen suchte sich hinter Kisten und
Tonnen zu verbergen und die Treppe hinaufzuschleichen. Das gezogene
Seitengewehr in der Hand, befand er sich schon auf dieser, da ward
ihn Herr Behn gewahr, verfolgte und erreichte ihn, und warf den
Betrunkenen die Treppe hinunter, hier empfing ihn der Offizier und
trieb ihn vollends zum Hause hinaus. Der zurückgelassene Tornister
ward ihm auf die Straße nachgeworfen. Mit dem wohlgemeinten Rate,
die Türe zu verschließen und nicht zu öffnen, entfernte sich
auch der Offizier wieder sogleich."
Auch in den
„Buddenbrooks“ kommen die Plünderungen einmal zur Sprache. Da
wird über die alte Konsulin, Antoinette, erzählt, dass sie als
junge Frau bei der französischen Eroberung die Plünderung einer
Miliz („an die zwanzig Mann hoch“) in ihrem Hause erlebt habe,
während ihr Mann, Konsul Johann Buddenbrook, krank im Bett gelegen
habe. Ein mutiger Freund habe den Anführer der Miliz, einen
Sergeanten, gefragt, ob er die Plünderung mit seinem hohen
Dienstgrad vereinbaren könne, worauf der Sergeant rot geworden sei
und die silbernen Löffel, die er gerade in der Hand hielt, zurück
in die Truhe geworfen habe mit den Worten: „Aber wer sagt Ihnen
denn, dass ich etwas anderes mit diesen Dingen beabsichtigte als sie
ein wenig zu betrachten?! Hübsche Sachen, das! Wenn einer oder der
andere der Leute ein Stück als Souvenir mit sich nehmen sollte ...“
– „Nun“, heißt es weiter, „sie haben immerhin noch genug
Souvenirs mit sich genommen, da half keine Berufung auf menschliche
oder göttliche Gerechtigkeit … Sie kannten wohl keinen anderen
Gott als diesen fürchterlichen kleinen Menschen ...“
In diesen Schilderungen
sind die Betroffenen glimpflich davongekommen. Sie zeigen, dass
Offiziere angehalten gewesen zu sein scheinen, Plünderungen zu
unterbinden. Es muss aber auch ganz andere Szenen gegeben haben.
Nach zwei Tagen, am 8.
November, konnte Bernadotte schließlich ein Plünderungsverbot
durchsetzen. Danach kehrte allmählich Ruhe ein ... Ruhe! – mit
ausgeraubten Häusern und über eintausend verwundeten Soldaten
verteilt über die Hospitäler Lübecks, vor Schmerz schreiend und
stöhnend und dahinsterbend.
Aber da war noch die
Geschichte mit den Schweden, die später bei Bernadottes Wahl zum
schwedischen König eine Rolle spielen sollte. Etwa 1.500 schwedische
Soldaten waren in Lübeck, die nur zufällig zwischen die Fronten
geraten waren. Diese Verbände waren als Verbündete Englands, und
somit Feinde Frankreichs, im Herzogtum Lauenburg stationiert
gewesen, Lauenburg, das zum Königreich Hannover gehörte, dieses
wiederum in Personalunion verbunden mit England. Als die
französischen Truppen hinter Blüchers Preußen her herangestürmt
gekommen waren, hatten die Schweden in Lauenburg ihre Sachen gepackt
und waren noch vor den Preußen in das nahe gelegene Lübeck
geflohen, um von dort so schnell wie möglich auf „requirierten",
also geklauten Schiffen über Travemünde nach Stralsund zu
entkommen, das damals noch zu Schweden gehörte. Sie waren gegen den
Willen des Lübecker Rates mit Gewalt in die Stadt eingedrungen, wie
kurz danach Blüchers Preußen. In dieser Sache muss der schwedische
Kommerzagent Johann Anton Grimm – Konsul ist er erst später
geworden – eine diplomatische Rolle gehabt haben: Im Auftrag des
schwedischen Königs soll er die schwedischen Kommandanten
angehalten haben, den Lübecker Neutralitätsstatus zu respektieren
und die Stadt zu umgehen, was diese in ihrer Panik vor den
heranstürmenden Franzosen aber nicht zu befolgen vermochten: Sie
drangen ein, schafften es dann jedoch nicht mehr bis Travemünde,
denn schon kamen Blüchers 20.000 Preußen und verbarrikadierten sich
in der Stadt, vor den Toren belagert von 60.000 Franzosen, diese
Handvoll von 1.500 Schweden.
Was ist aus diesen
Schweden nach den Kämpfen geworden? Da sie sich nicht mehr nach
Travemünde hatten in Sicherheit bringen können, waren sie in
französische Kriegsgefangenschaft geraten. Ihnen gegenüber jedoch
hat sich Bernadotte überaus nobel verhalten. Er ließ den
Oberkommandierenden, Graf Gustaf Mörner, in seinem Quartier in einem
der vornehmsten Häuser Lübecks wohnen. Der – übrigens ein
Vetter jenes Carl Otto Mörner, der Bernadotte vier Jahre später,
im Sommer 1810, quasi im Alleingang zum Thronfolgerkandidaten machen
sollte – dieser Mörner erinnerte sich später, dass er
hochinteressante Gespräche mit dem französischen Marschall geführt
habe, und dass der ihn einmal gefragt habe, ob es für Norwegen
geographisch nicht viel natürlicher wäre zu Schweden zu gehören
als zu Dänemark. So etwas ging einem schwedischen General runter
wie warme Butter.
Außerdem lud Bernadotte
die schwedischen Offiziere einmal zu sich ein zu einem Diner. Und
schließlich ließ er alle 1.500 schwedischen Soldaten unbehelligt und
ehrenvoll die Stadt verlassen. Das haben die Schweden ihm nie
vergessen. Und das muss Johann Anton Grimm als schwedischer
Handelsagent aus nächster Nähe mitbekommen haben. Hat ihn das in
seinem Urteil über Bernadotte beeinflusst? Hat ihn dies Verhalten
des französischen Besetzers leichter die Plünderungen vergessen
lassen? Hat er ihm später mit dieser Erinnerung im Herzen umso
lieber den Champagnerkelch angeboten? Und noch später der
schwedischen Königin, Bernadottes Ehefrau?
Das
Grabkreuz
Das Kreuz „Johann Anton
Grimm Erben" gibt es nicht mehr. Es ist weg. Ich entsinne mich
des Fotos, auf dem mein Großvater Reinhold mit einer Hand an einem
Arm des alten, schwarzen gusseisernen Kreuzes steht, eines Kreuzes
mit etwas blumenartig barockischen Ausformungen. Das muss Ende der Fünfzigerjahre gewesen sein. Wer hat dieses Foto? Ich finde es bei
mir nicht.
Um zu diesem
Burgtor-Friedhof, dem früheren „Allgemeinen Gottesacker“, zu
gelangen, geht man durch das Burgtor hinaus auf die Travemünder
Allee, eine großzügige breite, baumbestandene, ziemlich befahrene
Straße, an der entlang wunderschöne alte Villen aus der
Jahrhundertwende stehen. Man geht vielleicht zwanzig Minuten, bis
man, auf der linken Straßenseite, zu dem südöstlichen Eingang des
Friedhofs kommt.
Es gibt eine Wegskizze,
die mein Vater, Tilemann, einmal angefertigt hat, die in seiner
charakteristischen schwungvoll-eleganten Schrift zum Grabkreuz
„Johann Anton Grimm Erben" führt: durch den „SO Eingang zum
Burgtor-Friedhof (Allee)", über einen „gepflasterten Weg"
in einer Rechts- und dann Linkskurve vorbei am Grabmal „Fam. Roth",
einen „ungepflasterten Weg" kreuzend zwischen einem „Brunnen"
(rechts) und einer „Birke" (links) hindurch zum „Grab
Gertrud Kleiber, Paul Kleiber"; dahinter das Kreuz „J.A.Grimm
Erben".
Dieser Skizze folge ich
nun: durch den Eingang auf den gepflasterten Weg. Da ist er. Auf den
Grabstein der Familie Rot zu. Voilà! Kurve nach rechts und wieder
nach links. Genau wie auf der Skizze. Das sieht gut aus, die
Hoffnung, das Kreuz zu finden, steigt. Ein ungepflasterter Weg
kreuzt. Naja, der ist jetzt gepflastert. Rechts ein Brunnen. Hier.
Und links daneben eine Birke. Tatsächlich! Ein alter, mächtiger
Birkenstamm, efeuumrankt, versteckt sich im Gebüsch. Dazwischen
hindurch zum Grabstein Gertrud und Paul Kleiber, und dahinter soll
dann das Kreuz stehen. Ich kämpfe mich durch ziemlich dichtes
Gestrüpp. Ich suche, biege Äste zur Seite, suche immer wieder
dieselben Stellen ab. Nichts. In der näheren Umgebung Gräber jede
Menge, aus den Siebzigerjahren, Sechzigerjahren. Aber kein großes,
schwarzes gusseisernes Kreuz mit blumenartig barockischen
Ausformungen.
Ich gehe zur
Friedhofsverwaltung. „Johann Anton Grimm?", sagt der
„Teamleiter" der – laut Visitenkarte –
„Grünanlagenbewirtschaftung". „Sagt mir gar nichts. 1828
gestorben? Wir bewahren immer mal wieder alte Grabsteine auf. Die
stehen dann um die Kapelle herum und den ganzen Friedhofs-Außenweg
entlang, manchmal sehr versteckt hinter dichtem Buschwerk. Da müssen
Sie mal herumgehen und suchen. Aber dokumentiert haben wir das nicht.
Wenn Sie das Kreuz nicht finden, dann ist es irgendwann einmal auf
dem Müll gelandet. Aber wissen tun wir darüber nichts."
Ich mache einen
Spaziergang über den Außenweg einmal um den Friedhof herum. Es ist
ein schöner Weg, und ich finde viele alte, teilweise völlig
verwitterte Grabsteine. Aber das Kreuz unseres Johann Anton Grimm ist
nicht dabei. Es ist wohl irgendwann in den knapp sechzig Jahren, seit
wir es besucht haben, verschrottet worden.
Archiv
2
Heute habe ich mich
wieder zu einem Besuch des Archivs der Hansestadt Lübeck neben dem
Dom im Mühlendamm aufgemacht. Es ist ein Vorfrühlingstag im März,
ich bin voller Hoffnung Weiteres herauszufinden. Den Weg kenne ich,
ich gehe direkt zum Archiv, die Treppen unter Bäumen hinauf zum
Eingang, in den Fahrstuhl, ohne hinzusehen weiß ich: 4. Stock.
Im Lesesaal dieselbe stille Bibliotheksatmosphäre wie das erste Mal.
Heute sitzen zwei Amerikanerinnen an einem Tisch und stöbern,
offenbar Mutter und Tochter. Auf Ahnenforschungstrip in Europa?
Eine andere, ebenso
hilfsbereite Bibliothekarin zeigt mir alles, was ich brauche: „Die
Adressbücher stehen dort drüben in dem zweiten Regal an der Wand.
Sie können sich bedienen. Aber es ist nicht jedes Jahr ein Band
veröffentlicht worden.“ Ich frage: „In welchem Jahr ist das
erste Adressbuch herausgekommen?“ – „1798.“ Schade, wo ich
weiß, dass Johann Anton 1788 nach Lübeck gekommen ist, wenn nicht
schon 1787.
Ein „Lübeckisches
Addreß-Buch“ (erst ab 1834: „Adreß-Buch“ mit nur einem d)
beinhaltet alle in Lübeck gemeldeten Bürger, alphabetisch geordnet
mit Titel und Wohnadresse. Ich will wissen, wo mein Vorfahr in
welchem Jahr gewohnt hat, zum Beispiel, wann er von der
Johannisstraße in die Fleischhauerstraße umgezogen ist. Ich
schlage die Adressenbücher auf, die es zwischen 1798 und 1838 gibt.
Dies ist das Ergebnis meiner Suche (Ich zitiere wörtlich, was dort
jeweils unter Johann Anton Grimm steht und füge kursiv meine
Kommentare hinzu):
1798: eigene Handlung;
Seifenfabrike; Commissions- und Speditionsgeschäfte; Breitenstraße
Nr. 702 M.M.Q. (Maria-Magdalenen-Quartier,
702 ist eine durch das ganze Viertel durchgezählte
Hausnummer. Seifenfabrike Plural? Ein Hinweis auf den Besitz
mehrerer Seifensiedereien? Vor der Johannisstraße hat er also in der
Breitenstraße, heute Breite Straße, gewohnt.)
1799: dito
1801: dito
1803: dito
(Vom Schonenfahrer-Aeltermann steht hier übrigens nichts, was er laut Wilhelm Grimms "Lebensskizzen" gewesen sein soll.)
1801: dito
1803: dito
(Vom Schonenfahrer-Aeltermann steht hier übrigens nichts, was er laut Wilhelm Grimms "Lebensskizzen" gewesen sein soll.)
1805: Königl.
Schwed. Agent; eigene Handlung und so weiter dito. (1803
ist er schwedischer Handelsagent geworden.)
1807: Kaufmann;
Königl. Schwed. Agent; Fischergrube MMQ Nr. 333 (zwischen
1805 und 1807 also in die Fischergrube umgezogen.)
1809: dito,
aber: Johannisstraße
JacQ. Nr. 11 (Jacobi-Quartier. Umzug in die
Johannisstraße zwischen 1807 und 1809, genau 14. Juni 1807,
siehe weiter unten)
1811: dito
1815: Kaufmann;
Königl. Schwedischer Consul; JacQ. Nr. 68 (soeben zum
Konsul ernannt. Straßenname fehlt, nur Haus Nr. 68, warum nicht 11?
Weil laut einer Konkordanz von 1910 um 1812 herum – also in der
Franzosenzeit – die Häuser anders nummeriert waren.)
1818: dito
1821: Kaufmann;
Königl. Schwedischer und Norwegischer General-Consul;
Johannisstraße JacQ. 11 (Jetzt, seit etwa 1820, wieder
die alte Nummerierung. Seit 1820 Generalkonsul. Norwegen gehörte
ab November 1814 in Personalunion zu Schweden.)
1824: dito
1826: dito,
aber: Fleischhauerstraße
83 (zwischen 1824 und 1826 Umzug in die
Fleischhauerstraße, genau 1824, siehe weiter unten)
1828: dito
1830: Grimm,
Demois.; Breitenstraße JacQ. 779 (inzwischen ist Johann
Anton gestorben, 12.4.1828. Demoiselle Grimm könnte die jüngste
Tochter Charlotte gewesen sein. Die beiden anderen schon in Riga?)
1832: dito
1834: Grimm,
Demois.; Breitenstraße MMQ 804 (ein paar Häuser
weitergezogen, jetzt, wohl zur Untermiete, bei einer Familie Matz)
1836,
1838: Demoiselle Grimm fehlt, ein Indiz dafür, dass es
tatsächlich Charlotte gewesen ist, denn sie ist 1835 gestorben.
Vor 1830 wurde sie als Mitglied der Familie Johann Anton Grimm
nicht extra aufgeführt.
Soweit die
Adressenbücher.
Ich wende mich jetzt
einem dicken Karteikasten zu (Nr. 112 „Greveman“ bis „Griver“),
in dem alle Karteikarten gesammelt sind, die damals zur Familie Grimm
angelegt worden sind, leider nicht ganz sauber alphabetisch geordnet,
ich muss Karte für Karte durchgehen. Es gab in Lübeck noch
erstaunlich viele andere Grimms. Dennoch finde ich viel über Johann
Anton, meist die Angaben zu den Taufen der acht Kinder, und zwar
jeweils eine Karte für Johann Anton, für Katharina und für jedes
Kind. Auch den Tod der einjährigen Henriette am 25. Mai 1798 finde
ich: „stirbt in der Burg“. In der Burg?
Die
Burg – gemeint ist das in der Reformationszeit 1531 aufgelöste
Burgkloster (Dominikanerkloster Maria Magdalena) im Norden der
Stadt, wo auch das Burgtor steht – diese Burg war vor 1800, so
erfahre ich auf Nachfrage, ein Armen- und Krankenhaus. Armenhaus für den Kaufmann
und Konsul Grimm? War das Kind krank und wurde in dem mit
dem Armenhaus verbundenen Hospital gepflegt? 1798, da gab es in der Burg keine Armen mehr, wie ich später lese, und auch das Krankenhaus stand bereits kurz vor der endgültigen Schließung. (1896 wurde der Gebäudekomplex zu einem Gericht umgebaut, heute ein Museum.)
Auf
jeden Fall wurde das Kind Henriette in der Burgkirche bestattet, wie
später auch die anderen in Lübeck gestorbenen Grimms, die Eltern
Katharina (1823), Johann Anton (1828), und die Schwester Charlotte
(1835). In Wilhelm Grimms „Lebensskizzen“ lese ich, dass alle in der „Burgkirche“ beerdigt wurden:
„Als diese Kirche niedergerissen werden musste (1818), wurden im Jahre
1835 die Särge ... auf dem Jakobi Kirchhofe des im Jahre 1832 neu
angelegten „allgemeinen Gottesackers“ in die Erde gebettet.“
Das ist der heutige Burgtor-Friedhof, auf dem jetzt nicht einmal mehr
das gusseiserne Grabkreuz („J.A.Grimm Erben“) erhalten ist,
geschweige denn das Grimmsche Erbgrab („Erbbegräbnis“).
Ich vermisse nur Ursula
Anna, die ca. 1790 – die Angaben, die ich kenne, sind da
widersprüchlich – in Riga geboren sein könnte.
Weiterhin finde ich auf
einer Karteikarte zu dem Haus in der Johannisstraße folgende Notiz:
Grimm, Johann
Anton
Kaufm.; Schwedischer g.Consul
1807, Juni 14, bezog er als Mieter: Johannisstr. 11
1824 wurde das Haus vk. Er zog dann in die
Fleischhauerstr. 83, wo er bis etwa 1830
nachzuweisen ist.
Kaufm.; Schwedischer g.Consul
1807, Juni 14, bezog er als Mieter: Johannisstr. 11
1824 wurde das Haus vk. Er zog dann in die
Fleischhauerstr. 83, wo er bis etwa 1830
nachzuweisen ist.
Also wohnte er vom 14.
Juni 1807 bis 1824 in der Johannisstraße. Hat er selber das Haus
verkauft? Oder hat er bis zum Schluss als Mieter darin gewohnt? Dass
er überhaupt als Mieter dort eingezogen ist, wundert mich.
Nochmal zurück zu den
Geburts- und Taufangaben: Über die Geburt und Taufe (1794) meines
Ururgroßvaters Eduard Wilhelm Tielemann in Riga (nicht in Lübeck!)
finde ich diese Abschrift eines von Vater Johann Anton verfassten
Eintrags:
Grimm, Johann
Anton 1794
Kauffmann Okt. 21
„Auf Verlangen und Consens des Herrn Pastor
Peter Hei rich Petersen, ist dieses Beygefügtes Zettel
dieses Kirchenbuch eingeschrieben“ ….
„Der Herr Grimm ist diesen Sommer mit seiner
Ehe-Frau zum Besuch nach Riga gereiset gewe=
sen, zur See hat sie sich nicht Begeben wollen,
und zu Lande hat sie nicht reißen können weil in
der umliegenden Gegend diesen Sommer Unruhen
ausgebrochen, sie also ihre Niederkunft (verte.)
N.Jak 7/6 S 176, 198 a V
Kauffmann Okt. 21
„Auf Verlangen und Consens des Herrn Pastor
Peter Hei rich Petersen, ist dieses Beygefügtes Zettel
dieses Kirchenbuch eingeschrieben“ ….
„Der Herr Grimm ist diesen Sommer mit seiner
Ehe-Frau zum Besuch nach Riga gereiset gewe=
sen, zur See hat sie sich nicht Begeben wollen,
und zu Lande hat sie nicht reißen können weil in
der umliegenden Gegend diesen Sommer Unruhen
ausgebrochen, sie also ihre Niederkunft (verte.)
N.Jak 7/6 S 176, 198 a V
Das ist nicht
uninteressant. Zunächst aber: Beim Lesen, besser beim mühsamen
Entziffern im Lesesaal weiß ich noch nicht, dass „verte“
umblättern heißt. Ich würde sonst nach der fehlenden Rückseite
suchen. (Ich werde das bei einem dritten Archivbesuch nachholen in
der Hoffnung, das Satzende zu finden.)
Mühsames Entziffern: Als
ungeübten Leser der Kurrent-Schrift kostet es mich wieder allerhand
Grübeln, bis ich bei dem Wort „Consens“ in dem ersten
Buchstaben, der wie ein L aussieht – „Lachens“? „Lousens“?
–, das C erkenne. „Auf Consens“, wieder so eine Amtsformel wie
„Comparent“.
Über die
grammatikalische Katastrophe „... ist dieses beigefügtes Zettel
dieses Kirchenbuch eingeschrieben“ gehe ich hinweg. Fehlen Wörter?
Nachlässige Abschrift? Altertümliches „das Zettel“? Aber selbst
wenn, es müsste trotzdem „beigefügte“ heißen, nicht
„beigefügtes“. Missinterpretiere ich, wenn ich lese: „... ist
dieser beigefügte Zettel in das Kirchenbuch eingelegt“?
Verquere Grammatik,
unvollständiger Text. Aber das Vorhandene ist schon schön genug. Er
beantwortet – vorbehaltlich der Rückseite des Zettels – die
Frage, warum das Kind nicht in Lübeck, sondern in Riga geboren
wurde. Man war dort zu Besuch, natürlich bei den Huickelhovenschen
Eltern der Frau. Auf einem schwankenden Schiff traute sich die
hochschwangere Katharina nicht wieder zurück nach Lübeck, und mit
der Post, oder welcher Kutsche auch immer, konnte sie nicht zurück,
wegen Unruhen „in der umliegenden Gegend“, nämlich in der Nähe
von Riga. Worum ging es bei diesen Unruhen?
Es ging um den Widerstand
der Polen gegen die polnischen Teilungen. 1772, bei der sogenannten
„ersten polnischen Teilung“, hatten sich Russland, Preußen und
Österreich, in guter alter Raubrittermanier nach dem Recht des
Stärkeren, Teile des ehemals großen Königreichs Polen-Litauen
angeeignet. 1793, 21 Jahre später, folgte die „zweite polnische
Teilung“, übrig blieb ein Rest-Polen. Und dagegen begehrten die
Polen jetzt auf, nicht nur der nationalistische Adel, der sich
seines Machtbereichs beraubt fühlte, sondern das gesamte Volk:
Vorbild des Aufstands war die gerade erfolgte Französische
Revolution.
Riga lag unmittelbar an
der Grenze zu diesem Rest-Polen, und wenn man von dort nach Lübeck
reisen wollte, musste man durch das Aufstandsgebiet hindurch.
Unter
ihrem Anführer Tadeusz Kościuszko
(ausgesprochen Tadäusch Koschtschuschko), nach dem der Aufstand
benannt ist, schlug man sich brav über den Sommer 1794. Aber gegen
die Übermacht dreier Großmächte, die sich ansonsten überhaupt
nicht über den Weg trauten, sich bei der Aufteilung Polens aber
schön einig waren, gegen diese Großmächte hatten die wackeren
Polen keine Chance. Am 10. Oktober war der Kościuszko-Aufstand
niedergeschlagen. Ergebnis: Komplette Auflösung Polens, die drei
Räuber rissen sich jetzt auch noch den Rest unter den Nagel: Das
Land Polen hörte auf zu existieren.
Dieser polnische Aufstand
mit den Schlachten ist es, der in Johann Antons Zettel-Eintrag für
das Kirchenbuch „Unruhen“ genannt wird und der verhinderte, dass
die Familie rechtzeitig zur Geburt zurück in Lübeck sein konnte. Deswegen also wurde mein Ururgroßvater in Riga geboren und nicht in Lübeck, in dem Riga, dessen Bürgermeister er später von 1852 bis
1867 war. Gleich nach Ende des Aufstandes am 10. Oktober muss die
Familie losgefahren sein, denn der Zettel, doch wohl in Lübeck für
das Kirchenbuch verfasst, ist datiert auf den 21. Oktober, elf Tage
später.
Drei Lübeck-Romane
Ida Boy-Ed: Ein
königlicher Kaufmann, 1910
Ida Boy-Ed (geb. 1852 in
Bergedorf, gest. 1928 in Travemünde) war eine Lübecker
Schriftstellerin; sie hat über siebzig Bücher geschrieben,
Gesellschaftsromane. Sie führte einen Salon ganz im klassischen
Stil: Führende Literaten trafen sich in ihrem Hause, unter ihnen der
Lübecker Thomas Mann, den sie nach seinen frühen, in Lübeck
umstrittenen, Bucherfolgen – u.a. Buddenbrooks (1901), Tonio
Kröger (1903) – unterstützte.
In dem Roman – er
spielt um die Wende zum 20. Jahrhundert in Lübeck, es gibt schon
Dampfschifffahrt, Eisenbahn, Telefon und Automobil – geht es um die
hochproblematische Ehe des reichen Kaufmanns Jakob Bording und seiner
Frau Therese Landskron, problematisch deshalb, weil, erstens, er
kurz vor seinem Heiratsantrag ein sechsjähriges Verhältnis mit der
Ehefrau eines Konkurrenten beendet hat, ohne seiner Frau auch nur ein
Sterbenswörtchen von dieser Beziehung zu sagen, und weil, zweitens,
sie zufällig später davon erfährt und ihrerseits ihm kein
Sterbenswörtchen davon sagt: Man sprach über derlei Dinge nicht,
litt stattdessen vor sich hin und ließ den Schwelbrand des
Nichtgesagten die Ehe langsam von innen zerfressen. In diesem Fall:
Offenes Ende, nicht ohne die Möglichkeit einer teilweisen Aussöhnung
nach der Geburt eines Sohnes.
Ich habe den Roman gern
gelesen – trotz der Längen, die er hat, vor allem bei den seiten-
und aberseitenlangen Schilderungen des anfänglichen Eheglücks, was
die Lesespannung erhöhen soll, denn wir wissen: Irgendwann wird sie
die ihr durchaus bekannte Halskette der früheren Geliebten finden,
die in einer Rubinglasschale in einem Schrank vergessen worden ist.
Das hab ich dann überblättert, dafür andere Passagen interessiert
gelesen, etwa die fortschreitenden Enttäuschungen, Verwirrungen,
Hoffnungen, Verzweiflungen der beiden Eheleute.
Aber das ist es nicht,
weswegen ich mich an das Buch gemacht habe, sondern natürlich die
Darstellung des Lebens der Lübecker Kaufleute, auch wenn dies Leben
sich gut drei Generationen später abspielt als mein Urururahn
gewirkt hat, als die Senatoren noch Ratsherren hießen (bis 1848) und
die Kontore noch Comptoirs. Aber die familiären Eifersüchteleien,
auch der Ehefrauen untereinander, die Kungeleien, das Ehrgefühl, die
vornehme Steifheit neben niederdeutscher Derbheit, „die spezifische
Hanseatenkrankheit: den Patrizierwahnsinn, in welchem jede Familie
sich einbildet, aristokratischer als alle anderen zu sein", das
alles kommt hier, wenigstens im ersten Teil des Buches, sehr schön
zum Ausdruck – wie übrigens nicht anders als in den
„Buddenbrooks".
Ludwig
Ewers: Die Großvaterstadt, 1926
Ludwig Ewers (1870 -
1946), in Lübeck als Sohn eines Kaufmanns geboren, war in erster
Linie Zeitungsredakteur. Er war fast gleichalt mit Heinrich Mann und
mit diesem über längere Zeit befreundet. In dem 1926 erschienenen
Roman „Die Großvaterstadt" schildert er das Lübecker
Kaufmannsmilieu der 1840er- und 1850erjahre, wie er es von seinem
Vater und Großvater vermittelt bekommen hat, die wohl gut gehende
Handelsfirmen geleitet hatten. Das Kaufmannsmilieu der 1840er- und
1850erjahre, das ist exakt die Buddenbrookzeit, und so kommt dieses
Buch einfach nicht darum herum, mit den „Buddenbrooks“ verglichen
zu werden, und es fällt dabei komplett durch: Es ist gähnend
langweilig. Das weniger etwa wegen seiner Ereignisarmut.
Dramatisches passiert zwar in der Tat nicht: Es geht um das Leben
zweier junger sehr tüchtiger und sehr erfolgreicher Handelsmänner,
Edelmenschen, ein bisschen so wie Old Shatterhand und Winnetou. Sie
sind zudem gut national gesinnt, was in dieser Zeit wohl unumgänglich
gewesen zu sein scheint. (In den „Buddenbrooks“ spielt das
überhaupt keine Rolle.)
Aber die fehlende
Dramatik ist es nicht, die den Roman langweilig macht, langweilig ist
er wegen seines schwachen Stils. Wenn bei Thomas Mann die
differenzierte, humorvoll-ironische Sprache einen solchen Spaß
macht, kämpft man sich bei Ludwig Ewers durch eine schwerfällige
Ausdrucksweise, oft gekünstelt altertümelnd oder poetisierend:
„Kruths Mundlinie umgliss ein flackerndes Lächeln, seine Lippen
umkräuselten Heiterkeit", oder: „Unter seinen Augenwölbungen
hervor schoss er helle Blitze", oder der homerisch belesene
Handelsmann nennt einen Kutscher allen Ernstes „würdiger
Rosselenker". Typisch dies Gespräch:
"„Man sollte gar nicht
heiraten!", polterte Griepenkerl. Sofort richtete Kruth sein
Gesicht auf; beinahe schön war es in dem Glanz, der aus seinen
Augen leuchtete: „Sage das nicht, mein Freund! Du darfst die
Sehnsucht nach dem Höchsten nicht mit solchen Worten abtun. Ein
Jahr, ein Tag der Liebesgemeinschaft ist mit einem ganzen
Menschenleben nicht zu teuer bezahlt. Sie (die Frau, von der die
beiden reden, die gerade ihren Ehemann verloren hat) besaß es
doch einmal, was so köstlich ist! Und wonach mancher in bangem
Sehnen vergebens fleht!" Vor der Leidenschaftlichkeit, mit der
das gesprochen war, verstummten die beiden Fahrtgenossen vollends."
Humorloser Kitsch. Und wo
das Buch humorvoll sein will, geht der Witz durch den zu
umständlichen Stil verloren.
Reaktionen, Gefühle, Gedanken, Wahrnehmungen sind immer übertrieben, undifferenziert: Gegrummelt wird nur finster, gelacht wird immer schallend. Gespräche verlaufen oft unnatürlich, willkürlich in die Richtung gebogen, die der Autor haben möchte. Und so geht das über mehr als 700 Seiten. Und zum Leidwesen des Lesers ist einer der beiden Protagonisten literarisch sehr gebildet: Es wimmelt nur so von Shakespeare-Zitaten und Homer-Bildern. Er lernt seine Braut kennen, indem die beiden sich mit aufeinander bezogenen Zitaten unterhalten, ausschließlich, über ein ganzes langes Gespräch.
Reaktionen, Gefühle, Gedanken, Wahrnehmungen sind immer übertrieben, undifferenziert: Gegrummelt wird nur finster, gelacht wird immer schallend. Gespräche verlaufen oft unnatürlich, willkürlich in die Richtung gebogen, die der Autor haben möchte. Und so geht das über mehr als 700 Seiten. Und zum Leidwesen des Lesers ist einer der beiden Protagonisten literarisch sehr gebildet: Es wimmelt nur so von Shakespeare-Zitaten und Homer-Bildern. Er lernt seine Braut kennen, indem die beiden sich mit aufeinander bezogenen Zitaten unterhalten, ausschließlich, über ein ganzes langes Gespräch.
Aber ich habe in dem Buch
vieles über die Lebensumstände im Lübeck des 19. Jahrhunderts
erfahren. Einiges wird in dem Roman sehr detailliert beschrieben, für
den Handlungsverlauf sogar störend detailliert. Für mich ist das
aber interessant, weil ich ja genau das suche: Wie sah Lübeck zu
Zeiten Johann Anton Grimms aus? Da hat mir der Roman vieles gegeben,
auch wenn unser Ahn schon 1828 gestorben ist und einer früheren
Generation angehörte. Beispielsweise erfährt der Leser, als an
einer Stelle die sogenannten Kollegien erwähnt werden, ganz genau,
worum es dabei geht, wie viele und welche Kollegien es in Lübeck
gab und wie sie entstanden sind. Das interessiert den Leser nicht,
mich dagegen hat es sehr interessiert, weil ich weiß, dass Johann
Anton einem dieser Kollegien angehört hat. An anderer Stelle wird
der Leser, der eigentlich wissen möchte, wie die Handlung
weitergeht, über viele Seiten durch die Marienkirche geführt wie in
einem Reiseführer. Oder auch die geradezu museumsmäßige
Beschreibung eines historischen Türklopfers, über die ein normaler
Leser möglichst schnell hinwegliest, weil sie den Fortlauf der
Handlung unterbricht – mich interessiert sie. Ich schreibe sie hier
mal exemplarisch auf:
"Er führte ihn durch den
nebligen Dezemberabend, durch mancherlei Straßen bis an die
Ägidienkirche. Plötzlich machte er vor einer Haustür halt
(Handlung wird abgestoppt): „Sieh hier, ein
schmiedeeiserner Klopfer, der in den Zeiten der Hanse die federnde
Hausglocke von heute ersetzte. Daneben am andern Türflügel ein
fester Griff von ganz gleicher Form. Der Klopfer hängt beweglich in
einer Angel und liegt mit seinem Kolben auf einem eisernen Amboss."
Damit hob er den Klopfer ab, legte ihn aber sachte zurück auf das
Widerlager: „Ein Schlag gäbe ein donnerndes Getöse (Bei Ewers
kann ein Getöse nur donnernd sein) durch das Haus, und wir
bekämen Streit, wollten wir es wecken. Die Klopfer sind alle im
Ruhstand. Nur einer ist meines Wissens noch im Gebrauch. Dort
drüben." Er führte Norrmann über den Kirchenplatz und stieg,
ehe Fritz (das ist Norrmann) etwas einwenden konnte, eine
Steintreppe hinauf, schwang den Klopfer aus blankem Messing und ließ
ihn auf das Messinglager dröhnen, so dass Fritz erschrak, als der
Widerhall dumpf im Innern des Hauses grollte. (Der Widerhall
grollt, und das unbedingt dumpf.) Im nächsten Augenblick ...
(und hier geht die Handlung weiter.)"
Ich werde das in meiner
Beschreibung von Johann Anton Grimms Lübeck verwenden, und wenn ich
schon nichts mit dem mittelalterlichen Türklopfer anfangen kann,
dann wenigstens mit der federnden Hausglocke.
Und noch etwas Zweites in
dem Buch hat mir geholfen, mich meinem Ururur zu nähern: Das
Lübecker Plattdüütsch. Der Roman ist zwar Hochdeutsch geschrieben,
aber viele Gespräche sind auf Platt. Und das ist ja ganz
offensichtlich die vorwiegend gesprochene Sprache gewesen, auch die
der vornehmeren Kaufmannsfamilien, deren Angehörige gern ins Platt
fielen, vor allem in emotional aufgeladenen Situationen. Auch die
Buddenbrooks sprechen Platt, wenn sie wütend oder ungeduldig oder
sonstwie aufgeregt sind oder sich plötzlich über etwas freuen. Die
vornehmen Kaufleute redeten allerdings gern auch Französisch, nach
wie vor die Sprache der feinen Gesellschaft. Bei Gefühlsausbrüchen
in vornehmeren Kreisen wurde dann Platt und Französisch vermischt.
„Je, de Düwel ook, c'est la question, ma très chère demoiselle!"
Mit diesen zornigen Worten der alten Konsulin an die Enkelin beginnen
die „Buddenbrooks“.
Thomas
Mann: Die Buddenbrooks, 1901
Wenn man sich mit dem
Leben der Kaufleute im Lübeck des 19. Jahrhunderts beschäftigen
möchte, dann kommt man an den „Buddenbrooks" (1901) nicht
vorbei: ein Muss. Zwar beginnt die Handlung erst 1835 – und
erstreckt sich über vierzig Jahre bis zum Tod von Thomas und Hanno
1875, übrigens Thomas Manns Geburtsjahr –, aber die Lebens- und
Arbeitsatmosphäre der Kaufmannsfamilien dürfte sich seit den
napoleonischen und nach-napoleonischen Zeiten, in denen unser Johann
Anton schwedischer Konsul war, noch nicht wesentlich verändert
haben, auch wenn wir davon ausgehen müssen, dass Thomas Mann in dem
Roman seine Erlebnisse und Erfahrungen der 1880er- und frühen
1890erjahre verarbeitet hat. Ich denke, dass, da so viel
Familienbiografisches in dem Buch steckt, die Schilderungen
historisch stimmig sind. Zwar ist Thomas Manns Vater, das Vorbild
Thomas Buddenbrooks, nicht wie dieser 1825, sondern 1840 geboren,
aber beispielsweise wurde auch die Mannsche Firma – 1790 – von
einem aus Rostock zugewanderten Kaufmann gegründet, als „Joh.
Siegm. Mann, Commissions- und Speditionsgeschäfte". Und wie die
Buddenbrooks waren die Manns niederländische Konsuln.
Der Roman vom „Verfall
einer Familie", wie es im Untertitel heißt, eine Allegorie auf
den Niedergang einer Epoche, ein zentrales Thema bei Thomas Mann,
ebenso wie die Zerrissenheit zwischen kaufmännisch-nüchternem
Realitätssinn und künstlerisch-verspielten Träumereien, wie sie
etwa in dem Gegensatz Thomas-Christian, aber auch in Thomas selber
zum Ausdruck kommen – ähnlich wie in der zwei Jahre später
erschienenen Novelle „Tonio Kröger" –, das sind die Dinge,
die mich weniger an dem Buch interessieren, so eindrucksvoll das auch
zum Ausdruck kommt. Was mich viel mehr an der Lektüre reizt und auch
diesmal wieder begeistert hat, sind die höchst anschaulichen,
plastischen, lebensechten Darstellungen – und der ironische, freche
Witz.
Allein schon die berühmte
Szene von der „Revolutschon" 1848. Nicht die März-Aufstände
sind hier übrigens gemeint, sondern Unruhen, die es in Lübeck im
Oktober gegeben hat: Die Bürgerschaft hat mit großer Mehrheit einen
Senatsvorschlag angenommen, dass das ständische Wahlrecht zugunsten
eines allgemeinen Wahlrechts geändert werden solle, was etliche
Handwerksgesellen auf die Straßen trieb, weil sie die Einführung
der Gewerbefreiheit und damit das Ende der Zunftpflicht befürchteten,
also eigentlich eine ganz rückwärtsgewandte Einstellung. Diese
Gründe für die Unruhen spielen im Roman aber gar keine Rolle. Da
geht es nur um die jungen Handwerksburschen, die sich lärmend und
brüllend vor dem Haus versammeln, in dem die Bürgerschaft tagt. Die
Abgeordneten sind wütend (aus dem alten Konsul Kröger kommt es
„ganz tief heraus, kalt und schwer": „Die Canaille."
Er möchte eigentlich seine Kalesche kommen lassen, um nach Hause zu
fahren, was ja nun nicht geht), viele sind verängstigt, sie
überlegen schon, ob sie über Dachluken fliehen sollen – was sie
übrigens realiter tatsächlich getan haben. Da nimmt Konsul Johann
Buddenbrook, ein allgemein recht beliebter Patrizier, die Sache in
die Hand, geht vor die Tür und redet die unruhige Menge so an: „Lüd,
wat is dat nu bloß für dumm Tüg, wat Ji da anstellt!" Die
Menge beruhigt sich und hört zu: „Dat's Kunsel Buddenbrook! Holl
din Mul, Krischan, hei kann höllschen fuchtig warn!" Und der
sucht sich einen seiner eigenen Lagerarbeiter heraus („mit krummen
Beinen, ... die Mütze in der Hand und den Mund voll Brot") und
spricht ihn an: „Nu red' mal, Corl Smolt! Nu is' Tied! Ji heww hier
den leewen langen Namiddag bröllt." Der stammelt kauend:
„Dat's nu so 'n Saak ... öäwer ... Dat is nu so wied ... Wi
maaken nu Revolutschon." – „Wat's dat för Undög, Smolt!",
erwidert Buddenbrook und beendet ein kurzes sich anschließendes
Gespräch mit der Frage: „Smolt, wat wull Ji nu eentlich! Nu seggen
Sei dat mal!" Antwort: „Je, Herr Kunsel, ick seg man bloß:
wie wull nu 'ne Republike, seg ick man bloß ..." Buddenbrook:
„Öäwer du Döskopp ... Ji heww
ja schon een." - „Je, Herr Kunsel, denn wull wi noch een."
Natürlich wissen es die meisten Umstehenden besser, viele lachen.
Das Ganze entspannt sich, und Buddenbrook sagt in die Menge: „Na
Lüd, ick glöw, dat is nu dat Beste, wenn ihr Alle naa Hus gaht."
Die Menge löst sich langsam auf. Und Buddenbrook hält Corl Smolt
noch zurück: „Smolt, seg mal, hast du den Krögerschen Wagen nich
seihn, de Kalesch' von Krögers vorm Burgtor?" - „Jewoll,
Herr Kunsel! De is kamen." - „Schön; denn loop man fixing
hin, Smolt, un seg tau Jochen, hei sall mal 'n beeten rannerkommen;
sin Herr will naa Hus." - „Jewoll, Herr Kunsel!" „Und",
so heißt es weiter, „indem er seine Mütze auf den Kopf warf und
den Lederschirm ganz tief in die Augen zog, lief Corl Smolt mit
breitspurigen, wiegenden Schritten die Straße hinunter." Das
ist das Ende der „Revolutschon".
Oder
diese Szene: Die mittlerweile 30-jährige Tony Buddenbrook leidet
unter den regelmäßigen geistlichen Versammlungen mit frömmelnden
Pastoren und Missionaren, die ihre Mutter abhält, welche nach dem
Tod ihres Mannes plötzlich religiös geworden ist. Ein Missionar
namens Jonathan, weit herumgekommen, „ein Mann mit großen,
vorwurfsvollen Augen und betrübt herniederhängenden Wangen"
tritt vor Tony hin und fordert sie mit
trauriger Strenge zur Entscheidung der Frage auf, ob ihre gebrannten
Stirnlocken sich eigentlich mit der wahren christlichen Demut
vereinbaren ließen ... Ach! er hatte nicht mit Tonys spitzig
sarkastischer Redegewandtheit gerechnet. Sie schwieg während
einiger Augenblicke, und man sah, wie ihr Hirn arbeitete. Dann aber
kam es: „Darf ich Sie bitten, mein Herr Pastor, sich um
Ihre eigenen Locken zu kümmern?!"
... Und hinaus rauschte sie, indem sie die Schultern ein wenig
emporzog, den Kopf zurückwarf und trotzdem das Kinn auf die Brust
zu drücken suchte. – Und Pastor Jonathan besaß äußerst wenig
Haupthaar, ja, sein Schädel war nackt zu nennen!
Personenbeschreibungen,
immer voller kleiner Bosheiten: Lehrer sind nur „Kammgarnröcke",
meist ungepflegt, Hosen zu kurz. (Erinnert mich an meine eigene
Schülerzeit, in der ich Lehrer fast nur in abgetragenen grauen Anzügen
auftreten sah, irgendwo immer ein Kreidefleck. Was habe ich selber
als Lehrer immer meine Hände saubergerieben, wenn ich ein Stück Kreide aus der
Hand gelegt habe!) Oder: „Friederike war mit den Jahren immer
hagerer und spitziger geworden", und wenn sie etwas Frommes
sage, etwa vom Wiedersehen im Jenseits, dann tue sie das, „wobei
sie die Hände fest im Schoße zusammenlegte, die Augen niederschlug
und mit ihrer Nase in die Luft stach."
Grobleben, ein
Buddenbrookscher Speicherarbeiter, „an dessen magerer Nase zu jeder
Jahreszeit beständig ein länglicher Tropfen hängt, ohne jemals
hinunter zu fallen". Er kommt als Gratulant zu einer Taufe ins
herrschaftliche Haus, „bringt Blumen und hält, während der
Tropfen an seiner Nase balanciert, mit weinerlicher und
salbungsvoller Stimme eine Ansprache", die nach längeren
Ausführungen in der Quintessenz gipfelt: „... tau Moder müssen wi
Alle warn, wi müssen all tau Moder warn, tau Moder ... tau Moder
...!" Wohlgemerkt eine Taufe. (Als ich übrigens diese Zeilen
schreibe, putze ich mir zweimal kräftig die Nase.)
Köstlich auch die Szene,
in der der Besuch des biederen, kleinbürgerlichen, direkt-offenen
Münchner Hopfenhändlers Permaneder bei den großbürgerlichen,
vornehmen, ss-teifen Buddenbrooks in deren Villa in Lübeck
beschrieben wird. Das Hausmädchen kündigt ihn so an: „Je, Fru
Kunsel, doar wier 'n Herr, öäwer hei red' nich dütsch un is ook
goar tau snaksch." (gar zu sonderbar) „Herr Buddenbrook",
sagt der statt „Herr Senator" oder mindestens „Herr
Konsul", oder er sagt gar „Herr Nachbohr", wobei das
Dienstpersonal vor Schreck zusammenzuckt und sich verfärbt.
Eigenartigerweise
übrigens wird Lübeck auf allen knapp 800 Seiten nicht ein einziges
Mal mit Namen genannt, es heißt immer nur „die Stadt", einmal
die „Hafenstadt". Das ist umso erstaunlicher, als alles andere
namentlich präzise erwähnt wird, die Umgebung wie Travemünde,
Büchen, Hamburg, Holstein, Mecklenburg usw., auch die Trave, ja
selbst die Straßen und Gebäude, die es alle gibt oder gab.
Einerlei, es geht um Lübeck.
Post scriptum:
Für
den plattdeutschen Dialekt lohnt sich die Lektüre von Fritz Reuter
(1810 – 1874), mecklenburgisches Platt, zu dem auch das Lübecker
Platt gehört. „Dörchläuchting“ (1866) und „Ut de
Franzosentid“ (1859) sind die beiden Romane, die ich gelesen habe:
Sehr amüsant, und auch für mich lesbar, der ich kein Platt spreche.
Beide Romane spielen in der Zeit Johann Anton Grimms, wenn auch nicht
in Lübeck, sondern weiter östlich im Mecklenburgischen. So wie für
mich Ludwig Thoma bei der bairischen Mundart und bei der Darstellung
des Lebens im oberbayerischen Schleching meines Opas Watscheder um
1900 hilfreich war, so war es Reuter beim Platt und bei der
Darstellung des Lebens und der Sichtweisen in und nach der Zeit der
napoleonischen Besetzung.
Lübeck
1814
Kurze Beschreibung der
freien Hanse-Stadt Lübeck
mit besonderer Hinsicht auf ihre nützlichen Anstalten,
zunächst für Freunde und Reisende bestimmt,
nebst einem Plane der Stadt.
Lübeck, bei M. Michelsen. 1814
mit besonderer Hinsicht auf ihre nützlichen Anstalten,
zunächst für Freunde und Reisende bestimmt,
nebst einem Plane der Stadt.
Lübeck, bei M. Michelsen. 1814
So lautet der zeitgemäß umständliche Titel eines Stadtführers aus dem Jahr
1814. Dieses Buch ist ein unverhoffter, einmaliger Fund, für mich
absolut großartig, ein Juwel, beschreibt es doch die Stadt im
Zustand und aus der Sicht des Jahres 1814, eines Jahres, in dem
Johann Anton Grimm, damals 58-jährig, in Lübeck gelebt hat –
Goethe wurde in dem Jahr 65 und schrieb an seinem „West-östlichen
Divan", und Beethoven, 44 Jahre alt, erlebte im Februar die
Uraufführung seiner 8. Symphonie. „Es ist der erste Versuch",
so heißt es im Vorwort, „alle das Nützliche, dessen diese Stadt
sich rühmen darf, einmal zusammen zu stellen. Man verzeihe es dem
Patriotismus des Verfassers, wenn er wünscht und hierdurch zu
befördern sucht, dass auch Auswärtige dieses Gute kennen und
ehren." Und in der „Nachschrift" lesen wir, das Buch
liefere „ein treues Gemälde der neuesten Einrichtung und
Verfassung Lübecks", und der Autor schmeichele sich, dass es
„auch für Einheimische nicht ohne mannigfaltiges Interesse seyn
werde", also auch für Kaufmann Grimm. Hat der sich diesen
Stadtführer gekauft, etwa in der Buchhandlung Michelsen, dem
Verleger und – wie ich vermute – Verfasser, der ungenannt
bleibt, in der Alfstraße 2?
In allen Einzelheiten
wird in dem Buch „zunächst" (heute würden wir sagen „vor
allem") „für Freunde und Reisende" die Stadt Lübeck
beschrieben: die Stadtteile, die Straßen, die damals noch drei
existierenden „Thöre" (heute sind es nur noch zwei), die
Kirchen, die Umgebung, dann die „Anstalten" (Einrichtungen)
wie Schulen (das bekannte Gymnasium Katharineum mit Listen
sämtlicher Lehrer sowie Schülerzahlen der vergangenen Jahre),
Krankenhäuser, Stifte, Poststationen („Posten"), Konsulate,
Gasthäuser und viele mehr, weiter das Berufsleben, die zwölf
„Collegien" (das waren die ständisch organisierten
Berufsgruppen, Gilden), die alte, jetzt gerade wieder hergestellte
Verfassung, und so weiter und so weiter, Stand: August 1814.
1814, das war das Jahr
unmittelbar nach den Wirren des als Befreiung empfundenen Endes der
siebenjährigen französischen Besatzung: Im März 1813 hatten sich
die Franzosen, nach der verheerenden Niederlage gegen das Zarenreich
(„Krieg und Frieden"), aus Lübeck zurückgezogen. Doch schon
sechs Wochen später waren die Dänen, die auf französischer Seite
kämpften, in Lübeck einmarschiert in der Hoffnung, sich nach einem
Endsieg Napoleons ganz Holstein mit Lübeck einverleiben zu können.
Auch die Franzosen waren noch einmal wiedergekehrt, bis schließlich
die schwedische Armee, als Vertreterin der alliierten Streitkräfte,
im Dezember 1813 die Franzosen und Dänen endgültig aus Lübeck
vertrieben hatte – die schwedische Armee unter Kronprinz Carl
Johann, also unter niemand anderem als Jean Baptiste Bernadotte. Und
genau das war das Kuriose daran: Lübeck wurde im Dezember 1813 von
exakt demselben Befehlshaber befreit wie sieben Jahre zuvor besetzt:
Im Dezember 1806 war Lübeck von französischen Truppen eingenommen
worden – unter Marschall Bernadotte.
Dies alles war geschehen,
während der Verfasser an dem Stadtführer schrieb. Das Buch steht
auch sichtbar unter dem Eindruck dieses Kriegsgeschehens und der
französischen Fremdherrschaft. Und diese Sicht muss auch die Sicht
unseres Johann Anton gewesen sein. Er hat die gesamte Franzosenzeit
über in Lübeck gelebt, und als Händler hat auch er unter den
wirtschaftlichen Auswirkungen der Politik Napoleons gelitten, unter
den Steuern und Abgaben, unter der Kontinentalsperre, der
Wirtschaftsblockade gegen England. England war immer schon einer der
wichtigsten Handelspartner der Stadt gewesen. Kein Wunder: Das
Wirtschaftsleben Lübecks lag 1814 danieder, es fehlte das Geld, um
die im Hafen vor sich hin rottenden Schiffe zu reparieren, und große
Teile der Stadt waren kaputt. Aber voller Optimismus schreibt der
Autor über den Handel: „Leider haben die Zeitumstände einen
nachtheiligen Einfluss auf mehrere dieser Erwerbszweige geäussert.
Doch leuchtet jetzt die freundliche Hoffnung einer neuen Thätigkeit."
(S. 180)
Dieser historische
Reiseführer aus der Zeit Johann Antons ist mir in den Schoß
gefallen wie die Sterntaler dem armen Mädchen im Walde durch
einfaches Aufhalten seines Hemdes: Ich habe nicht lange danach in
Bibliotheken und Antiquariaten gesucht, sondern ich habe nichts
anderes gemacht als im Internet den Namen „Johann Anton Grimm"
zu googeln, und – klick! – innerhalb von Sekunden hatte ich das
Buch vollständig vor mir auf dem Bildschirm, denn: Mein Ahnherr
wird darin dreimal namentlich genannt. Die „Bayer.
Staatsbibliothek" („Bibliotheca Regia Monacensis") hat
uns Glücklichen des digitalen Cyberspace-Zeitalters den Gefallen
getan, diesen Schatz ins Internet zu stellen.
Ich könnte das Buch
antiquarisch erwerben – allerdings für nicht unter 140 Euro bei
Amazon, ein Exemplar sogar für 280 Euro; bei anderen Anbietern habe
ich es überhaupt nicht gefunden. 140 Euro, das ist nicht ohne, und
ich bin wohl nicht bibliophil genug, um diesen Preis zu zahlen, nur
weil darin dreimal der Name meines direkten Vorfahren steht. Und
lesen kann ich es auch auf dem Computer – und auf dem Smartphone,
bequem in der S-Bahn.
Viele Informationen über
die Stadt meines Ahns habe ich diesem Buch entnommen, selbst
Nebensächliches wie die Farben der Straßenschilder. Höchst
detailliert die Beschreibungen. Hier einige Beispiele: Sämtliche
Straßenzüge der Stadt – heute Altstadt – werden angegeben, in
vollständigen Sätzen ausformuliert, so die „Fleischhauerstrasse,
Joh.Q. (Johannisquartier), vom Marien-Kirchhofe Südseite,
ostwärts nach der Wakenitz zu. Durch die Königstr. und
Schlumacherst. (kein Druckfehler) wird sie, wie die ihr
parallellaufenden Gassen, in die obere, mittlere und untere
eingetheilt", oder die „Johannisstrasse, Joh. und Jac.Q., vom
Marien-Kirchhofe bei der Kanzelei (im Rathaus) abwärts nach
der Wakenitz zu.“
Die Johannisstraße ist
so gut beschrieben, dass ich auf Grund dieser Beschreibung erkennen
kann: Es handelt sich um die heutige Dr.-Julius-Leber-Straße. Den
Namen Johannisstraße gibt es nicht mehr, die Straße wurde 1946
nach dem SPD-Politiker umbenannt, der im Januar 1945, noch kurz vor
Kriegsende, im Zusammenhang mit dem gescheiterten Attentat auf Hitler
vom 20. Juli 1944 hingerichtet worden war.
Ich sagte, alle Straßen
der Stadt sind in ihrem Verlauf beschrieben ... außer: „Einige
andere Namen, z.B. der kleinen Twieten am Markte, anzuführen,
verbietet die Anständigkeit." (S. 21) Diskreter Hinweis des
Stadtführers für die „Mannslüüt“, wo gewisse „nützliche
Anstalten“ zu finden waren.
Oder hier die
wohlwollende, das Kapitel „Kirchen und merkwürdigste Gebäude"
abschließende Darstellung des Gesamteindrucks des Stadtbildes:
"Auch die Bauart einiger
Privathäuser zeichnet sich durch Eleganz und reinen neuern
Geschmack aus. Im Ganzen sind alle Häuser durchaus hell, mit guten
Treppen, geräumigen Dielen und Vorplätzen, welche häufig wie
Zimmer gemalt und meublirt sind. Einige der ausgezeichnetsten Häuser
findet man in der Breitenstrasse (Dr. Schetelig, erinnere ich),
der Königstrasse, besonders in der Nähe der Jacobi Kirche, hinter
der Kanzlei, in der Johannisstrasse, der Holsteinstrasse, auf der
Parade (Senator von Evers), und an mehreren Plätzen.
Ueberhaupt geben die geräumigen Gassen, die massiven Mauern, die
hellen Farben der Häuser, ihre Bauart, (alle neuern, selbst in
kleinern Strassen, haben platte Giebel, zum Theil mit Statuen oder
Vasen geziert,) die hin und wieder gepflanzten Bäume, der Stadt ein
freundliches und heiteres Ansehen. Auch sind die zum Theil grossen
und gut angelegten Gärten, welche sich bei einigen Häusern,
besonders in der Königstrasse, untern Johannisstrasse,
Aegydienstrasse, der Parade u.s.w. befinden, keine geringe
Annehmlichkeit. – Die ehemaligen, der Gesundheit sehr
nachtheiligen, Kellerwohnungen verschwinden immer mehr und mehr,
und die geringe Volksklasse wohnt meistens in den zahlreichen
Gängen, die besonders in einigen Strassen sehr häufig sind, in
andern gar nicht angetroffen werden. – Ihrer Bestimmung wegen für
den Kaufmann sind die mehrsten Häuser hoch, mit vielen Böden zu
Waaren, und meistens mit gewölbten Kellern versehen; manche haben
Speicher in den Höfen, und fast die mehrsten eigne Hinterhäuser
zu allerhand häuslichen Benutzungen (getrennt: Benuz-zungen)." (S. 71f.)
Historisch interessant zu
lesen die Zerstörungen, vor allem außerhalb der Stadt und an den
Mauer- und Schanzenanlagen. Zum Beispiel hier:
"Dort fließt die
Delvenau, welche vermittelst 10 Schleusen bis Lauenburg die Schiffe
führt. Sie ist für die innre Schiffahrt sehr wichtig (bis
heute eine wichtige Binnenschiffverbindung zwischen Lübeck und
Elbe, heute der Elbe-Lübeck-Kanal), aber 1813 durch
Versenkungen ruinirt. Von der durch Frankreich verheissenen
Verbesserung ist nichts geschehen, als einige Vermessungen."
Oder hier:
"Ausserhalb der Trave ist
die Stadt von einem hohen, mit schönen Alleen und Anpflanzungen
verzierten Walle umgeben, vom Mühlenthore (existiert heute nicht
mehr) bis zum Burgthore, nahe am Holsteinthore (sic) mit
doppelten Courtinen (Kurtinen, in heutiger Schreibweise, sind die
Mauern zwischen zwei Bastionen; doppelte Kurtinen sind also
doppelte Mauern). Doch seit 1806 (der Eroberung Lübecks
durch die Franzosen unter Bernadotte) sind alle Befestigungen an
den Thören, nebst verschiedenen Festungsthürmen und Thorgewölben
weggenommen, und in bepflanzte Spaziergänge verwandelt (Lübeck
sollte sich nicht noch einmal gegen die Franzosen verschanzen
können; 1813 umgekehrt); ein Theil derselben sind unter den
Kriegsunruhen 1813 besonders im November (Befreiung Lübecks durch
schwedische Truppen, wieder Bernadotte) ganz abgehauen, andre
sehr verwüstet; ein trauriges Andenken des Krieges. Auch wurden
damals die steinernen Barrieren und Gitter niedergebrochen, und
dafür grosse Schanzen, enge Brücken und Pallisadenthöre angelegt
(Zwangsarbeit der Lübecker Bevölkerung), wodurch alles
Freundliche unsrer Stadteingänge verschwand." (S. 3ff.)
Hier ein
aufschlussreicher Absatz über die Einwohnerzahlen Lübecks in der
Zeit nach den napoleonischen Kriegen:
"Die Anzahl der Einwohner
wird sehr verschieden angegeben. Gaspari, Stein, Galletti schätzen
sie auf 32,000 in der Stadt selbst, und mit deren Gebieten auf
45,000. Bei der französischen Zählung von 1811 wurden 25,526
Einwohner der Stadt angegeben. Der Wahrheit am nächsten kömmt
wohl die Angabe: früherhin 30,000, späterhin 28,000, jetzt wohl
22-23,000, da viele Einwohner ihren Wohnort auf eine Zeitlang
verlassen haben, und die Fremden (Franzosen?) weggezogen
sind." (S.170)
Johann Anton hat seinen
Wohnort nachweislich nicht „auf eine Zeitlang verlassen".
Seine Söhne waren dagegen in Riga, im Russischen Reich.
Jetzt komme ich zu dem
Abschnitt, der wichtig ist, was Johann Anton Grimm betrifft: zum
Abschnitt über die Post. Damals gab es für dieses Wort den Plural
„die Posten", und das mit gutem Grund: Wenn wir heute einen
Brief oder ein Paket aufgeben möchten, egal wohin, dann gehen wir
zur Post, geben unseren Brief oder unser Paket ab, bezahlen, und
fertig. Vor zweihundert Jahren war das anders: Wenn man einen Brief
oder ein Paket aufzugeben wünschte, dann musste man erst einmal
darüber nachdenken, wohin der Brief oder das Paket sollte. Davon
nämlich hing es ab, wohin man zu gehen hatte, um den Brief oder das
Paket „expediren" zu lassen. Das wird hier im Buch sehr genau
beschrieben:
"Für die Kaufmannschaft,
so wie für alle, dienen auch die Posten, deren also hier sogleich
Erwähnung geschehen kann.
Es giebt auch hier fahrende und reitende. Die meisten werden expedirt im Schütting in der Mengstrasse dem Schüsselbuden gerade gegen über, nemlich nach Hamburg, Eutin, Holstein, Dännemark, Pommern, Preussen, Schweden.
Nur eine fahrende Post nach Ratzeburg und ins Hannöversche, auch nach Hamburg, mit einem bedeckten Wagen, hat eine eigne Expedition, jetzt in der Königstrasse zwischen der Wahm- und Aegydienstrasse Joh. Qu. Nro. 739 (18) bei dem Postmeister Hr. Tidow.
Auch die reitende sogenannte kaiserliche oder Reichspost des Fürsten von Thurn und Taxis, welche Briefe durch ganz Deutschland u.s.w. ins südliche Europa mitnimmt, geht ab von dem Hause in der Königstrasse neben der Johannisstrasse
Jac. Qu. Nro. 549." (S. 151f.)
Es giebt auch hier fahrende und reitende. Die meisten werden expedirt im Schütting in der Mengstrasse dem Schüsselbuden gerade gegen über, nemlich nach Hamburg, Eutin, Holstein, Dännemark, Pommern, Preussen, Schweden.
Nur eine fahrende Post nach Ratzeburg und ins Hannöversche, auch nach Hamburg, mit einem bedeckten Wagen, hat eine eigne Expedition, jetzt in der Königstrasse zwischen der Wahm- und Aegydienstrasse Joh. Qu. Nro. 739 (18) bei dem Postmeister Hr. Tidow.
Auch die reitende sogenannte kaiserliche oder Reichspost des Fürsten von Thurn und Taxis, welche Briefe durch ganz Deutschland u.s.w. ins südliche Europa mitnimmt, geht ab von dem Hause in der Königstrasse neben der Johannisstrasse
Jac. Qu. Nro. 549." (S. 151f.)
Dann wird die
„Mecklenburgische fahrende und reitende Post" erwähnt,
danach: „Eine ehemalige fahrende Stadtpost auf Hamburg, welche ihr
Comtoir hinter dem Markte unter dem Rathause hatte, ist seit dem 1.
Jun. 1814 wieder unter Direction des Hrn. Neeser eingerichtet."
Und jetzt kommt's:
"Auch seit dem Sommer
1814 geht eine schwedische Postjacht wöchentlich Mittwochs von
Travemünde nach Ystadt. Die Anmeldung geschieht bei dem
Schwedischen Consul Hr. Grimm, Johannisstr., als Schwed.
Post-Director." (S. 152)
Der besseren Übersicht
halber werden die einzelnen Poststationen am Ende des Buches noch
einmal aufgeführt in dem Abschnitt „Einige Notizen, besonders für
Fremde." Da liest man dann auf Seite 238:
"Die Berliner reitende
Post, mit Briefen nach Boitzenburg, ganz Preussen, Russland, Sachsen
und Oesterreich geht ab: Dienstags und Freitags Mittags; kömmt an:
Montags und Donnerstags Nachmittags. Im Schütting.
Die Schwedische
Postjacht geht im Sommer wöchentlich Mittwochs von Travemünde
nach Ystadt. – Postdirector Hr. Agent Grimm, Johannisstrasse.
Die fahrende Post nach
Eutin geht ab: Dienstags ..." und so weiter.
Weiter oben findet man in
demselben Abschnitt „Einige Notizen, besonders für Fremde"
auch „Consuls und Agenten fremder Höfe". Und da liest man
dann diesen Eintrag auf Seite 229:
"Königl. Schwedischer
Consul, Hr. Johann Anton Grimm, mittlere Johannisstr."
Johann Anton Grimm war
also als schwedischer Konsul auch schwedischer Postdirektor,
zuständig für den Postverkehr nach Schweden. Und 1814 ging, so
erfahren wir in dem Stadtführer, jeden Mittwoch eine Postyacht von
Travemünde nach Ystad ab.
Ab 1815 fuhr die Yacht
sogar zweimal die Woche, wie man aus folgender Notiz Johann Antons
ersehen kann, die im Lübecker Archiv einzusehen ist, ein
Originalpapier, ganz offenbar von ihm selber geschrieben mit seiner
schwungvollen Unterschrift, ein vergilbendes Stück Papier, das ich
nur mit weißen Schutzhandschuhen anfassen darf:
"Vom 1 Juny an werden,
solange die Schiffahrt offen ist, Post=
jagden zweymal wöchentlich zwischen Ystadt, Travemünde
und Lübeck regelmäßig ankommen und abgehen.
Das Porto für die Briefe die mit denselben nach Schweden
und Norwegen abgesandt werden ist 18 ßC, nach Finnland
27 ßC Lübs für das Briefloth. Für diejenigen Briefe
aber die über Helsingborg („durch die dänischen Staaten“, wie es in einer Abschrift heißt, also auf dem Landweg) versandt werden sollen,
bleibt das Porto 1 Taler Species Banco für das Brief=
loth. Königl: Schwedisches Norwegisches Consulat
zu Lübeck d. 27 May. 1815
Joh: Anton Grimm"
jagden zweymal wöchentlich zwischen Ystadt, Travemünde
und Lübeck regelmäßig ankommen und abgehen.
Das Porto für die Briefe die mit denselben nach Schweden
und Norwegen abgesandt werden ist 18 ßC, nach Finnland
27 ßC Lübs für das Briefloth. Für diejenigen Briefe
aber die über Helsingborg („durch die dänischen Staaten“, wie es in einer Abschrift heißt, also auf dem Landweg) versandt werden sollen,
bleibt das Porto 1 Taler Species Banco für das Brief=
loth. Königl: Schwedisches Norwegisches Consulat
zu Lübeck d. 27 May. 1815
Joh: Anton Grimm"
Kleiner Exkurs zu den
Einheiten: Lot war eine für Briefe damals verwendete Gewichteinheit
und hatte in den vielen deutschen Ländern unterschiedliche Werte. In
Lübeck entsprach das alte Brieflot heutigen 15,2 Gramm.
Wahrscheinlich galt aber 1815 schon das neue Lot, und das entsprach
heutigen fünfzig Gramm.
Ein fünfzig Gramm
schwerer Brief nach Schweden kostete also 18 Lübische Schilling
Courant, das sind in etwa 1,50 €. Interessant, denn zur Zeit
kostet ein 50-Gramm-Brief der Deutschen Post nach Schweden ebenfalls
genau 1,50 €.
Auf dem Landweg über
Helsingborg waren für einen 50-Gramm-Brief drei Taler fällig, das
waren 48 Schilling, in heutige Währung umgerechnet vielleicht knapp
vier Euro, also deutlich mehr als mit der Yacht auf dem Seeweg.
Einen kleinen Einblick
übrigens in die Arbeits- und Sorgenwelt des in schwedischen Diensten
stehenden Postdirektors bekommt man bei der Lektüre dieses
Schriftstücks, das ich ebenfalls im Stadtarchiv gefunden habe, in
Johann Anton Grimms originaler, gestochen scharfer kalligraphischer
Handschrift. Es handelt sich um ein Beschwerde-Schreiben an den
Lübecker Senat (die vier Bürgermeister und sechzehn Ratsherren),
in dem der Postdirektor sein Befremden darüber äußert, dass dem
Buchdrucker Borchers untersagt worden sei – wohl vom Senat –,
eine Anzeige in die Lübecker Zeitungen „einzurücken“, die für
die Seepost nach Schweden wirbt. Vor der Beschwerde eine genaue
Darstellung, warum die Schiffsverbindung nach Skandinavien für die
Stadt von großer Bedeutung sei:
"Es
ist unstreitig eine für die hiesige Stadt und das hiesige Post=
amt sehr einträgliche Sache, daß hieselbst königl. Schwedische Nor=
wegische Postjagden wöchentlich zweymal regelmäßig an=
kommen und abgehen und die Briefe und Paßagiere
zwischen Schweden und hier hin- und her bringen. Das
hiesige Post=amt erhält dadurch eine sehr bedeutende An=
zahl von Briefen zu expediren, welche sonst auf andere
Wegen befördert worden und die Stadt gewinnt hiedurch
und durch die Verzehrung der Paßagiere und Schiffs=
Equipage, ohne auf die andere Seite auch nur den aller=
mindesten Schaden zuhaben; dies und der Gewinn,
der durch schnellere und wichtigere Beförderung der
Briefe auf diesem Wege der Handlung erwächst, liegt
auch klar am Tage.
Von der königlichen Regierung ist mir dahero anbe=
fohlen worden, die Expeditionen dieser Post zu leiten,
und darüber die anliegende Bekanntmachung in den
öffentlichen Blättern einrücken zulaßen. Die In=
serierung dieser Bekanntmachung ist auch bereits
in den hamburgischen und andere öffentlichen
Zeitungen nicht verweigert worden, nur die dem
Buchdrucker
amt sehr einträgliche Sache, daß hieselbst königl. Schwedische Nor=
wegische Postjagden wöchentlich zweymal regelmäßig an=
kommen und abgehen und die Briefe und Paßagiere
zwischen Schweden und hier hin- und her bringen. Das
hiesige Post=amt erhält dadurch eine sehr bedeutende An=
zahl von Briefen zu expediren, welche sonst auf andere
Wegen befördert worden und die Stadt gewinnt hiedurch
und durch die Verzehrung der Paßagiere und Schiffs=
Equipage, ohne auf die andere Seite auch nur den aller=
mindesten Schaden zuhaben; dies und der Gewinn,
der durch schnellere und wichtigere Beförderung der
Briefe auf diesem Wege der Handlung erwächst, liegt
auch klar am Tage.
Von der königlichen Regierung ist mir dahero anbe=
fohlen worden, die Expeditionen dieser Post zu leiten,
und darüber die anliegende Bekanntmachung in den
öffentlichen Blättern einrücken zulaßen. Die In=
serierung dieser Bekanntmachung ist auch bereits
in den hamburgischen und andere öffentlichen
Zeitungen nicht verweigert worden, nur die dem
Buchdrucker
(neue
Seite)
Buchdrucker Borchers Einrückung derselben
in den hiesigen Anzeigen, ist nach der Äußerung deßelben
zu meinem nicht geringen Befremden untersagt worden.
Da nun dies vielleicht aus Mißverständniß
geschehen, so ersuche ich Ew. Hochedlen Senat dem
Buchdrucker Borchers anzubefehlen, diese Bekannt=
machung in den hiesigen Anzeigen sogleich einzurücken
oder mir die Ursachen mitzutheilen, warum solches
nicht geschehen dürfe, damit ich der königl. Schwedisch=
Norwegischen Regierung hiervon die erforderliche
Anzeige ungesäumt machen könne.
Mit der vollkommensten Hochachtung habe ich
die Ehre zu beharren
Buchdrucker Borchers Einrückung derselben
in den hiesigen Anzeigen, ist nach der Äußerung deßelben
zu meinem nicht geringen Befremden untersagt worden.
Da nun dies vielleicht aus Mißverständniß
geschehen, so ersuche ich Ew. Hochedlen Senat dem
Buchdrucker Borchers anzubefehlen, diese Bekannt=
machung in den hiesigen Anzeigen sogleich einzurücken
oder mir die Ursachen mitzutheilen, warum solches
nicht geschehen dürfe, damit ich der königl. Schwedisch=
Norwegischen Regierung hiervon die erforderliche
Anzeige ungesäumt machen könne.
Mit der vollkommensten Hochachtung habe ich
die Ehre zu beharren
Ew. Magnificenz
und Wohlgebohrene!
Ergebenster
Joh. Anton Grimm
Joh. Anton Grimm
Lübeck d. 2 Juny 1815."
(Vollendetes Deutsch ist
das nicht gerade.) Wie diese Sache ausging, habe ich leider nicht
herausgefunden.
Neben seiner Tätigkeit
als Speditionskaufmann und Postdirektor betrieb Johann Anton Grimm
auch eine Seifenfabrik, jedenfalls bis zur französischen Besetzung,
so steht es in Wihelm Grimms „Lebensskizzen“, so auch in den
Lübeckischen Adress-Büchern, in denen seine Seifenherstellung von
1798 bis 1805 erwähnt ist.
Für das Jahr 1798 finde
ich seinen Namen als Seifenproduzent auch an anderer Stelle, nämlich
im
Fabriken- und
Manufacturen-Addreß-Lexicon
von Teutschland und einigen angränzenden Ländern
oder
Verzeichniß der Fabrikanten und Manufacturisten dieser Länder,
der Waaren, die sie verfertigen, und welche Messen sie damit beziehen.
Nach den Waaren alphabetisch geordnet, und mit kurzen Erläuterungen
zur Kenntniß derselben begleitet.
Ein Kaufmännisches Comptoir-Buch.
Weimar,
zu haben im privil. Industrie-Comptoir.
1798.
von Teutschland und einigen angränzenden Ländern
oder
Verzeichniß der Fabrikanten und Manufacturisten dieser Länder,
der Waaren, die sie verfertigen, und welche Messen sie damit beziehen.
Nach den Waaren alphabetisch geordnet, und mit kurzen Erläuterungen
zur Kenntniß derselben begleitet.
Ein Kaufmännisches Comptoir-Buch.
Weimar,
zu haben im privil. Industrie-Comptoir.
1798.
Da liest man auf S. 229
unter dem Titel „Seife“:
"Seife, grüne, oder
schwarze, oder Schmierseife, wird aus Rüböl, Fischthran,
schlechten Talg und Aschlauge bereitet. Die Fabriken liefern diese
Seife in Tonnen nach dem Gewichte, und zwar zu
… Lübeck: 1) Johann
Anton Grimm. 2) Daniel Friedrich Lehmann. 3) Samuel Friedrich
Maasch. 4) Hieronym. Johann Pohlmann. ..."
Johann Anton Grimm war
1798 also einer von vier Seifenherstellern in Lübeck. Im Stadtführer
von 1814 lese ich:
"Die vorzüglichsten
Fabriken sind … (es wird eine Reihe von Manufakturen genannt)
... fünf Seifensiedereien zu grüner und weisser Seife, wovon zwei
ausserhalb des Burgthores liegen." (S. 177)
1814 gab es also sogar
fünf Seifensiedereien. Mein Ahn gehörte da wohl nicht mehr zu den
Betreibern.
Seifensiederei, das wird
es wohl eher gewesen sein, was Johann Anton Grimm hatte, nicht das,
was wir heute unter einer Fabrik verstehen. Von einer großen
Seifenfabrik, wie es sie später in Lübeck durchaus gegeben hat, ist
nirgends die Rede.
Seifensiedereien waren
kleine Werkstätten. Auf zeitgenössischen Bildern sieht man große Fässer und Wannen, die über offenen Feuern
oder Öfen dampfen und um die herum Männer in Schürzen stehen und
mit langen Holzpaddeln im Seifensud rühren. Manche Wannen waren im Boden eingemauert und wurden vom Untergeschoss aus beheizt.
Seife wurde aus
tierischem Unschlitt, Talg, Knochenfett, Schmalz hergestellt. Diese
Fette wurden mit Pflanzenölen vermischt – damals wohl eher Rapsöl
(„Rüböl“) als die heute üblichen Kokos-, Palm- oder Olivenöle
– und mit Wasserdampf aufgeheizt und geschmolzen. Dieser Sud wurde
mit Pottasche und Waschsoda versetzt, und durch allerlei weitere
chemische Prozesse entstand dann feste Seife, Schmierseife,
parfümierte Seife, „grün und weiß, oder schwarz". Geschmolzene Tierfette
... es muss in diesen Werkstätten rechtschaffen gestunken haben!
Ich lese:
"Die beim Sieden
erhaltene zähflüssige Emulsion, der Seifenleim, wird mit Kochsalz
versetzt. Durch Aussalzen trennt sich die Emulsion in den
aufschwimmenden Seifenkern, der die Natriumsalze der Fettsäuren
enthält, und in Unterlauge, mit der überschüssigen Lauge,
Glycerin und dem gelösten Kochsalz. Der Seifenkern wird durch
Abscheidung von der Unterlauge getrennt und mit reichlich Wasser und
etwas Lauge aufgekocht, um die restlichen Verunreinigungen
herauszulösen. Erneute Aussalzung führt dann zur Kernseife. Das
Produkt wird in Blöcken getrocknet, die Blöcke entweder zu Quadern
aufgeschnitten oder grob gemahlen, das Mahlgut mit Farb-, Duft-,
Füllstoffen angeteigt, auf Walzstühlen kalandriert und ausgewalzt.
Die Bänder werden anschließend in einer Heißpresse stranggepresst
oder extrudiert, und aus dem Strang werden Formen gestanzt und zu
Seifen gepresst."
Verstand Johann Anton
das? Kannte er das Verfahren? War er ein Experte? Ich vermute, er
kannte zwar das Verfahren, war aber kein Experte. Er vertrieb die
Seife als Händler, er war kein Handwerker. Warum er so eine
Manufaktur aufgebaut oder übernommen hat? Ich denke, weil sie Geld
einbrachte, ganz einfaches kaufmännisches Prinzip.
Fortsetzung von dem
Zettel, auf dem erklärt wird, warum Kind Eduard Wilhelm Tielemann,
mein Ururgroßvater, in Riga geboren wurde und nicht in Lübeck.
Ich schlendere gemächlich
unter hohen, alten Bäumen an der „Kanal-Trave“ entlang auf die
Mühlenbrücke zu, wo früher das Mühlentor gestanden hat. Es ist
frühlingsmild, leichter und beständiger Regen rauscht auf meinen
Schirm, die Luft herrlich blüten- und erdgesättigt. Hinter der
Brücke mache ich einen kleinen Umweg um den Mühlenteich, ich habe
genug Zeit. Schließlich wende ich meine Schritte aber doch in
Richtung Dom. Ich möchte heute noch einmal ins Archiv. Unter den
Blüten der Bäume vor dem Gebäude springe ich gut gelaunt die
Stufen zur Glastür hinauf.
Oben im Lesesaal, den
Schirm habe ich draußen im Flur zum Trocknen aufgespannt, lasse ich
mir von einer wieder anderen Bibliothekarin (oder Archivarin?) noch
einmal den dicken Karteikasten (Nr. 112 „Greveman“ bis „Griver“)
geben. Ich suche die Karteikarte vom 21. Oktober 1794, finde sie,
hole sie heraus, lese wieder „verte“ – jetzt weiß ich, was es
bedeutet – und drehe die Karte um. Da steht – und ich wiederhole
hier die Vorderseite:
Vorderseite: Grimm Johann
Anton 1794
Kauffmann Okt. 21
Kauffmann Okt. 21
„Auf Verlangen und
Consens des Herrn Pastor
Peter Hei rich Petersen, ist dieses Beygefügtes Zettel
dieses Kirchenbuch eingeschrieben“ ….
„Der Herr Grimm ist diesen Sommer mit seiner
Ehe-Frau zum Besuch nach Riga gereiset gewe=
sen, zur See hat sie sich nicht Begeben wollen,
und zu Lande hat sie nicht reißen können, weil in
der umliegenden Gegend diesen Sommer Unruhen
ausgebrochen, sie also ihre Niederkunft (verte,)
N. Jak 7/6 S 176, 198 a V
Peter Hei rich Petersen, ist dieses Beygefügtes Zettel
dieses Kirchenbuch eingeschrieben“ ….
„Der Herr Grimm ist diesen Sommer mit seiner
Ehe-Frau zum Besuch nach Riga gereiset gewe=
sen, zur See hat sie sich nicht Begeben wollen,
und zu Lande hat sie nicht reißen können, weil in
der umliegenden Gegend diesen Sommer Unruhen
ausgebrochen, sie also ihre Niederkunft (verte,)
N. Jak 7/6 S 176, 198 a V
Rückseite: „.. in Riga
gehalten.“
Dazu 1 Zettel: „Ich bitte meinen Sohn, der auf meine
Reise in Riga d.“ 18 September alten, und 29 Septem=
ber neuen Kalenders gebohren und den 29 September
alten, und 10 October neuen Kalenders getaufft, und
den Nahmen Ed. Wilh. Tielemann erhalten, im
Kirchenbuch einzuschreiben. Gevattern hat er in
allen 27 gehabt, wovon die Hauptgevattern ge=
wesen: der würklich Commercienrath H. B. T.
v. Hückelhoven [sein Großvater] Hr. Joh. Friedr. von
Hückelhoven und Hr. Burchard Johann Zuckerbecker
[seine Oncles] und seine Großtante, Frau Aelte=
sten Gerdrute Stuardt geb. Haffstein.“
Joh. Anton Grimm
Mutter Nahme ist: Catharina Grimm
geb. v. Hückelhoven.
Dazu 1 Zettel: „Ich bitte meinen Sohn, der auf meine
Reise in Riga d.“ 18 September alten, und 29 Septem=
ber neuen Kalenders gebohren und den 29 September
alten, und 10 October neuen Kalenders getaufft, und
den Nahmen Ed. Wilh. Tielemann erhalten, im
Kirchenbuch einzuschreiben. Gevattern hat er in
allen 27 gehabt, wovon die Hauptgevattern ge=
wesen: der würklich Commercienrath H. B. T.
v. Hückelhoven [sein Großvater] Hr. Joh. Friedr. von
Hückelhoven und Hr. Burchard Johann Zuckerbecker
[seine Oncles] und seine Großtante, Frau Aelte=
sten Gerdrute Stuardt geb. Haffstein.“
Joh. Anton Grimm
Mutter Nahme ist: Catharina Grimm
geb. v. Hückelhoven.
27 Paten? Donnerwetter!
War das üblich in Riga in reichen Kaufherrenfamilien? Sonst waren
doch höchstens drei Paten der Normalfall. Aber die vier
„Hauptgevattern“ sind ja vielleicht auch die üblichen Paten
gewesen.
Grammatik und
Rechtschreibung sind grauenvoll. Ich nehme an, der kleine
Angestellte, der die Angaben Johann Antons nachlässig auf die
Karteikarte schrieb, ist der Schuldige: „der auf meine Reise …
gebohren“, „in allen“ statt „in allem“, auf der Vorderseite
„dieses Beygefügtes Zettel“, „Hei rich“, Oktober mal mit k,
mal mit c. „Nahme“, „gebohren“, „getaufft“, Kauffmann“
waren wohl gängige, zumindest mögliche Schreibweisen.
Ich fasse zusammen und
hoffe, dass meine Interpretation so stimmt:
Am 21. Oktober 1794 –
Datum oben rechts auf der Vorderseite – gibt der Vater – V unten
rechts auf der Vorderseite – an, warum das Kind am 29. September
(nach mitteleuropäisch gregorianischem Kalender und nicht russisch
julianischem Kalender) in Riga geboren und am 10. Oktober ebendort
getauft wurde mit Nennung der Hauptpaten und der Mutter. Er hat darum
gebeten („auf Verlangen“), diese Angabe in ein Lübecker
Kirchenbuch einfügen zu lassen, und das ist im Konsens mit Pastor
Petersen geschehen. Oder hat der Pastor das verlangt?
Ein anderes Dokument:
Im „Bürger Eyd=Buch
Ao. 1763 bis Ao. 1800“ – nur mit weißen Baumwollhandschuhen
anzufassen – lese ich auf Seite 305 unter der Überschrift „Ao.
1789 d. 22 Mai“ (kalligraphische Handschrift) an zweiter Stelle von
sieben an dem Tag: „Joh. Ant. Grimm ein Kaufmann“.
Bereits eine Woche davor,
am 14. Mai desselben Jahres, so wird auf einer Karteikarte erwähnt,
ist Johann Anton Grimm zum Bürger der Stadt Lübeck ernannt worden.
Auf der Karte steht dieser Akteneintrag:
Grimm, Johann Anton
Kaufmann
1789 Mai 14 Bürger
Gebühr (fehlt)
Bürgen: Johann Christian Rohde
Johann Friederich Ulff
Bürg. Ann. B. 1633 ff. S. 103i
Kaufmann
1789 Mai 14 Bürger
Gebühr (fehlt)
Bürgen: Johann Christian Rohde
Johann Friederich Ulff
Bürg. Ann. B. 1633 ff. S. 103i
Gegen eine – unbekannte
– Gebühr ist unser Ahn also am 14. Mai 1789 Bürger der
Hansestadt geworden, ein oder zwei Jahre nach seinem Zuzug aus Riga.
(Noch in einer Aktennotiz von 1788 finde ich ihn als „Kaufmann von
Riga“.) Für diesen Akt zur Erlangung der Bürgerrechte brauchte
man zwei Bürgen, hier die beiden Herren Rohde und Ulff. (Zweimal
finde ich ihn übrigens später selber als Mitbürgen.) Der
entsprechende Eid, den er geleistet hat, ist mit Datum vom 22. Mai
1789 zusammen mit sechs anderen in das Bürgereid-Buch eingetragen
worden.
Zum Schluss lasse ich mir
die Aktenübersicht der Schonenfahrer-Kompanie aushändigen, eine
thematisch, leider nicht chronologisch, geordnete Sammlung aller
erhaltenen Aktenvermerke dieser Kaufmannsgilde ab 1378. Für die
Jahre 1788 bis 1828 finde ich alles mögliche über Maßnahmen,
Geschäfte, Beschwerden, Rechtsstreitigkeiten, sogar über
Aktivitäten mit Schweden und der schwedischen Post. Aber der Name
Grimm taucht nicht ein einziges Mal darin auf. Wenn er also Mitglied
der Schonenfahrer war und als solches regelmäßig den prachtvollen,
stolzen Schütting an der Ecke Fünfhausen/Mengstraße betrat, dann
geht das aus diesen Akten nicht hervor.
Und Akten der Lübecker
Handelskammer, aus denen Wilhelm Grimm, wie er in seinen
„Lebensskizzen“ schreibt, die Information hat, dass Johann Anton
ein Schonenfahrer und sogar deren Ältermann war, solche Akten gibt
es nicht, denn die Lübecker Handelskammer wurde 1853 ins Leben
gerufen, existierte also erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts,
jedenfalls unter diesem Namen. Welche Akten Wilhelm Grimm meint, in
denen er das mit der Mitgliedschaft im Schonenfahrer-Kollegium hat,
ist mir nicht klar.
Die
Reederei
Johann Antons Sohn Eduard
Wilhelm Tielemann, der Bürgermeister, gründete zusammen mit seinem
Schwager John Helmsing 1836 in Riga die Reederei Helmsing &
Grimm. Von dieser Reederei finde ich irgendwo im Internet, dass sie
über hundert Jahre später, 1940, nach Danzig umzog und sich nach
dem Zweiten Weltkrieg in Hamburg niederließ. 1961 beging man ein
125-jähriges Jubiläum. Ob es da noch irgendeinen Helmsing oder
Grimm in der Firmenleitung gab? Und heute? Gibt es die Reederei noch?
Es wäre ja schon nicht uninteressant, die Geschichte dieses
Unternehmens etwas genauer zu erfahren, auch wenn das mit Johann
Anton direkt nichts zu tun hat.
Bei uns in Hamburg kennt
man Gröninger. Gröninger ist ein beliebtes Restaurant, beliebt auch
deswegen, weil es sein eigenes Bier braut. Ein schönes, neo-barockes
Haus, leider an der brutal verkehrsdonnernden, die Altstadt
zerschneidenden Ost-West-Straße, Ecke Brandstwiete, in unmittelbarer
Nähe zum alten „Spiegel"-Gebäude; heutige Adresse: nicht
mehr Ost-West-, sondern Willy-Brandt-Straße 47.
Man kennt Gröninger, man
kennt aber nicht das Asia-Haus gleich nebenan, Willy-Brandt-Straße
49. Zu Unrecht: Das Asia-Haus ist ein gut erhaltener und gepflegter
Bau aus der Jahrhundertwende mit einer feinen Jugendstil-Fassade. Man
beachtet sie kaum, weil man in der Regel mit dem Auto auf der
sechsspurigen Ost-West-Straße daran vorbeisaust.
Ich betrete
ehrfurchtsvoll das Haus und gelange in eine weite, großzügige
Eingangshalle, heller Lichthof, freundlich, gediegen, mit dem Charme
des Alten: gelegentlich kleine Risse im dezent farbigen
Jugendstil-Boden, typisch hamburgisch, nämlich unaufdringlich
vornehm. (Englisches Understatement. Ist Hamburg englisch? No.) Nur
zwei Firmen in dem fünfstöckigen Gebäude. Ein Bürohaus mit
dieser alt-gediegenen, zurückhaltend vornehmen Ausstrahlung, was
für Firmen können in so einem Hamburger Haus nur untergebracht
sein? Reedereien.
Ich suche die Reederei
Helmsing & Grimm GmbH & Co. Wenn man diesen Namen im
Internet sucht, findet man ihn in mehreren Portalen angegeben als
Reederei mit Sitz in der Willy-Brandt-Straße 49, 20457 Hamburg,
Telefonnummer 337 435, Fax 321 330. Auf der meterhohen
Übersichtstafel in der Eingangshalle sehe ich aber nur „MCS
Germany GmbH" (Untergeschoss bis 2. Stock) und „F.H.Bertling
Reederei GmbH" (3. bis 5. Obergeschoss), jedoch keine Helmsing &
Grimm GmbH & Co. Gehört die vielleicht zu einer der beiden hier
ansässigen Reedereien, vielleicht aufgekauft? Ich wähle auf dem
Handy die Telefonnummer. Keine Antwort. Ich gehe dann durch die große
Glastür zum Empfang der Reederei MSC Germany. Zwei überaus
freundliche Rezeptionistinnen schütteln den Kopf. „Helmsing &
Grimm? Das haben wir hier nie gehört. Aufgekauft? Davon wissen wir
nichts." Die eine schaut gleich auf ihrem Computer-Monitor nach.
„Tatsächlich", murmelt sie überrascht, „unsere Adresse."
Die andere nimmt den Telefonhörer vor sich auf dem Tresen in die
Hand und wählt die Nummer, die auch ich schon kenne. Sie schüttelt
den Kopf. „Nimmt keiner ab." Ich solle doch mal oben bei der
Reederei Bertling nachfragen, vielleicht wüssten die etwas.
Ich steige die breite
Treppe am Lichthof entlang zum dritten Stock hinauf. Die Glastür
dort ist verschlossen, dahinter sehe ich geschäftiges Treiben. Ein
Mann kommt an die Tür. Seine Reaktion wie die der Empfangsdamen
unten bei MCS Germany: Kopfschütteln, nie gehört, Bedauern. Ich
bedanke und verabschiede mich, bin verwirrt. Ich war ja schon
verwundert, dass die Reederei keine Website hat und auch keine
E-Mail-Adresse. Sehr rätselhaft. Eine Briefkastenfirma ohne
Briefkasten? Ich bin hier doch wohl nicht einem windigen
Betrugsunternehmen auf der Spur? Stoff für einen Krimi:
Ahnungsloser Familienforscher gerät zufällig in die Hände von
weltweit agierenden Gangstern.
Ich nehme mir vor, die
Telefonnummer noch mehrmals anzuwählen und auch mal auf den
Anrufbeantworter zu sprechen. Wenn das nichts nützt, faxe ich. Was
kann ich sonst tun? Das Handelsregister abfragen? Um was
herauszufinden? Das, was ich ohnehin schon weiß: Danzig 1940, nach
dem Krieg Hamburg? Oder glaube ich im Ernst, einen Herrn Helmsing
oder gar einen Herrn Grimm anzutreffen? Wohl eher einen Paten.
Drei Monate später:
Nachdem ein freundlicher
junger Mann mir bei der telefonischen Auskunft der Handelskammer
Hamburg mitgeteilt hat, dass er in seinem System keine Reederei
Helmsing & Grimm finden könne, weder eine existierende noch eine
existiert habende, versuche ich es, so empfiehlt es mir der
freundliche junge Mann, auf der Homepage der Handels- und
Vereinsregisterauskunft der Freien und Hansestadt Hamburg. Dort lese
ich dies:
Das Amtsgericht Hamburg
bietet die Möglichkeit, Einsicht in das Handelsregister sowie das
Genossenschafts-, Partnerschafts- und Vereinsregister zu nehmen. Sie
erhalten authentische Daten aus dem amtlichen Register, da die
Recherche auf den Echtdatenbestand zugreift.
Anmeldung: Zur Teilnahme
an der Registerauskunft ist nach der Registrierung beim
Hamburg-Service eine weitere Registrierung beim Amtsgericht Hamburg
erforderlich. Die Nutzung der Registerauskunft ist
gebührenpflichtig.
Lohnt sich das? Ich
beschließe hiermit: Die Reederei Helmsing & Grimm gibt es nicht
mehr.
(Viel später entdecke ich durch einen Zufall, dass "Helmsing & Grimm" einen Artikel bei Wikipedia hat.
Darin steht alles: Mitte 2011 Verkauf der letzten drei Schiffe, Streichung im Handelsregister im März 2012.)
Altstadtspaziergang
Heute ein Besuch der
Altstadtinsel mit Führung. Ziel: Für die Szenarien in den folgenden
Kapiteln die Atmosphäre erahnen, in der Johann Anton gelebt hat.
Jeden Sonnabend wird eine
Führung angeboten, Treffpunkt elf Uhr vor dem Touristenbüro am
Holstentor, acht Euro pro Person, keine Anmeldung nötig. Ich mache
die Führung im März, nur Hamburg hat Schulferien, daher hoffe ich, dass
die Teilnehmerzahl nicht groß ist, werde darin enttäuscht: Ein Pulk
von sechzig, wenn nicht siebzig Menschen wälzt sich hinter dem
älteren Herrn her, der sich redlich bemüht, gegen den uns
umtosenden Straßenlärm am Holstentor anzusprechen.
Natürlich ausführliche
Beschreibung des Tores, Wahrzeichen Lübecks, das Johann Anton sehr
gut gekannt hat. Zu seiner Zeit gab es noch zusätzlich, von der
Stadt aus gesehen gleich hinter diesem Trutz- und Repräsentationsbau,
das „Krumme Tor“, das zweite von ursprünglich sogar drei
hintereinander stehenden Holstentoren. Ich verzichte auf die
touristenführerische Beschreibung. Dafür dies: Johann Anton
erlebte noch Sperrstunden und die Gebühren („Taxen“), die zu
entrichten waren, wenn man durch das Tor in die Stadt hineinwollte.
Im Stadtführer von 1814 lese ich:
"Die Sperre beginnt
jedesmal eine halbe Stunde vor dem eigentlichen Thorschlusse, im
höchsten Sommer um 9½ Uhr, in den kürzesten Tagen um 4½, und
dauert im Sommer bis 12 Uhr. Der Anfang und die Dauer ist am Thore
auf einem Brette angeschrieben, und die Tabelle fürs ganze Jahr in
den grössern Calendern abgedruckt.
Die Taxe ist verschieden, je später die Stunden sind, und vergrössert sich nach 10 und 11, im Winter nach 9 Uhr. So bezahlen
jeder Fussgänger . . . . . . . . . . 2, 3, 4 Schilling
Reuter . . . . . . . . . . . . . . 4, 6, 8 –
leere Wagen mit 2 Pferden . . 4, 6, 8 –
mit mehrern Pferden . . 8, 12, 16 –
Ein Fuhrwerk mit Personen
mit 2 Pferden . . . . . . . . . 8, 12, 16 –
mit 4 Pferden . . . . . . . . .16, 24, 32 –
jedes lose Pferd . . . . . . . . . . 1, – , 2 –"
Die Taxe ist verschieden, je später die Stunden sind, und vergrössert sich nach 10 und 11, im Winter nach 9 Uhr. So bezahlen
jeder Fussgänger . . . . . . . . . . 2, 3, 4 Schilling
Reuter . . . . . . . . . . . . . . 4, 6, 8 –
leere Wagen mit 2 Pferden . . 4, 6, 8 –
mit mehrern Pferden . . 8, 12, 16 –
Ein Fuhrwerk mit Personen
mit 2 Pferden . . . . . . . . . 8, 12, 16 –
mit 4 Pferden . . . . . . . . .16, 24, 32 –
jedes lose Pferd . . . . . . . . . . 1, – , 2 –"
Zwei bis vier Schilling
für das Durchschreiten des Stadttores, dafür bekam man, so lese ich
an anderer Stelle, ein halbes Pfund Butter oder zehn Eier oder ein
Pfund Rindfleisch oder etwas weniger als ein Pfund Schweinefleisch,
das damals teurer war als Rind. Oder – allerdings mit großem
Vorbehalt – in heutiger Kaufkraft der damaligen Währung: Der
Fußgänger bezahlte, je nach Uhrzeit, zwischen rund 1,50 € und 3 € für das Betreten des Weichbildes, ein Reiter zahlte zwischen 3 € und 6 €, und der Kutscher eines Vierspänners, auf dem gute Ware
geladen war, musste zwischen 13 € und 25 € berappen, Geld, das
ihm natürlich von dem Kaufherren, dem die Ware gehörte oder für
den die Ware bestimmt war, erstattet wurde.
Wir folgen dem Führer
hinüber zu den sechs Salzspeichern, den typischen Backsteinbauten
mit den Treppengiebeln, selbstverständlich denkmalgeschützt, und
wir erfahren, dass sie den Beginn des Lübecker Reichtums
symbolisieren: Hier lagerte damals, im 13. und 14. Jahrhundert, das
Salz aus Lüneburg, mit dem die in der Ostsee gefangenen Heringe
haltbar gemacht und in alle Welt verkauft wurden.
Wir gehen die Obertrave
entlang, noch auf der Seite gegenüber der Altstadt, vorbei an der
vollbärtigen, dynamisch und fröhlich – Hut in der Hand – nach
vorn weisenden Bronzefigur, die die meisten für Karl Marx halten,
die aber in Wirklichkeit Johannes Brahms darstellt, nach dem das
Brahms-Institut an der Musikhochschule benannt ist. Hinter einer
Fußgängerbrücke über die Trave betreten wir schließlich die
Altstadt. Blick in das Foyer der Musikhochschule: Frühere
Eingangshalle, „Diele“ genannt, eines Kaufmannshauses. Man sieht
schön in sieben, acht Metern Höhe die Luke, durch die die Waren an
einem Eisenhaken auf den Dachspeicher gehievt wurden; unten war kein
Platz für Säcke, Kisten, Fässer, Ballen.
Die Große Petersgrube
hinauf. Repräsentative Häuserfassaden, hier lebten in der Blütezeit
die ganz Reichen, um 1800 schon nicht mehr. Nirgends sehe ich die
über die Bürgersteige bis an den Kantstein ragenden Haustürtreppen,
die Ludwig Ewers erwähnt, denen man früher über die Fahrstraßen
ausweichen musste, und keine gefährlichen Kellerluken auf den
Gehwegen. Das hat das moderne Sicherheitsdenken abgeschafft. Dennoch
bewegt sich die Besucherherde nur langsam über das Kopfsteinpflaster
die Straße hinauf. Hier ist kein Verkehr, kein Fahrzeug wird durch
uns gestört. Oben stoßen wir auf den Kolk, eine enge Gasse, links
bergauf, rechts bergab.
Bergauf, bergab, das
fällt auf an der Altstadt: Die aus Trave und Wakenitz gebildete
Insel Lübeck – zu Johann Anton Grimms Zeiten noch eine Halbinsel –
ist eine gewölbte Geesthöhe (Endmoränenhügel in einer
Grundmoränenlandschaft), die sich relativ steil erhebt, die höchste
Stelle im Zentrum am Rathausplatz.
Am oberen Ende der Großen
Petersgrube bewegt sich der Trupp langsam rechts den Kolk hinab. Ich
werde von der Gasse links angezogen und gehe hinauf, unterhalb der
Petrikirche, will gleich wieder zurück zu meiner Gruppe. Links ab,
steil bergab wieder Richtung Obertrave, sehe ich die noch engere
Kleine Petersgrube. Ich gehe hinein, stiefele über das grobe
Kopfsteinpflaster. Stille, nur meine Schritte sind zu hören, kein
Auto, kein Fahrrad, kein Mensch. Nur ich in der baumlosen Gasse
zwischen den Hauswänden, die mittelalterlichen Fassaden in gutem
Zustand. Ich fühle mich wie in einem Museumsgang. Beschließe, dass
der Protagonist meiner Szenarien hier in dieser „Twiete“ wohnen
wird, am besten dort unten nahe der Obertrave, so dass er von dort
ins Stadtzentrum die ganze Gasse bergauf gehen muss. Ich gehe nicht
ganz hinunter, will zurück zur Führung, bleibe jedoch stehen vor
einem Toreingang mit einer Spruchtafel darüber (19. Jahrhundert?):
„Il n'est rose sans épine“. Mir fällt dabei ein, dass
Rosen keine Dornen haben, sondern Stacheln, also eigentlich: keine Rose ohne
Stachel. Ein paar Eingänge weiter entziffere ich:
Vhar (?) dine estinge
(?) mit flit (Fleiß),
und truwe godt, De segenet alle tidt.
1587
und truwe godt, De segenet alle tidt.
1587
Bedeutung? Wahre deine Dinge (?) mit Fleiß? Selbst die Fachabteilungen für Mittelniederdeutsch an den Instituten für Niederdeutsch der Unis Kiel und Hamburg, bei denen ich später nachfrage, können den Spruch nicht deuten, und auch nicht der Hamburger Mediävist. Ich vermute ein typisches
Kaufmannsmotto: Den Fleißigen wird Gott segnen (und reich machen).
Ich gehe zurück zum Kolk
und suche meine Gruppe, finde sie leicht, die Herdenwanderung ist
sehr langsam. Der Führer kennt die Tafel mit dem Kaufmannsmotto
nicht, weiß nur das, was er für seine Führungen gelernt hat.
Marlesgrube (die Gassennamen auf -grube waren einstmals wirklich
Abwassergruben zur Trave hin) wieder hinunter, links sehen wir die
„Düstere Querstraße“, die sich weiter hinten fortsetzt in die
„Lichte Querstraße“. Jetzt rechts in einen extrem schmalen Gang
hinein, nur einzeln zu betreten, durch den Toreingang muss man sich
bücken. Wir durchqueren kleine Innenhöfe mit Haustüren in
hübschen, sauberen, hellen Häuschen, Wand an Wand gebaut.
Diese Nebengänge – so
charakteristisch für Lübeck – waren ursprünglich die
Gemüsegärten der Kaufleute. Selbstversorgung war das Übliche. Als
dann später das Gemüse von auswärts in die Stadt gebracht und auf
den Märkten verkauft wurde, verschwanden die Gärten, und die
Kaufleute ließen für ihre Angestellten kleine Häuser bauen. Heute
sind diese Seitengänge trotz ihrer Enge immer noch bewohnt, aber da
die Häuser so klein sind, durchschnittlich 35 Quadratmeter
Wohnfläche, sind es Alleinstehende, die darin leben, Studenten,
kleine Büros sind darin, Ateliers, Töpferwerkstätten. Die meisten
sind in tadellosem Zustand, teilweise eben Touristenattraktionen.
Das waren sie zu Johann Anton Grimms Zeiten aber noch nicht.
Noch etliche weitere
Gassen und Gässchen, viel Backstein und Treppengiebel, aber
überraschenderweise doch nicht alles restauriert. Wir kommen auch
an einigen vernachlässigten, gefährlich bröckelnden Hauswänden
vorüber.
Schließlich, auf der
Höhe des Geestrückens, der Rathausplatz: Hier vor uns die
mittelalterlichen dunklen Rathauswände mit dem Stilbruch des weißen
Renaissance-Anbaus, dort drüben, mächtig und beeindruckend,
wunderschön, die beiden gotischen Backsteintürme der Marienkirche.
Beides Anblicke, die meinem Ahn vollkommen vertraut waren.
Die Führung endet mit
einer Rathausbegehung. Ich verzichte auf eine Beschreibung des
Gebäudeinneren, denn als der Schonenfahrer-Ältermann Grimm im
Rathaus als Bürgerschaftsvorsitzender agierte, sah es, mit wenigen
Ausnahmen, ganz und gar anders aus als heute, nicht die Außenmauern,
aber die Räume im Innern.
Nach der Rathausführung
gehe ich, jetzt allein, hinüber zur Marienkirche. Ich versuche mir
vorzustellen, wie die Kirche auf meinen Vorfahren gewirkt haben
könnte. Sie war der Stolz der Stadt: Im ausgehenden Mittelalter die
größte Kirche an der Ostsee, bis zur Fertigstellung des Kölner
Doms (1880) die Kirche mit den höchsten Doppeltürmen der Welt
(Altstadtführer). Alle Hansestädte hatten ihre
Kirchen nach dem Modell Lübecks gebaut, dieser „Königin der
Hanse".
Ich frage mich: Hat auch
Johann Anton Grimm, der Nicht-Lübecker, Stolz empfunden beim Anblick
dieser Kirche? Als Wismaraner wohl kaum. Aber mit Sicherheit war er so
beeindruckt wie wir Heutigen. Ich denke mir: Wer in irgendeiner
Hansestadt vor der zentralen Kirche stand, in Wismar oder Rostock oder Danzig vor der
Marienkirche – viele Hansestädte
haben sich auch den Lübecker Kirchennamen zum Vorbild genommen –, in Stralsund oder Greifswald vor der Nikolaikirche, in Riga vor der Petrikirche, der bewunderte
die Architektur, aber sagte sich: Die Lübecker haben eine noch
großartigere Kirche, die großartigste überhaupt. Mit diesem
Gefühl der Bewunderung dürfte Johann Anton vor der Kirche
gestanden haben, so wie ich jetzt. Vielleicht Stolz, dass er in der
alten Hauptstadt der Hanse, die eine solche Kirche errichtet hatte,
lebte und arbeitete.
Ein Müllwagen bremst
zischend neben mir im Schüsselbuden (Straßenname, dort wurden im
Mittelalter in Bretterbuden Schüsseln feilgeboten:
Altstadtführerauskunft). Ich trete zur Seite, laut klappernd werden
Mülleimer entleert. Eine Feuerwehrsirene schrillt vorbei, anfahrende
Motoren an der Ampel, ein ungeduldiges BMW-Cabrio hupt wütend einen
Motorroller an, Geschimpfe. Ich verlasse diese Kreuzung vor der
Marienkirche und schlendere die Braunstraße hinunter zur Trave,
hier nicht Ober-, sondern Untertrave. Riesige Baustelle bis zur
Marienkirche hoch, Bagger knirschen brummend und krachend über
Geröll. (Wie ich später erfahre, verwirklicht sich hier, im sogenannten Gründungsviertel zwischen Marienkirche und Unterer Trave, das städtebaulich richtungsweisende Projekt eines Wohn- und Geschäftsquartiers nach historischem Vorbild.) Die Sonne kommt heraus, blaue Flecken im Wolkenhimmel, weiße
Kondensstreifen kreuz und quer in den Wolkenlöchern. Für uns ein
gewohnter Anblick, unbekannt vor zweihundert Jahren.
Ich gehe zum Museumshafen
und spaziere an der Kaimauer an der Trave entlang. Hier war Lübecks
Hafen. Früher muss an dieser Stelle einiges los gewesen sein, hier
wurden die Güter der Ostseewelt umgeschlagen. Sicher viel Lärm,
anderer Lärm als jetzt, denke ich, andere Farben, andere Gerüche.
Ich klappere die paar Segelkutter ab, die den Museumshafen ausmachen,
Hinweisschilder vor den Kuttern: Name des Bootes, Baujahr,
Herkunftswerft, Bauart, Typenname, Betakelung, Eigner, Länge, Höhe
der Masten, und so weiter. Entlang dieser Schiffe braust der Lübecker
Autoverkehr. Ich habe Schwierigkeiten, mir den Hafen von 1800
vorzustellen. Was sah Johann Anton, wenn er hier ging? Was hörte er?
Was roch er? Was empfand er? Was übersah, überhörte er, weil es
Gewohnheit war? Was stieß ihm auf? Was freute ihn, ärgerte ihn? So
tief in die Zeit einzudringen wird mir in den Szenarien kaum
gelingen.
Ich schreibe mir die
Namen der Schiffe auf. Hatte ich mehr von dem Museumshafen erwartet?
Was soll man sich unter einem Museumshafen vorstellen?
Jetzt in die
Fleischhauerstraße. Nach einer Konkordanz im Stadtarchiv ist Haus
Nummer 83 – wo Johann Anton die letzten Jahre seines Lebens gewohnt
hat und gestorben ist – heute die Nummer 51. Ich ahne, dass das
Haus nicht mehr existiert, sehe das schon von weitem bestätigt.
Enttäuscht stehe ich vor einem langweiligen Klinkerhaus der
Fünfzigerjahre, ordentlich, aber die typisch nüchterne,
einfallslose Architektur der Nachkriegszeit. Ich fotografiere das
Haus, weiß aber nicht recht warum. Immerhin, hier ist er täglich
hin und her gegangen.
Parallel zur
Fleischhauerstraße die Dr.-Julius-Leber-Straße, die bis 1946
Johannisstraße hieß. Nummer 25, vor zweihundert Jahren
Johannisstraße 11. Ist dies das Haus, in dem Kaufmann Grimm von 1807
bis 1824 wohnte und sein „Comptoir“ hatte? Oder ist es erst
später gebaut worden? Ein großer, zweistöckiger Bau,
schmuddelig-weiß, klassizistisch (neo?), unter der Dachtraufe eine
Reihe von Akanthusblättern im Wechsel mit kleinen Rosetten. Solche
flachgiebligen klassizistischen Häuser sehe ich mehrfach in Lübeck,
meist renoviert, sauber, schön, dieses dagegen ist ausgesprochen
ungepflegt. Wenn man die Straße hinauf- oder hinabblickt, sieht man
viele gut erhaltene Fassaden, ausgerechnet diese ist es nicht.
Untergebracht in dem Haus ist das „Volkstheater Geisler“, laut
Eigenwerbung „das Original im Herzen der Lübecker Altstadt“.
Zur Zeit spielt „der Komödienerfolg aus Frankreich: Meine Braut,
sein Vater und ich“, demnächst der Schwank „Der keusche
Lebemann“, vor kurzem trat eine Lucy van Kuhl auf, die „exzellentes
Klavierspiel mit kabarettistischem Gesang“ verband, bald gibt es
„Michael Fitz: Liedermaching“.
Frage: Wann wurde das
Haus erbaut? Kannte unser Ahn diese Fassade? Ich versuche die
Eingangstür zum Theater zu öffnen. Verschlossen. Durch das Türglas
sehe ich, alles ist dunkel. Ich suche die Fassade ab, ob irgendwo
eine Jahreszahl zu sehen ist: Nichts, kein Wappen, keine
Relieffigur, kein Sinnspruch, keine Jahreszahl, nichts. Wie kann ich
herausbekommen, aus welcher Zeit das Haus stammt? Rufe ich Herrn
Geisler an, den Betreiber des Theaters? Ich schreibe mir die
Telefonnummer auf. Und sonst? Eine Behörde der Stadt Lübeck? Amt
für Stadtentwicklung? Bauamt, historische Abteilung? Kulturamt?
Denkmalschutz? Ich suche im Handy alle möglichen Ämter der
Hansestadt durch.
Plötzlich geht die
Theatertür auf. Ein etwas linkisch wirkender Mann mittleren Alters
kommt heraus, hantiert ein wenig an den Plakaten herum. Er gehört
offensichtlich zum Theater. Ich gehe auf ihn zu und spreche ihn an.
Seine Reaktion deutlich desinteressiert, fast abweisend: Dort am
Fassadenrand über dem Tor zu einem Nebengang stehe etwas
geschrieben, da könne ich nachlesen. Er verschwindet wieder hinter
der Tür und schließt sie fest zu. Ich finde eine verwitterte Tafel
über dem Tor und lese mit Mühe etwas über den „Abzug des Wassers
aus den Kellern in dieser Gasse und diesem Hause“ und „Anno
MDCCXIV“. Hat das Haus schon 1714 hier gestanden? Unwahrscheinlich,
dann wäre es nicht so klassizistisch.
Jetzt wähle ich die
Zentralnummer der Hansestadt Lübeck: 0451 122 0. Eine
sachlich-nüchterne Frauenstimme stellt mich zum „Amt für
Archäologie und Denkmalpflege“ durch. Ich warte. Dann meldet sich
eine Frau, schätzungsweise zwischen vierzig und fünfzig (Man kann
an der Stimme ein Alter erkennen), noch sachlich-nüchterner, sogar
ungeduldig: „Ja?“ Ich bin zumindest an der richtigen Stelle, und
auf meine Frage sagt die Frau, die offenbar gerade mit etwas
Wichtigerem beschäftigt ist, sie schaue schnell mal nach. Immerhin.
Ich warte, sehr gespannt. Dann, überraschend schnell:
„Dr.-Julius-Leber-Straße 25, gebaut Ende des 18. Jahrhunderts.“
Mein Herz macht einen
Sprung. Ende des 18. Jahrhunderts? Dann ist es Johann Antons Haus! Er
ist am 14. Juni 1807 als Mieter hier eingezogen. Da war das Gebäude
gerade zehn oder zwanzig Jahre alt.
Der kleine Finger wurde
mir gereicht, jetzt will ich den ganzen Arm und frage gleich nach:
„Ist nur die Fassade aus dem 18. Jahrhundert oder auch das Innere?“
Das könne sie mir jetzt nicht sagen, höre ich. Wo ich das in
Erfahrung bringen könne, will ich wissen. Da sei ich schon richtig
im Amt für Denkmalpflege, genauere Informationen seien aber nicht
möglich, werde ich beschieden, wofür ich das denn bräuchte. Ich
erkläre mein bescheidenes Anliegen und erfahre: „Nein, nein,
solche Anfragen sind wir hier nicht in der Lage zu bearbeiten, dafür
haben wir keine Zeit, wir haben anderes zu tun. Ende 18. Jahrhundert,
das muss Ihnen reichen.“
Hätte ich dreist, statt
von meinem kleinen Ahneninteresse zu sprechen, sagen sollen, ich
wolle das historische Gebäude käuflich erwerben und den
ursprünglichen Zustand wiederherstellen? Ich hätte gern gewusst,
welche Auflagen mir das Amt mache und ob ich mit einer fachlichen und
finanziellen Unterstützung für die Restaurierung rechnen könne?
Dazu bin ich zu ehrlich, zu naiv. Macht nichts. Ich weiß jetzt:
Mindestens diese Fassade, sicher in besserem Zustand, kannte er, mein Urururgroßvater.
Und wie sieht das Innere
aus? Ich müsste einmal in das Haus hinein. Aber wie? Warten bis zur
Öffnung der Abendkasse? Da bin ich längst wieder in Hamburg. Und in
die oberen Stockwerke wird mich der so desinteressierte Herr Geisler
ohnehin nicht lassen.
Aber auch das ist nicht
schlimm. Ich vermute sowieso, dass im Hausinneren nichts erhalten
ist, da wird in zweihundert Jahren viel umgebaut worden sein. Wie so
ein Kaufmannshaus innen aussah, das kann ich auch anderweitig
erfahren. Begnüge ich mich damit: Die Fassade war Johann Anton
Grimm vertraut, er wohnte siebzehn Jahre in dem Haus.
Ich gehe jetzt die
Dr.-Julius-Leber-Straße wieder zurück, vorbei an einem türkischen
Gemüseladen, an einem Kiosk, wahrscheinlich auch türkisch. Dann
ein Treffpunkt-Café mit arabischer Schrift auf der
Schaufensterscheibe, mehrere Büro-Eingänge, der Bürgersteig
stellenweise uneben, schadhaft, Schmutz auf dem Boden, leere
Zigarettenschachteln. Langsam fährt ein Lieferwagen die enge Straße
mit dem Kopfsteinpflaster an mir vorbei, biegt ab in die Königstraße.
Ich gehe weiter bergauf zur Breiten Straße und von da rechts zu dem
Abschnitt, in dem die Geschäfte sind, Karstadt, H & M, Nordsee, Back-Factory, Commerzbank, Deichmann, jede Menge
Boutiquen, Fußgängerzone, Einkaufspassage. Ich fühle mich
abgestoßen, kein einziges Altstadthaus, vom prächtigen Bau des Dr.
Schetelig, in dem Prinzessin Josefina genächtigt hat, keine Spur
mehr. Ich könnte mich hier auch in Hannover befinden, oder in
Ingolstadt, oder in Castrop-Rauxel.
Weiter die Breite Straße
hinunter auf der Suche nach dem Haus Nummer 32. Dort, damals
Breitenstraße 702, ist Johann Antons erste Wohnung belegt, dort hat
er bis ca. 1806/07 gewohnt, mindestens ab 1798, wenn nicht seit
seinem Zuzug aus Riga 1787/88. Ich finde einen typischen Bau aus der
Wende zum 20. Jahrhundert, Stuckverzierungen an der Fassade. Das ist
nicht das Haus meines Ahns.
Weiter in die
Fischergrube, wo er kurze Zeit gewohnt hat, bevor er 1807 in die
Johannisstraße gezogen ist. Ich suche jetzt die Hausnummer 50,
früher 333. Diesmal treffe ich auf eine schlichte, schmucklose
Fassade, aber gepflegt. Ob so das Haus vor zweihundert Jahren
ausgesehen hat, bezweifle ich. Aber das Gebäude selber, das sich
hinter der Fassade verbirgt, das könnte in seinem Grundbestand
durchaus aus der Zeit meines Ahns sein. Eine alte Frau, die gerade
die Tür öffnet, um einen auf dem Bürgersteig stehenden Mülleimer
in die Hausdiele zu ziehen, spreche ich an. Auf meine Frage, ob sie
mir etwas über das Alter des Hauses sagen könne, antwortet sie:
„Nein, ich weiß es nicht. Mein Mann sagt immer, drei- bis
vierhundert Jahre.“ Ob ihr Mann da recht hat?
Ich schlendere noch ein
bisschen weiter, um das Altstadt-Flair zu genießen, und komme durch
Straßen wie die Engelsgrube, Engelswisch, Ellerbrook,
Schwönekenquerstraße, Böttcherstraße, Hüxstraße, Depenau,
Dankwartsgrube, Hartengrube, Effengrube, Alfstraße, Mengstraße (die
berühmte mit dem Buddenbrookhaus), Beckergrube, und die vielen
schmalen Seitengänge, die vor sechshundert Jahren Gemüsegärten
waren: Garbereiter-Gang, Zerrahns Gang, Bäcker-Gang, Grüner Gang,
Sievers Thorweg, Lüngreens Gang, und so weiter.
Viel ist erhalten aus der
Zeit, nach der ich suche, viel ist in gutem Zustand, aber einiges
auch marode, einiges verloren. Die Altstadt – dieser Eindruck
meines Besuches bleibt hängen – hat vernachlässigte und
unansehnliche Ecken, aber es gibt viele, viele Stellen, Häuser,
Gassen, Kirchen, Plätze, Durchgänge, Türme, die schön, alt,
gepflegt sind und bei denen ich mir vorstellen kann, dass der
schwedisch-norwegische Generalkonsul und Postdirektor sie vor
zweihundert Jahren genau so gesehen, genau so durchschritten hat.
Szenarien
Nachdem ich bisher in
diesen Aufzeichnungen Material zusammentragen konnte über meinen Ahn und über das Lübeck von vor zweihundert Jahren, möchte ich
jetzt mit Hilfe dieses Materials kleine Szenarien entwerfen. In
diesen Szenarien habe ich vor, Geschichten zu erzählen, kurze
historische Geschichten, und zwar die Geschichten von Besuchen in
Lübeck am Anfang des 19. Jahrhunderts, natürlich beim schwedischen
Konsul und Postdirektor Herrn Grimm in der Johannisstraße Nr. 11.
Das werden Geschichten mit kaum besonderen Handlungen sein, es wird
Gänge geben durch die Straßen und Gassen Lübecks, einen Blick
hier, einen Eindruck dort, Ausrufe und Satzfetzen werden
aufgeschnappt. Ein paar Gespräche werden geführt. Das ist nichts
Dramatisches, nur eben das, was man so erlebt, wenn man mit einem
Anliegen zu jemandem geht … jedenfalls ahnt der spazierende
Besucher nichts Dramatisches.
Diese Geschichten werden,
wie gesagt, Szenarien sein. Ein Szenario beschreibt eigentlich
Zukünftiges, ich werde Vergangenes schildern. Aber es werden eben
Szenarien sein, historische Szenarien, keine historischen
Erzählungen. Das historische Szenario hat gegenüber der
historischen Erzählung einen großen Vorteil: Das Szenario behauptet
nichts, es stellt nur vor. Die historische Erzählung – und das
gilt für jeden Roman über historische Personen und Ereignisse –
tut so, als hätte sich alles so abgespielt, wie es erzählt wird.
Das kann natürlich nicht sein, und Autor wie Leser wissen das auch.
Das heißt aber für den Leser: Er weiß nie, was in der Erzählung
historisch ist und was ausgedacht. Den historisch interessierten
Leser ärgert das, denn wie gut die Geschichte recherchiert ist, weiß
er nicht. Und was der Autor sich ausgedacht hat, interessiert ihn
nicht.
Das historische Szenario
dagegen tut keineswegs so, als wäre alles Erzählte historisch. Das
Szenario stellt nur Möglichkeiten vor. Das Szenario unterbricht
Handlungsabläufe, es reflektiert, es erklärt die Gedankengänge
des Autors, es legt offen, woher der Autor sein Wissen, seine
Vermutungen hat, es spricht Zweifel aus, gibt Alternativen an, usw.
Das Szenario lädt den Leser also ein, den Gedankengängen des Autors
zu folgen, oder aber ihnen auch nicht zu folgen, sie anzuzweifeln,
eigene Vermutungen anzustellen, sein eigenes Wissen einzubringen,
schließlich vielleicht sogar den Handlungsverlauf anders zu
gestalten.
Ich habe diese Form der
historischen Schilderung nicht erfunden. Ich wünschte, ich hätte
es, sie ist fantastisch. Diese Darstellungsform stammt von Dieter
Kühn, zumindest kenne ich sie von ihm. Dieter Kühn ist der letztes
Jahr im Alter von achtzig Jahren verstorbene Schriftsteller, der
eine Biografie Wolframs von Eschenbach geschrieben hat, die ich
mit größtem Interesse gelesen habe, eben auch wegen dieser
Szenarien, die darin verwendet werden.
Mache ich mich jetzt also
an den Entwurf: Ich brauche dafür zunächst einen Protagonisten,
einen Besucher Lübecks. Das werde nicht ich selber sein, ich lebe am
Anfang des 21. Jahrhunderts, nicht am Anfang des 19. Jahrhunderts.
Aber natürlich soll es eine Identifikationsfigur sein, die meiner
modernen Sicht der Dinge möglichst nahe kommt, sagen wir ein
aufgeklärter Rationalist mit einer gewissen Bildung.
Ich wähle eine männliche
Person, wie ich es bin. Er ist kein Lübecker, denn er muss, wie ich,
neugierig sein auf das Unbekannte in Lübeck. Ich lasse ihn aus
irgendeiner Stadt Deutschlands kommen, wo nicht Plattdeutsch
gesprochen wird, das er nur wenig versteht, so wenig wie ich. Er
spricht Hochdeutsch, hat eine gewisse Bildung – warum nicht
Akademiker, Lehrer? Möglichst viel Identifikationsschnittmenge. Ich
lasse ihn einen Lateinlehrer sein, einen promovierten Altphilologen.
(Warum unbedingt promovierter Altphilologe, der ich nicht bin? Das
hat einen Grund. Dazu gleich.)
Er ist noch jung, anders
als ich, etwa Mitte dreißig, ein Collaborator, um diesen Begriff aus
dem 19. Jahrhundert anwenden zu können, Collaborator, „Hilfslehrer“,
der dem Rektor einer Schule hilft. Heute würden wir sagen
Studienrat. Bartfreies, jugendliches Gesicht, dunkelblondes,
halblanges, leicht über die Ohren fallendes Haar, etwas gewellt, Schlupflid-Augen. (So sehe ich mich auf alten Fotos.)
Wie nenne ich ihn? Ich
suche einen für die Zeit typischen Namen und stelle schnell fest,
dass es das nicht gibt: Namen damals und heute unterscheiden sich
nicht. Zufällig lese ich von einem Georg Wilhelm Benrath aus Kassel.
Benrath ein geeigneter Name? Assoziation Studienrat? Rath mit th?
Besser: Der Name lässt an die Benrather Linie denken, die
west-östlich verlaufende Dialektgrenze, an der die von Süden
kommende „Zweite Germanische Lautverschiebung" stehengeblieben
ist, die ober-niederdeutsche Dialektgrenze, die Grenze zwischen
ich-ik, das-dat, Apfel-Appel, machen-maken. Kassel liegt knapp
südlich dieser Linie auf der oberdeutschen Seite. Mein Protagonist
versteht das Niederdeutsche schlecht: Das passt. Nenne ich ihn also
Benrath*. Als promovierter Altphilologe ist er Dr. phil. Benrath,
Collaborator Dr. Benrath aus Kassel.
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* Ich wusste nicht, dass es eine - aus dem Odenwald gebürtige - Lübecker Filmemacherin gibt mit Namen Katja Benrath (Abi 1999 am Katharineum), die jetzt gerade mit ihrem Kurzfilm "Watu Wote - All Of Us" fast einen Oscar erhalten hätte. März 2018
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* Ich wusste nicht, dass es eine - aus dem Odenwald gebürtige - Lübecker Filmemacherin gibt mit Namen Katja Benrath (Abi 1999 am Katharineum), die jetzt gerade mit ihrem Kurzfilm "Watu Wote - All Of Us" fast einen Oscar erhalten hätte. März 2018
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Jetzt fehlen noch die
Anlässe, die Herrn Dr. Benrath nach Lübeck bringen. Ich erfinde
dies: Junglehrer Benrath aus Kassel arbeitet als Collaborator an
einer Hamburger Schule, gern am Johanneum**. Er hat vor, nach Schweden
zu gehen, nach Stockholm, wo ihm eine
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** Das jetzige Gymnasium Johanneum in Winterhude gibt es seit 1529, stand damals allerdings noch als "Latinsche Schole" im Gebäude des vormaligen St. Johannis-Klosters - daher der Name -, an der Stelle, wo heute der Rathausmarkt ist. Sie war "Gelehrtenschule" als Vorbereitung auf ein Universitätsstudium - entspricht dem heutigen Gymnasium - und "Bürgerschule" - aus der später die Realschule hervorging -, letzteres für wohlhabende Kaufmannssöhne als Vorbereitung auf eine Berufsausbildung. Ganz ähnlich übrigens das Katharineum in Lübeck, 1531 gegründet, wie das Johanneum ebenfalls von Johannes Bugenhagen.
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Stelle als Professor an einem Pädagogischen Institut angeboten worden ist. (Dies Anton Joachim Grimm abgeguckt, Sohn Johann Antons, der „Professor der lateinischen Sprache am Pädagogischen Hauptinstitute“ (Wilhelm Grimms „Lebensskizzen“) in St. Petersburg war. Deshalb habe ich Benrath zum promovierten Altphilologen gemacht.) Professor, also ein beruflicher Aufstieg. Von Hamburg aus muss er mindestens zweimal nach Lübeck fahren, um die Reise nach Stockholm vorzubereiten, z.B. muss er die Überfahrt buchen, eventuell dabei auch schon mal das eine oder andere Paket vorausschicken.
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** Das jetzige Gymnasium Johanneum in Winterhude gibt es seit 1529, stand damals allerdings noch als "Latinsche Schole" im Gebäude des vormaligen St. Johannis-Klosters - daher der Name -, an der Stelle, wo heute der Rathausmarkt ist. Sie war "Gelehrtenschule" als Vorbereitung auf ein Universitätsstudium - entspricht dem heutigen Gymnasium - und "Bürgerschule" - aus der später die Realschule hervorging -, letzteres für wohlhabende Kaufmannssöhne als Vorbereitung auf eine Berufsausbildung. Ganz ähnlich übrigens das Katharineum in Lübeck, 1531 gegründet, wie das Johanneum ebenfalls von Johannes Bugenhagen.
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Stelle als Professor an einem Pädagogischen Institut angeboten worden ist. (Dies Anton Joachim Grimm abgeguckt, Sohn Johann Antons, der „Professor der lateinischen Sprache am Pädagogischen Hauptinstitute“ (Wilhelm Grimms „Lebensskizzen“) in St. Petersburg war. Deshalb habe ich Benrath zum promovierten Altphilologen gemacht.) Professor, also ein beruflicher Aufstieg. Von Hamburg aus muss er mindestens zweimal nach Lübeck fahren, um die Reise nach Stockholm vorzubereiten, z.B. muss er die Überfahrt buchen, eventuell dabei auch schon mal das eine oder andere Paket vorausschicken.
Wo kommt Collaborator
Benrath in Lübeck unter? Ich fantasiere: Bei einer alten
Stecknitzfahrerwitwe, die Zimmer in ihrem geräumigen Haus in der
Kleinen Petersgrube an Durchreisende vermietet. Kleine Petersgrube,
die Gasse habe ich mir bei meinem Lübeck-Spaziergang ausgesucht.
Ich muss Stecknitzfahrer
erklären: Die Stecknitz ist das Flüsschen, das, aus der Gegend von
Mölln kommend, bei Lübeck in die Trave mündet. Über die
Stecknitz, weiter südlich die Delvenau, ging ein wichtiger
Binnenschiffweg von Lübeck zur Elbe, also weiter nach Hamburg oder
Lüneburg. Ausgebaut wurde dieser Weg später zum Stecknitzkanal,
heute Elbe-Lübeck-Kanal. Über die Stecknitz ging der für Lübeck
ursprünglich so wichtige Salztransport aus Lüneburg. Mit dem
Lüneburger Salz ist Lübeck im Mittelalter überhaupt erst reich
geworden. Nicht so sehr für den Weiterverkauf hatten die Händler
das „weiße Gold“ gebraucht, sondern zum Haltbarmachen der
Heringe, die die Lübecker in den skandinavischen Küstengewässern
(vor dem schwedischen Schonen, dem norwegischen Bergen) gefangen und
bis nach Nowgorod und Brügge verkauft hatten. Die großen
Salzspeicher neben dem Holstentor zeugen noch heute von diesem
Ausgangspunkt des lübischen Aufstiegs zur führenden Hansestadt im
Mittelalter.
Die Stecknitzfahrer nun
waren die Leute, die in ihren flachen Prahmen – so nannte man ihre
Boote –, angetrieben durch Segel, durch Treideln oder Staken,
diesen Transport durchführten. Ursprünglich die Knechte der
reichen Lübecker Salzhändler, wurden sie später zu den stolzen
Mitgliedern einer eigenen Handwerkszunft. Ihr Zunfthaus – heute ein
Gebäude neueren Datums – stand an der Obertrave, nicht weit von
der Stelle, wo ich das Haus der Stecknitzfahrerwitwe ansiedele.
Soweit also die Ausgangssituation meiner kleinen Geschichten. Jetzt zum ersten Szenario:
Für mein erstes Szenario
frage ich mich: Wann lasse ich es stattfinden? Es könnte eigentlich
jederzeit sein zwischen 1787/88 und 1828, den vierzig Jahren, in
denen Johann Anton in Lübeck lebte. Ich wähle aber zwischen zwei
konkreten Jahren aus, in denen ich ihn ausdrücklich erwähnt finde:
1814, das Jahr, in dem der Stadtführer erschienen ist, oder 1823,
das Jahr von Johann Antons Notiz über die Visite der schwedischen
Königin und der Kronprinzessin „meinen lieben Kindern zur
Nachricht". Diese Notiz wendet sich letztlich auch an mich, auch
ich bin sein Kind, weit entfernt, gewiss, aber doch seinen Namen
tragender direkter Nachkomme. In der Notiz fühle ich mich ihm
näher, ich ziehe also das Jahr 1823 vor. Ist es doch auch das Jahr,
in dem er ziemlich genau mein jetziges Alter hatte, Mitte sechzig.
Mag sein, dass es bis zu
diesem Jahr schon einige kleine Veränderungen seit 1814 gegeben hat,
dem Erscheinungsjahr des Stadtführers, aus dem ich mir etliche
Informationen für das Szenario nehmen werde. Aber ich will
diesbezüglich großzügig sein, schließlich werde ich auch
Informationen aus Romanen verwenden, die weit nach Johann Antons Tod
spielen.
Der erste Besuch wird
also an einem Tag im Jahr 1823 sein. Ich möchte ihn nach dem
Empfang der Königin stattfinden lassen, denn darauf soll Bezug
genommen werden. Aber nicht im Juni, ist doch Katharina, Johann
Antons Frau, meine Urururgroßmutter, am 12. Juni gestorben, keine
zwei Wochen nach der königlichen Durchreise. Die Trauerstimmung
würde mir das Szenario unnötig erschweren. Ich lasse den Besucher
also etwas später erscheinen, sagen wir im September. Es muss noch
im Sommer sein, da die Postyacht nach Ystad, gemäß Stadtführer,
nur im Sommer abgeht, und die Post nach Schweden soll in dem Szenario
eine Rolle spielen. Es sollte demnach auch ein Mittwoch sein, dem
einen der beiden Tage der Post nach Ystad. (Den anderen kenne ich
nicht.)
Wie finde ich einen
Mittwoch im September 1823? Ich suche einen immerwährenden Kalender
im Internet, und ich finde einen unter www.hillschmidt.de. „Die
Tabelle", lese ich dort, „ist dem Salvatorkalender der
katholischen Ordensgesellschaft Societas Divini Salvatoris in der
Schweiz entnommen." Dort finde ich mit wenigen Klicks den 24.
September 1823 als einen Mittwoch.
Jetzt kleide ich Benrath
noch ein. Ich gehe dafür von Bildern der Zeit aus, die es in Hülle
und Fülle gibt - Mode des Biedermeier: Er trägt unter einem hellen Sommermantel – damals
hätte man den wohl Paletot genannt – eine karierte Hose, schwarze
Stiefel, ein farbiges, sagen wir grünes Jackett über einer Weste,
an welcher, aus einem Taschenschlitz heraus, eine silberne Uhrkette
baumelt (nicht golden, dafür ist er noch zu jung) mit einigen
Berlocken daran, Uhrkettenanhängern, die damals bei jungen Männern
beliebt waren. Ein schalartiges Tuch um den Hals, auf dem Kopf ein
heller Filz-Zylinder, die neue Bürgermode. Über der Schulter hängt
eine Ledertasche. (Sagte man Tasche? Hieß es nicht Felleisen? Bei Fritz Reuter finde ich "Mantelsack" und Plattdeutsch "Fellisen", letzteres übrigens nicht "Fell-Eisen", wenn auch so volksetymologisch von den Damaligen empfunden und ausgesprochen, sondern von Französisch "valise" (Koffer), also eigentlich zusammengezogen auszusprechen und auf der zweiten Silbe betont: Felleisen.) In der Tasche birgt er
nicht unerhebliche Barschaften zum Bezahlen der Schiffsreise,
und er hat einen Gehstock. Die Erscheinung dieses Mannes ist nicht
ohne eine gewisse bürgerliche Eleganz, jedenfalls durchaus gepflegt
– anders als die Lehrer in den „Buddenbrooks“.
Das
Paket
Collaborator Dr. Benrath
ist nun in Lübeck. Vor einigen Tagen ist er mit der kaiserlichen
Thurn-und-Taxisschen Postkutsche gekommen, um seine Schiffspassage,
die er für das kommende Jahr plant, zu buchen, zumindest
vorzubereiten und nötigenfalls anzuzahlen. Dazu nimmt er sich vor,
den dänischen Konsul in der Mengstraße aufzusuchen, denn jemand
hat ihm in Hamburg gesagt, dass man zunächst ein Schiff nach
Kopenhagen nehmen müsse, bevor man weiter nach Schweden segeln
könne. In Hamburg hat er sich extra Lübecker Courant-Mark besorgt,
um seine Vorhaben in Lübeck problemlos bezahlen zu können.
Gestern, schon in Lübeck, hat er einige Zeitschriften und Bücher
erworben, die ein Verwandter in Stockholm bei ihm bestellt hat,
andere, die er für sich selber nach Stockholm vorausschicken möchte.
Er hat die Bücher in der Buchhandlung Michelsen in der Alfstraße 2
(Nro. 426 des Quartiers) gekauft, einer Straße entlang des
Rathausmarkts, in einer Buchhandlung, „wo vorzüglich
Vollständigkeit, Schnelligkeit der Besorgung und Eleganz jeden
Besuchenden befriedigen werden", wie es auf Seite 142 des
Lübecker Stadtführers von 1814 heißt, ... des Stadtführers, der
von eben jenem M. Michelsen verlegt wurde. Natürlich ist Benrath im
Besitz dieses Stadtführers, aus dem er auch die Adresse des
dänischen Konsuls Herrn Platzmann in der Mengstraße Nr. 5 kennt.
Es ist der Morgen des 24.
September 1823, ein eher kühler Spätsommertag, ein leichter Wind
geht durch die Stadt, über den Himmel ziehen weiße Wolken. Der
junge Collaborator steht vor dem Hause seiner Wirtin in der Kleinen
Petersgrube unweit der Obertrave und verabschiedet sich von ihr. Er
ist ausgehbereit, trägt Paletot und Hut, in der rechten Hand einen
einfachen Spazierstock. Über der linken Schulter hängt eine
Ledertasche gut gefüllt mit Geldmünzen, und unter dem linken Arm
hält er ein großes zusammengeschnürtes Paket. Menschen eilen an
den beiden durch die Gasse vorüber. Laute Stimmen dringen aus einem
gegenüberliegenden Haus. Irgendwo schreit ein Kind. Die Luft ist
noch frisch, ein leichter, angenehmer Zug geht durch die Straße,
erst im Laufe des Vormittags wird sich das Quartier mit den Gerüchen
von Holzfeuern und Essen füllen.
„Wohin wollen Sie denn
Ihre Post expedieren lassen?", fragt die ältere Frau und bemüht
sich um ein verständliches Hochdeutsch. (Im frühen 19. Jahrhundert
wurde bereits gesiezt, nicht mehr „geihrt“.) „Das sind
Zeitschriften und Bücher für einen schwedischen Kollegen in
Stockholm", antwortet Benrath.
Die Wirtin, eine Witwe Hansen, will gerade etwas sagen, als mit hart auf dem Kopfsteinpflaster aufschlagenden Hufen und knarrenden, eisenbeschlagenen Rädern ein Pferdefuhrwerk von der Obertrave in die enge Gasse einbiegt, in der die beiden stehen. Mit lautem Krachen ratscht ein Hinterrad an dem Prellstein an der Hausecke entlang. Benrath wendet sich nach dem Lärm um und tritt dann zusammen mit seiner Wirtin in den schmalen Hauseingang, um Karren und Pferd, am Zügel geführt von einem vierschrötigen Mann in grober Kleidung, vorbeizulassen. Er trägt eine abgeschabte Schirmmütze auf dem Kopf. Auch die anderen Passanten springen an die Seite.
„Gaudn Dach, Weetfru Hansen", ruft der Pferdeführer im Vorbeigehen in die Haustür hinein. „Och Barthel", erwidert Witwe Hansen, „ik heff di je nich kennt. Wo geiht't?" – „Gaut, Weetfru Hansen, 't geiht gaut." – „Neihm di in Acht, Barthel, treck dien Schpannwark suutje! Dei Twieten dor baben is heil in'n Dutt." – „Ik weit, uns' Schtraatn sün in'n Moors. Jü, olln Krübbenbieter!" Und schon stiefelt er weiter die Gasse hinauf, das Pferd mit dem rasselnden Fuhrwerk hinter sich herziehend. Witwe Hansen lacht.
Die Wirtin, eine Witwe Hansen, will gerade etwas sagen, als mit hart auf dem Kopfsteinpflaster aufschlagenden Hufen und knarrenden, eisenbeschlagenen Rädern ein Pferdefuhrwerk von der Obertrave in die enge Gasse einbiegt, in der die beiden stehen. Mit lautem Krachen ratscht ein Hinterrad an dem Prellstein an der Hausecke entlang. Benrath wendet sich nach dem Lärm um und tritt dann zusammen mit seiner Wirtin in den schmalen Hauseingang, um Karren und Pferd, am Zügel geführt von einem vierschrötigen Mann in grober Kleidung, vorbeizulassen. Er trägt eine abgeschabte Schirmmütze auf dem Kopf. Auch die anderen Passanten springen an die Seite.
„Gaudn Dach, Weetfru Hansen", ruft der Pferdeführer im Vorbeigehen in die Haustür hinein. „Och Barthel", erwidert Witwe Hansen, „ik heff di je nich kennt. Wo geiht't?" – „Gaut, Weetfru Hansen, 't geiht gaut." – „Neihm di in Acht, Barthel, treck dien Schpannwark suutje! Dei Twieten dor baben is heil in'n Dutt." – „Ik weit, uns' Schtraatn sün in'n Moors. Jü, olln Krübbenbieter!" Und schon stiefelt er weiter die Gasse hinauf, das Pferd mit dem rasselnden Fuhrwerk hinter sich herziehend. Witwe Hansen lacht.
Benrath tritt wieder aus
dem Haus. „Ich wohne ja schon einige Zeit in Hamburg", sagt er
zu der Frau. „Aber Ihre Sprache lerne ich einfach nicht. Was haben
Sie dem Pferdeführer nachgerufen?" – „Ach nur, dass er
sein Fuhrwerk sachte ziehen soll, da oben („baben“) in der
Straße („Twiete“, Gasse) ist das Pflaster ganz kaputt
(„heil in'n Dutt“)." – „Und was hat er geantwortet?“
– „Er hat gesagt, er weiß Bescheid. Er hat sich nur etwas grob
ausgedrückt.“ „In'n Moors“ heißt „im Arsch“. Das sagt
sie aber nicht. Sie sagt nur schulterzuckend: „Fuhrlüütschpraak ("-schprork"), Kutschersprache.“ - "Und was heißt: Jü, olln Krübbenbieter?" Frau Hansen erklärt lachend: "Hü, alter Krippenbeißer. So nennt der Kutscher sein Pferd, das nur mürrisch am Krippenholz nagt statt ordentlich zu fressen. Im Scherz natürlich."
Sie deutet wieder auf das
Paket unter Benraths Arm. „Nach Schweden soll das? Es gibt so viele
Posten hier in Lübeck. Wissen Sie, zu welcher Post Sie gehen
müssen?" – „Mir wurde der dänische Konsul Platzmann in der Mengstraße genannt. Man sagte mir in Hamburg, die Post nach Schweden gehe über Kopenhagen." - "Das war früher, Herr Collaborator. Wir haben heute eine direkte Post nach Schweden. In der Mengstraße befindet sich das Lübische Posthaus, unsere größte Post. Da gibt es eine reitende und eine
fahrende Post nach Schweden. Die reitende ist natürlich schneller.
Aber ich weiß nicht, ob die Ihr großes Paket expedieren wird. Oder
Sie müssen sehr viel für die Expedition zahlen." - "Das Lübische Posthaus?", fragt Benrath. "Ja", antwortet die Frau, "der Schütting, wo oben die Schonenfahrergilde tagt. Unten im Parterre ist die Post. Das werden Sie nicht verfehlen."
"Schütting?" Benrath kennt den Begriff Schütting nicht. „Ein Schütting ist ein Versammlungshaus“, lasse ich die Frau erklären, „und zwar für die Versammlungen der Kaufmannsgilden.“ Benrath möchte wissen, woher dies seltsame Wort kommt. Ich weiß nicht, ob ich einer Stecknitzfahrersfrau im frühen 19. Jahrhundert soviel etymologisches Wortwissen zutrauen kann, die Prahmfahrer auf der Stecknitz zählten zu den „weniger gebildeten Classen", wie ich lese. Daher füge ich für sie ein: Der Begriff stammt aus einem in der Hafenstadt Bergen gesprochenen norwegischen Dialekt („skotting“, später „kjøttstuene“, Bedeutung: „Speisesaal“, wo man „kjøtt“ („schött“) isst, „Fleisch“ – erinnert an die schwedischen Hackbällchen „köttbullar“, ausgesprochen „Schöttbüllar“). Der Schütting war am Anfang des Ostseehandels im Mittelalter der Saal, in dem reisende Händler zu essen bekamen. Später hatte jede Gilde einen eigenen Speisesaal für ihre Mitglieder. In Lübeck gab es mehrere Schüttinge, aber wenn von dem Schütting die Rede war, dann meinte man den Schütting der Schonenfahrer in der Mengstraße 18, Ecke Schüsselbuden und Fünfhausen. Das war ein ansehnlicher klassizistischer Bau mit einem großen Portal und hohen Bogenfenstern im Erdgeschoss, hinter denen die Lübische Post untergebracht war, deswegen, weil das Schonenfahrer-Kollegium für die Verwaltung dieser Post zuständig war. Heute steht das Haus nicht mehr, heute ist dort ein modernes, langweiliges Polizeigebäude. Im Jahr 1900 wurde dort die neugotische Kaiserliche Post gebaut, ein wuchtiger Gigant, weniger langweilig zwar mit seinen Zinnen, Spitzen, Spitzchen, Giebeln und Giebelchen, dafür aber noch hässlicher als die heutige Polizeiwache. (Von beiden nicht mehr existierenden Häusern gibt es Bilder.)
"Schütting?" Benrath kennt den Begriff Schütting nicht. „Ein Schütting ist ein Versammlungshaus“, lasse ich die Frau erklären, „und zwar für die Versammlungen der Kaufmannsgilden.“ Benrath möchte wissen, woher dies seltsame Wort kommt. Ich weiß nicht, ob ich einer Stecknitzfahrersfrau im frühen 19. Jahrhundert soviel etymologisches Wortwissen zutrauen kann, die Prahmfahrer auf der Stecknitz zählten zu den „weniger gebildeten Classen", wie ich lese. Daher füge ich für sie ein: Der Begriff stammt aus einem in der Hafenstadt Bergen gesprochenen norwegischen Dialekt („skotting“, später „kjøttstuene“, Bedeutung: „Speisesaal“, wo man „kjøtt“ („schött“) isst, „Fleisch“ – erinnert an die schwedischen Hackbällchen „köttbullar“, ausgesprochen „Schöttbüllar“). Der Schütting war am Anfang des Ostseehandels im Mittelalter der Saal, in dem reisende Händler zu essen bekamen. Später hatte jede Gilde einen eigenen Speisesaal für ihre Mitglieder. In Lübeck gab es mehrere Schüttinge, aber wenn von dem Schütting die Rede war, dann meinte man den Schütting der Schonenfahrer in der Mengstraße 18, Ecke Schüsselbuden und Fünfhausen. Das war ein ansehnlicher klassizistischer Bau mit einem großen Portal und hohen Bogenfenstern im Erdgeschoss, hinter denen die Lübische Post untergebracht war, deswegen, weil das Schonenfahrer-Kollegium für die Verwaltung dieser Post zuständig war. Heute steht das Haus nicht mehr, heute ist dort ein modernes, langweiliges Polizeigebäude. Im Jahr 1900 wurde dort die neugotische Kaiserliche Post gebaut, ein wuchtiger Gigant, weniger langweilig zwar mit seinen Zinnen, Spitzen, Spitzchen, Giebeln und Giebelchen, dafür aber noch hässlicher als die heutige Polizeiwache. (Von beiden nicht mehr existierenden Häusern gibt es Bilder.)
Benrath greift sich das
nicht gerade leichte Bücherpaket fest unter den Arm, rückt seinen
hellen Zylinder zurecht und kontrolliert, ob die Ledertasche mit dem
vielen Geld für die Schiffspassage fest verschlossen ist. „Achten
Sie gut auf Ihr Felleisen“, mahnt ihn Witwe Hansen. Aber er ahnt
kein Ungemach und macht sich guter Dinge auf den Weg durch die enge
gepflasterte Gasse, die ziemlich steil bergauf führt, in die
Richtung, in die auch der Karren gefahren ist. Die Häuser, an denen
er entlangschreitet, indem er mit seinem Stock heiter auf das
Pflaster klopft, sind vor langem deutlich herrschaftlich gewesen,
aber jetzt heruntergekommen. (Inzwischen für den Tourismus wieder
gut restauriert.) Die Menschen, die ihm begegnen, tragen einfache
Kleidung. Es sind arme Leute, die hier wohnen, jedenfalls in den
Seitengängen, die von der Kleinen Petersgrube abgehen, „geringere
Volksklassen", liest man. Er geht die Gasse hinauf und gelangt
zu den Stellen, an denen die Bepflasterung „heil in'n Dutt"
ist, zwischen den Steinen Schlamm und Modder. Benrath bleibt stehen
und schaut, bedauernd den Kopf schüttelnd, auf die schadhaften
Stellen. Eigentlich sind Lübecks Straßen sauber, denkt er, die
Stadtreinigung funktioniert gut. Aber da die Instandhaltung der
Straßen Aufgabe der Anlieger ist, das weiß er, sind die Stellen vor
den Häusern der minderbemittelten Bewohner in miserablem Zustand. Er
überlegt, wie er den Schlamm umgehen kann. Die Leute, die an ihm
vorübergehen, springen mit dem resignierten Lachen des Gewohnten
durch die pflasterlosen Löcher. Ein älterer Mann kommt ihm
entgegen, deutet mit dem Kopf auf die Schlammlöcher und ruft ihm zu:
„Schiet, wat? De Lüüt hefft holl Ebb in'n Büüdl", und geht
weiter. Hohle Ebbe im Geldbeutel?, rät Benrath, und er macht sich
seinerseits wieder auf den Weg, wobei er unbeholfen um den Modder
herum balanciert. Er nimmt das ihm immer schwerer werdende Paket
unter den anderen Arm. Beim Springen achtet er darauf, dass sich
seine Ledertasche mit dem Geld nicht öffnet und all die in ein Tuch
gewickelten Markstücke auf das Straßenpflaster fallen.
Er kommt schließlich
oben zur Petrikirche, biegt links ab in den Kolk und steigt immer
noch aufwärts über grobes Pflaster und durch Straßenlöcher.
Weiter geht er durch die breitere Holstenstraße – links unten
sieht er das große Holstentor stehen –, über den Kohlmarkt, dann
durch den Schüsselbuden und Fünfhausen (Straßenname, benannt nach einer Familie Vifhusen, der mal das umliegende Gelände gehört hat). Viel Betrieb auf
der Straße, viele Kinder, junge Frauen mit Körben und „Büüdln"
auf dem Kopf, auch Bettler, alte Frauen, die sich schwerfällig um
die Pflasterlöcher mühen, Pferdekarren, einige zu Fuß geführt von
Männern, die vor sich hin fluchen („Dat ischje man kein Schtraat,
dat is'n olln Schietkaul!“), einige vom Bock aus gelenkt, eine
mattgelbe Postkutsche, dann ein Planwagen, der Stückgut aus dem
Umland in die Stadt führt, „der schwer ausschreitende Fuhrmann im
blauen Kittel neben den großen Pferden mit klirrenden Aufzäumungen,
den gedankenvoll mitlaufenden Wolfspitz fast an seinen Hacken“,
lese ich bei Ida Boy-Ed.
Am Ende gelangt er zur
großen, imposanten doppeltürmigen Marienkirche, und dahinter zur
Mengstraße. Gleich an der Ecke schön und erhaben das
klassizistische Gebäude mit dem Namen Schütting. Er schaut kurz
hoch in den Giebel des Hauses zum Wappen der Schonenfahrer-Gilde,
drei goldene Fische übereinander in einem Kreis mit Goldrand. Aber
dann denkt er an sein Anliegen und tritt durch das
gewölbte Portal auf den Fliesenboden der weiten,
lichtdurchfluteten, in dem Stimmengewirr laut hallenden Diele (Ludwig
Ewers). Vor den Schaltern tummeln sich Menschen, Kunden mit Briefen
in den Händen, Postangestellte, Paketträger. Man begrüßt sich,
unterhält sich, ruft, lacht, fragt, hilft sich, einer schlägt einem
Bekannten lachend auf den Oberarm, an einem Schalter schimpft jemand.
Benrath geht an einen der frei stehenden Tische gleich neben dem
Eingang und stellt das Paket darauf ab. Unsicher wendet er sich dann
an einen älteren Herrn in einem schwarzen Paletot, von dem er meint,
er wisse hier Bescheid. Der erkennt augenblicklich den Fremden und
fordert ihn eilfertig auf, ihm an den Schalter zu folgen, der die
schwedische Post abfertigt. Benrath nimmt das Paket wieder unter den
Arm und geht mit dem Mann mit. Lübeck ist bekannt für seine
freundlichen Bewohner, denkt Benrath, das hat er schon in Hamburg
gehört. Die Hamburger sind da unwirscher, haben weniger Zeit, eine
sehr beschäftigte Stadt.
Der junge Angestellte am
Schalter wirft einen Blick auf das Paket, das Benrath auf den Tresen
gelegt hat, und sagt: „Nach Stockholm?" Benrath nickt und
fragt: „Mit den Reitern ist das wohl zu teuer?" Der junge Mann
sieht ihn an und fragt zurück: „Haben Sie es denn eilig?"
Benrath antwortet ihm, dass er nicht so viel bezahlen könne, dass er
aber eine rasche Expedition schon gern sähe. Der Angestellte stützt
sich auf den Tresen, beugt sich zu Benrath vor und raunt ihm zu: „Ich
gebe Ihnen einen Rat. Nehmen Sie das Paket wieder mit und gehen damit
in die Johannisstraße zum schwedischen Konsul. Heute ist Mittwoch.
Jeden Mittwoch legt die Postyacht nach Ystad ab. Das geht schneller
als mit den Reitern, und es ist nicht so teuer. Johannisstraße
Nummer elf, der schwedische Konsul. Wenn Sie sich beeilen, geht Ihr
Paket noch mit der heutigen Yacht weg." Die beiden letzten
Wörter klingen in Benraths Ohren wie „Jächt wech".
Also zum schwedischen Konsul. Benrath begibt sich
wieder an einen der Tische am Eingang, um das Paket noch einmal
abzustellen. Er legt seine Ledertasche daneben, öffnet sie, knotet
das Tuch auf, in dem er die vielen Münzen aufbewahrt, und wirft
einen Blick hinein: Ist noch alles da? Überflüssig, warum sollte
etwas fehlen? Es ist die nervöse Angst des Reisenden in der Fremde,
der ungewohnt viel Geld bei sich hat.
Wenn der Collaborator
Post nach Schweden aufgeben und wenn er eine Schiffspassage nach
Schweden anzahlen will, dann muss er in der Tat eine ganze Menge
Geldstücke mit sich herumtragen. Ich habe leider nirgends finden
können, was so eine Seereise von Lübeck nach Stockholm gekostet
hat. Ich vergleiche mit Preisen für Postkutschen-Touren, vergleiche
auch mit dem, was heute ein Flug von Hamburg nach Stockholm mit der
Lufthansa oder der SAS kostet, nämlich zweihundert bis dreihundert
Euro mindestens, wage eine spekulative Schätzung und setze einen
Preis von dreißig lübischen Mark Courant fest für eine Fahrt von
Travemünde über Kopenhagen nach Stockholm. Das müsste jetzt in
Verhältnis gesetzt werden zu Benraths Einkommen. Da ich ebensowenig
herausgefunden habe, wieviel ein Junglehrer in dieser Zeit am Hamburger Johanneum verdient hat, muss ich mich auch hier mit einer
spekulativen Schätzung begnügen. Die Spekulation soll aber nicht
aufs Geratewohl erfolgen.
Daher dieser Exkurs: Im
Archiv der Hansestadt Lübeck finde ich das Buch „Währung,
Preisentwicklung und Kaufkraft des Geldes in Schleswig-Holstein von
1226 – 1864“, 1952 erschienen, geschrieben von einem Prof. Dr.
Emil Waschinski. In diesem Buch versuche ich herauszubekommen,
wieviel das Lübecker und das Hamburger Geld um 1800 wert waren,
wieviel die Menschen damals verdienten, wie hoch die
Lebenshaltungskosten waren. Zwar beschränkt sich das Buch auf das
dänisch verwaltete Land, wozu weder Hamburg noch Lübeck gehörten.
Auch weist der Autor immer wieder darauf hin, dass es im Einzelnen
erhebliche Unterschiede gegeben habe: Ein Gutshofangestellter konnte
in einem Dorf völlig anders entlohnt werden als in einem anderen
Dorf, Bezahlung hing von der Willkür des Gutsherrn ab; Gehälter
schwankten von Jahr zu Jahr; und ebenso schwankte der Geldwert: Was
etwa 1813, nach den Kriegskatastrophen, teuer war, ist 1823 billig
gewesen. Dennoch ist einiges Interessantes zu erfahren. Hier mein
Ergebnis:
Ein Handwerksgeselle
konnte eine fünfköpfige Familie mit einem Tageslohn von sechzehn
Schilling – das ist eine Mark – mit Ach und Krach ernähren. Nach
heutiger Währung wäre das ein Monatslohn von weniger als
vierhundert Euro. „Einem Meister“, zitiere ich aus dem Buch,
„fiel es weniger schwer, seine Familie durchzubringen.“ Lehrer
werden nicht sehr viel mehr verdient haben. Ich lese in dem Buch,
dass die „Schulmeister“ in den Dörfern schlechte Gehälter bezogen, teilweise „weniger als ein Schweinehirt“. Schulerziehung
erfuhr keine hohe Anerkennung. Das dürfte in den „Gelehrtenschulen“
in den Städten etwas anders gewesen sein. Aber auch dort waren die
Gehälter wohl eher bescheiden. Sicher erwartete den Collaborator in
Stockholm als Professor ein höherer Verdienst.
Ich verdoppele den
kärglichen Handwerkerlohn und lasse Benrath, den Collaborator am
Johanneum in Hamburg, täglich zwei Mark verdienen, im Monat also
sechzig gute Mark Courant, Hamburger und Lübecker Währung
weitgehend gleichwertig. Wie gesagt, spekulativ. Aber immerhin: Von einem "Hilfslehrer" (= Collaborator) in einer Realschule im mecklenburgischen Güstrow um 1850 (es geht um den Dichter John Brinckmann) lese ich, dass er ein Jahresgehalt von 316 Talern und 32 Schillingen bezog, also 950 Mark. Das wäre ein Tagesverdienst von etwa 2 Mark und 10 Schillingen gewesen. (16 Schilling = 1 Mark)
Nach diesen Schätzungen
würde meinen Protagonisten die Schiffspassage an seinen neuen
Wirkungsort mit dreißig Mark ein halbes Monatsgehalt kosten. Wenn
ein heutiger Junglehrer netto zweitausend Euro verdient, müsste er
dementsprechend tausend Euro für einen Flug von Hamburg nach
Stockholm bezahlen. Ein satter Preis. Oder anders herum: Bei einem
Flugpreis Hamburg-Stockholm von dreihundert Euro würde der
„Hilfslehrer“ sechshundert Euro im Monat verdienen. Aber dennoch
glaube ich, dass die Relation stimmt. Reisen im jetzigen Zeitalter
des Tourismus ist verhältnismäßig billiger als damals. Trotzdem
kann ich wohl davon ausgehen, dass sich Collaborator Benrath einmal
so eine Reise leisten kann, zumal es um einen beruflichen Aufstieg
geht.
Zurück zur Posthalle im
Lübecker Schütting: Während Benrath das Tuch öffnet, um sein Geld
zu begutachten, passiert es leider, er ist ungeschickt: Versehentlich
fallen mehrere Silbermünzen klingelnd auf den Tisch, einige der
wertvollen schweren Courant-Taler und Doppelmark-Stücke kollern
über den Boden. Hastig sammelt er alles wieder ein, wirft es zurück
in das Tuch, bindet es flüchtig zusammen und steckt es in die
Tasche. Er schaut sich um: Hat ihn jemand dabei beobachtet? Und ob,
das Münzengeklingele hat Aufmerksamkeit erregt, überall blicken
neugierige Augen zu ihm hin. Auf diese Weise sind schon Menschen
ihrer Barschaften beraubt, deswegen sogar umgebracht worden, denkt
Benrath, rafft die Tasche an sich und verlässt eilig das
Postgebäude.
Hier muss ich anfügen,
dass genau dies einem der baltischen Grimms widerfahren ist. August
Grimm, das jüngste von elf Kindern des Rigaer Bürgermeisters, hat
nach Astrachan an der Wolga geheiratet, nahe dem Kaspischen Meer –
„die erste und hoffentlich auch die letzte (evangelisch-orthodoxe)
Mischehe eines Grimm!“, schrieb in seinen „Lebensskizzen“
Wilhelm Grimm, der ältere Bruder, ein felsenfester lutherischer
Pastor. In Astrachan ist August Grimm ein wohlhabender Kaufmann
geworden. Bei einer Fahrt auf einem Wolga-Dampfer am 23. März 1891
machte dieser Kaufmann Grimm einen leichtsinnigen Fehler: Er öffnete
am Buffet des großen Speisesaales „in Gegenwart mehrerer anderer
Personen“ das „Taschenbuch“, in dem er eine Menge Geld
aufbewahrte. Auf dem Weg in seine Kajüte wurde er „überfallen,
beraubt und vom Deck des Dampfers in den Strom, auf dem viel Eis
trieb, gestürzt“, so steht es in den „Lebensskizzen“. Das
überlebte unser baltischer Verwandter nicht. Wenn ich also Benrath
besorgt um das Geld in seiner Ledertasche sein lasse, so tue ich das
nicht von ungefähr.
Ich nutze die
Unterbrechung auch für diese Anmerkung: Dass die Post nach Schweden
per Schiff billiger gewesen ist als über Land, das habe ich im
Lübecker Stadtarchiv gelesen und schon in einem der vorigen Kapitel
erwähnt („Lübeck 1814“). Was für Briefe galt, muss auch für
Pakete gegolten haben. Und schneller war sie natürlich ohnehin.
Auch sonst habe ich nicht
viel in dem bisherigen Szenario erfunden, die Gründe für die
kaputte Straßenbepflasterung nicht, das „sich regende"
Treiben in der Post auch nicht, das lese ich bei Ludwig Ewers. Ebenso
beruht die Schilderung der Straßenszenen auf Gelesenem, und auch, dass die Lübecker damals im Gegensatz zu den
Großstadt-Hamburgern als freundlich galten, ist keine Erfindung von mir.
Gehen wir jetzt vom Schütting
in die Johannisstraße, wo Benrath das Bücherpaket beim schwedischen
Konsul – er ist seit drei Jahren Generalkonsul, aber das wird der
Postangestellte nicht wissen – aufgeben will. Dabei hat er eine
interessante Begegnung, die ihm jedoch nicht nur angenehm sein wird.
Als er zur Kreuzung Mengstraße/Breitenstraße gelangt, hinter der
als Fortsetzung der Mengstraße die Johannisstraße beginnt, schaut
er sich nach den Straßentafeln um, da er sich über den Verlauf der
Johannisstraße unsicher ist. Nach einigem Suchen findet er ein
schwarzes Schild, auf dem in weißer Schrift der Straßenname zu
lesen ist. Benrath denkt etwas verwundert: Sind die Namenstafeln der
Straßen nicht weiß mit schwarzer Schrift? Er meint, das eben so in
der Mengstraße gesehen zu haben.
In diesem Moment wird er
angesprochen: „Kann ich Ihnen behilflich sein?“ Benrath schaut
sich um. Ein junger Mann mit blondem Schnurrbart steht vor ihm,
selbstbewusster, höflicher Gesichtsausdruck. Er trägt eine blaue
Uniformjacke, hält einen schwarzen Tschako unter dem Arm, an der
Seite einen langen Degen. So wenig Benrath ein Militär ist, so
erkennt er doch in dem jungen Mann, der ihn so höflich anspricht,
einen Dragoner-Sergeanten. (Dragoner waren Reitersoldaten.) „Ich
suchte die Johannisstraße. Hier ist sie wohl.“ – „Ja“, sagt
der Dragoner, „dies ist sie. Sie haben das an der Tafel da oben an
dem Haus gesehen?“ – „Ich habe die Tafel gerade gefunden, ja.
Sagen Sie, sind die Straßentafeln hier in Lübeck nicht weiß?“ –
„Hier nicht“, antwortet der junge Dragoner ruhig, „nur im
nördlichen Teil der Stadt. Hier, wo der Süden beginnt, im
Johannis-Quartier, sind sie schwarz. Den Unsinn haben wir dem
Franzosen zu verdanken. Der hatte Lübeck willkürlich in ein
nördliches und ein südliches Canton eingeteilt, Jacobi- und
Maria-Magdalenen-Quartier Nord, weiße Tafeln, Johannis- und
Marien-Quartier Süd, schwarze Tafeln.“ – „Aha“, entgegnet
Benrath. „Sie sind von hier?“ – „Nein, ich komme aus Pommern.
Ich gehöre der Hanseatischen Brigade an, die hier in der Nähe
stationiert ist. Darf ich mich vorstellen? Freiherr von Rönnstein.“
Dabei schlägt er leicht die Hacken zusammen und verbeugt sich. „Dr.
Benrath, Collaborator in Hamburg“, stellt Benrath sich seinerseits
vor und zieht dabei seinen hellen Hut mit der Hand, in der er den
Stock hält. „Ich stamme aus Kassel.“ – „Das hört man, mit
Verlaub, an Ihrer Sprache, dass Sie kein Norddeutscher sind. Aber
deutsch ist deutsch, meinen Sie nicht auch?“ Benrath murmelt:
„Natürlich.“ – „Collaborator? Doktor? Lehrer? Soso.“ Liegt
in diesem „Soso“ versteckte Geringschätzung? „Wohin möchten
Sie denn, Herr Dr. Benrath?“ – „Ich suche den schwedischen
Konsul. Dies Paket nach Stockholm möchte ich bei ihm aufgeben. Er
wohnt hier in der Johannisstraße.“ – „Ah, Herr Generalkonsul
Grimm“, ruft der junge Freiherr aus, „den kenne ich. Ich führe
Sie gern zu ihm. Hier die Johannisstraße hinab, es ist nicht weit,
dort unten hinter der Königstraße auf der linken Seite. Die
Hausnummer weiß ich nicht. Kommen Sie.“ Die Straßen führen
jetzt vom Stadtzentrum aus zur anderen Seite wieder bergab.
Benrath freut sich über
die freundliche Hilfe des Dragoners, der jetzt in den großen,
knallenden Schritten seiner langschaftigen Reitstiefel neben ihm her
schreitet. Dabei liegt die rechte Hand lässig auf dem Griff seines
Degens, damit der ihn nicht beim Gehen stört. (Säbel werden
Dragoner erst ab den 1840erjahren tragen.) Seinen schwarzen Tschako
hält er weiter unter dem linken Arm. Trotz des zuvorkommenden,
betont höflichen Verhaltens stößt Benrath ein unangenehm stolzer,
ja harter Zug im Antlitz seines Führers auf, der in eigenartigem
Gegensatz zum Benehmen steht.
„Lübeck ist gerade
dabei, sich wirtschaftlich wieder aufzurichten“, konversiert
Freiherr von Rönnstein, während sie gehen und kaum nebeneinander
auf dem zu engen Trottoir Platz haben. Immer wieder müssen sie den
„behäbigen“ (Ewers) Granittreppen ausweichen, die von den vielen Hauseingängen bis an die Bordsteine vorspringen. „Allenthalben
werden die Comptoirs wieder eingerichtet, Schiffe repariert. Geben
Sie acht!“ Wieder müssen die beiden über den Rinnstein hinweg auf
den Fahrdamm treten, um nicht in eine der geöffneten Kellerluken
mit den steilen Kellertreppen hinabzustürzen. „Lästig diese
Luken, wenn die Lattengitter nicht darauf liegen“, schilt der
Dragoner und führt dann das angefangene Thema fort: „Man kann es
der Kaufmannschaft nur wünschen, dass sie sich von der französischen
Plage rasch erholt. Die Wirtschaft hat unter dem Franzosen arg
gelitten.“ Benraths Begleiter schüttelt verärgert den Kopf. „Die
Juden, die der Franzos' in die Stadt gelassen hat, sind wir ja, Gott
sei gedankt, wieder los. Vorsicht!“ Er fasst Benrath sanft am Arm
und zieht ihn auf das Straßenpflaster, fast wäre er sonst mit einem
entgegenkommenden Ehepaar an einer Kellerluke zusammengestoßen. Man
entschuldigt sich höflich, weicht einander aus, lässt der Dame den
Vortritt und geht weiter. „Jetzt wohnen sie wieder nur noch draußen
in Moisling, die Juden“, fährt von Rönnstein fort. „Die
Revolutionsfranzosen haben ihnen ein Leben in Lübeck gestattet.
Emanzipation! Eine Schande war das! Judengeschmeiß! Schandgezücht!
Aber die aufrechten Lübecker haben die Emanzipation wieder
aufgehoben. Französische Demokraten!“
Das Wort „Demokraten“
klang in damaligen Ohren wie heute „Terroristen“, erst recht,
wenn es mit der Verachtung hervorgestoßen wurde wie soeben vom
Freiherrn von Rönnstein. „Wir Deutschen müssen uns endlich
zusammentun, um uns in Zukunft vor solchen Überfällen zu schützen.“
Er lässt Benrath an einer erneuten Hauseingangstreppe den Vortritt
vom Bürgersteig auf die Straße. „Wir werden einmal eine große
Nation. Meinen Sie nicht auch, Herr Collaborator?“
Um sich nicht auf eine
lästige – und möglicherweise gefährliche – Disputation
einlassen zu müssen, sagt Benrath nur lakonisch: „Gewiss. Aber ich
bin eher unpolitisch.“ – „So“, erwidert Rönnstein, „na
denn. Immerhin geht es jetzt endlich wieder bergauf mit Lübeck. Als
der Franzos' hier hauste, war es vorbei mit dem alten
Hanseatenreichtum. Die Kontinentalsperre, wissen Sie! Und erst die
Abgaben, mit denen der Lübecker „chicanirt ward“ (so schrieb man
das). Halunken-Franzosen! Sie gehören alle an den Baum gehängt!“
Der Dragoner scheint die Nöte der lübischen Kaufleute zu kennen.
„Wenn nur die dänische Kanaille nicht wäre. Damals hatten wir die
französische Plage, heute die dänische.“
Kurze Erläuterung: Die
Antipathie der Lübecker gegen die Dänen war schon sehr alt. Seit
Jahrhunderten hatten die dänischen Herrscher immer wieder Schleswig
und Holstein bis an die Elbe unter ihre Hoheit gebracht, und das
blieb so bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Lübeck selbst war
nie eingenommen worden. Aber die Stadt hatte sich seit eh und je von
dänischem Gebiet umzingelt gesehen. Und auch jetzt wieder meinten
die Lübecker, einer gegen sie gerichteten Wirtschaftspolitik
Dänemarks ausgesetzt zu sein, die aber wohl eher eine
Kiel-freundliche Politik war – das dänische Kiel, neuer Konkurrent
Lübecks an der Ostsee. Die überraschende, kurze dänische
Besetzung im Sommer 1813, als sich die Franzosen nach der Niederlage
in Russland vorübergehend zurückgezogen hatten, verstärkte noch
den Widerwillen, den von Rönnstein hier zum Ausdruck bringt.
„In allen Landwegen“,
wettert der Sergeant weiter, „behindert der Däne die Stadt, zum
Beispiel der Handelsweg nach Hamburg: Statt des direkten kurzen
Weges über Ahrensburg und Wandsbek müssen die Lübecker den weiten
Umweg der Strecke Kiel-Hamburg nehmen, weil die besser ausgebaut
ist.“ Ein kaltes, trockenes „Dänenkanaille!“ wirft er noch
hinterher.
„Dänenkanaille“,
„Halunken-Franzosen, alle an den Baum gehängt“,
„Judengeschmeiß“, „Schandgezücht“, das ist nicht Benraths
Vokabular. Er kennt es allzu gut. Aber er selber, freiheitlich
erzogen, in aufgeklärterem Geist, denkt da anders. Auch er fühlt
national, auch er träumt von der allseits ersehnten Einheit der
Deutschen. Aber den Hass auf die Franzosen, auf die Juden, den hat er
nicht, und den Dänenhass kennt der Kasseler gar nicht.
Glücklicherweise kommen
die beiden vor dem Haus an, über dessen Eingang eine Elf steht.
Exkurs zu der
Hausnummerierung: In den Adressenbüchern im Archiv findet man
Hausnummern bis in die Neunhunderter. Das sind natürlich keine
straßenweise gezählten Nummern, sondern die Häuser wurden in den
Quartieren, also Stadtvierteln, durchnummeriert. Das hatten die
Franzosen eingeführt. Über den Hauseingängen, so lese ich im
Stadtführer von 1814, standen immer zwei Nummern: groß jeweils die
Straßenhausnummer, und klein darunter die Quartierhausnummer. In
der Johannisstraße entfiel das, weil die Nummerierung des
Johannisquartiers in ebendieser Straße begann, Straßen- und
Quartiersnummer waren also gleich, in diesem Fall: elf.
„Wir sind da“, sagt
der junge Dragoner. „Hier ist es. Hier wohnt Generalkonsul Grimm,
übrigens ein Ehrenmann, ein guter Deutscher. Er hat sich in
aufrechtem Mut gegen den Franzosen behauptet.“
Benrath sieht sich vor
einem größeren, modern klassizistischen weißen Haus, das Eingangstor weit geöffnet, ein
geschäftiges Hinein und Heraus, vor allem junge Arbeitsburschen,
laut redend, Plattdeutsch, Benrath versteht kein Wort. Freiherr von
Rönnstein verabschiedet sich in aller Form, verbeugt sich kurz,
tritt zwei Schritte zurück, verbeugt sich noch einmal, lächelt
Benrath kühl zu, dreht sich dann um und geht die Johannisstraße
wieder zurück hinauf. Ein unangenehmer Mensch, denkt Benrath,
unangenehm bei all seiner Höflichkeit.
Als Benrath langsam durch
den Toreingang geht, Stock neben dem Paket unter den linken Arm
geklemmt, mit der Rechten zu früh unsicher den Hut abnehmend, merkt
er nicht, dass in seinem Rücken, auf der gegenüberliegenden
Straßenseite, ein Mann steht, der ihm seit geraumer Zeit gefolgt
ist und jetzt herüberstarrt und beobachtet, wie er die Straße
verlässt und das Gebäude betritt.
Im
Kontor
Das Grimmsche
Kaufmannshaus und schwedische Generalkonsulat war ein damals moderner, weißer, in der Sonne strahlender klassizistischer Bau mit
einem – im Gegensatz zu den Stufengiebeln der traditionellen
Backsteinhäuser – „platten Giebel“, eines der Häuser in
Lübeck, die mit ihren „hellen Farben … der Stadt ein
freundliches und heiteres Ansehen“ verliehen, wie der Stadtführer
von 1814 sagt. Es war vor der französischen Besetzung errichtet
worden, in einer Zeit, in der es Lübeck wirtschaftlich gut ging.
Wie so ein Kaufmannshaus
innen aussah, das kann man auf den verschiedensten Bilddarstellungen
sehen, man kann es in schriftlichen Schilderungen nachlesen, vor
allem bei Ludwig Ewers. Man kann sich aber auch einen ungefähren
Eindruck verschaffen, zumindest von der Diele, in der die Waren ein-
und ausgeladen wurden, wenn man in das Foyer der Musikhochschule an
der Obertrave hineingeht, Eingang Große Petersgrube. Dort sieht man,
wo das Kontor war, heute die Hochschul-Rezeption, wie um den Innenhof
die Treppen in die oberen Etagen führten, und oben in der Decke die
Luke, durch die die Waren hochgezogen wurden, um auf dem
Speicherboden gelagert zu werden. Mit diesen Bildern und
Schilderungen und Eindrücken im Kopf setze ich jetzt das Szenario
fort.
Im großen, feuchten
Vorraum – verstreut liegen Lumpen und Ketten und andere Eisenteile
herum, es riecht nach Pferd, nach Stroh, nach schmutzigen Hanfsäcken,
auf dem Boden Pferdeäpfel, überall Fliegen – in diesem Vorraum,
der Diele, geht Benrath von hinten an einen geöffneten Planwagen
voller grauer Getreidesäcke heran. Zwei Pferde, die wohl gerade
erst den Wagen hereingezogen haben, stehen noch angeschirrt vorn an
der Deichsel, Benrath sieht, am Wagen vorbei, wie sie mit ihren
Schweifen vergeblich gegen die Fliegenschwärme hin und her
schlagen. Sie tragen jedes einen Strohsack um den Kopf und fressen
schnaubend. Oben auf dem Wagen ist Betrieb: Laut redend stehen darauf
zwei Männer und hängen die Wagenladung Sack für Sack an einen
großen Eisenhaken, der die Säcke über ein langes Seil nach oben
durch eine Deckenluke zieht, vielleicht sechs, sieben Meter hoch. Aus
dem Dachspeicher oben hört man das Rufen und Lachen der Arbeiter,
die die Säcke vom Haken nehmen und irgendwo verstauen. Quietschend
wird dann das Seil mit dem dicken Haken wieder herabgelassen. Einer
der beiden Männer unten auf dem Wagen hängt gleich den nächsten
Sack an, während der andere vom Wagenrand Säcke in die Mitte der
Ladefläche schleppt, damit sie von dort sofort aufgehängt werden
können.
Dabei lässt wohl der
Schleppende einen Sack unvorsichtig auf den Fuß des anderen fallen,
so dass der aufschreit und seinen Kollegen anschnauzt: „Mann,
Siemßen, pass doch upp, Schietkerl. Du büst doch'n groten
Döösbarthel büst du ja, 'n ganz groten!“ Und den „Döösbarthel“
schleudert er so wütend heraus, dass es klingt wie „Döösbaddl“.
„Holl du man dien Muul“, keift der andere zurück. Worauf der
erste wieder: „Dat schall ik gor nich. Ik schall di seggn, dat
du'n Schietkerl büst.“ Abschließender Fluch: „Ik lat di
insteken (verhaften), du Aas!“ Und weiter geht die Arbeit. (So eine
ähnliche Auseinandersetzung finde ich bei Ludwig Ewers.)
Benrath wird von einem
vor sich hin grummelnden alten Mann von hinten angestoßen. Er schaut
sich um und tritt zur Seite. Es scheint der Kutscher des Planwagens
zu sein, denn der geht geradewegs zu den beiden Pferden. „Deit mi
leed“, brummelt er und dreht sich kaum zum Angestoßenen um, der
ihm da im Weg stand.
Gleich rechts hinter dem
Toreingang findet Benrath das Kontor: Durch große Fensterscheiben
hindurch sieht er einen hellen Raum, in dem mehrere junge Männer an
Tischen stehen und schreiben. Gerade will er auf die Tür zu diesem
Kontorraum zugehen um anzuklopfen, als er von einem Mann angesprochen
wird, der soeben aus einer anderen Tür in die Diele getreten ist.
„Kann ich etwas für Sie tun?“ Benrath sieht sich einem groß
gewachsenen Mann gegenüber, jung, noch keine dreißig. Ein
freundliches, waches Antlitz schaut ihn an. „Dr. Benrath ist mein
Name. Ich suche den Konsul. Ich möchte gern dies Paket mit dem
Schiff nach Schweden senden. Bin ich hier richtig?“ Der Mann,
dessen Wesen alert und geschäftig wirkt, tritt auf ihn zu und sagt:
„Geben Sie das Paket mir. Mein Name ist Nölting. Ich bin der
Vize-Konsul. Ich kann mich Ihrer annehmen. Folgen Sie mir hier ins
Comptoir. Der Prinzipal wird aber auch gleich erscheinen.“
Christian Adolph Nölting
(1794 – 1856), Stellvertreter Johann Anton Grimms und nach dessen
Tod sein Nachfolger als schwedischer Konsul, stammte aus einer
arrivierten Lübecker Kaufmannsfamilie (Vater Ratsherr und
Bürgermeister) und war später ein angesehener Kunstförderer,
Theodor Storm, Emanuel Geibel und andere Kulturgrößen der Zeit
verkehrten in seinem Haus. Das ist wohl der Grund, dass man über ihn
heute mehr erfahren kann als über Johann Anton Grimm. Sogar eine
Daguerreotypie aus dem Jahre 1848 von dem 54-Jährigen habe ich bei
Wikipedia gefunden, das eben dieses alerte Gesicht zeigt. Schade,
dass es nicht wenigstens ein gemaltes Porträt Johann Antons gibt.
Dieser Vize-Konsul
Nölting ist bei Benraths Besuch erst 29 Jahre alt. Mit dem Paket
unter dem Arm, das er Benrath gerade abgenommen hat, öffnet er
forsch die Tür zum Kontor und betritt vor Benrath den Raum. Durch
mehrere Fenster zur Straße hin strahlt helles Sonnenlicht herein,
und auch von den Dielenfenstern her, durch die hindurch man zum
Planwagen hinaussehen kann, fällt Licht ein. Zwei brusthohe
Doppelpulte und zwei niedrigere Tische stehen im Raum verteilt. Sie
sind überquellend mit Aktenbergen bedeckt. Auf jedem Pult eine
„Moderateurlampe“. (Das waren zu der Zeit übliche, aus
Frankreich eingeführte Petroleumlampen mit einem Regler,
modérateur.) Vier junge Männer, wohl ein Kommis und drei noch fast
knabenhafte Lehrlinge, die ihre fünfjährige Kaufmannsausbildung
hier machen, stehen (stehen!) an den Pulten und schreiben eifrig auf
Zetteln, Papieren, Aktenfolianten. Sie wirken, als ob sie gerade
lachend miteinander geredet hätten. Blitzschnell wenden sie sich
nämlich ihren Papieren zu, als der Vize-Prinzipal den Raum betritt.
Einer der Lehrlinge legt
bei Benraths Eintreten augenblicklich seine Schreibfeder auf das
Pult, eilt an die Wand, die voller mit Aktenordnern gefüllter Regale
und mehrerer Landkarten ist, und holt von dort einen Stuhl, den er
wortlos dem Besucher hinstellt. Benrath bedankt sich und nimmt Platz,
Hut auf dem Schoß. Der junge Vize-Prinzipal setzt sich an seinen
Tisch. Er sitzt, steht nicht. So sieht Benrath auch gleich, wo der
Platz des Prinzipals ist: Am größten Tisch, davor ein Stuhl mit
Armlehnen.
„Wenn Sie möchten,
dass Ihr Paket noch heute abgeht, dann müssen wir uns beeilen“,
sagt Nölting. Das Paket wird von einem der Lehrlinge gewogen, ein
anderer bringt Unterlagen, der Vize-Konsul schreibt, rechnet, nennt
Benrath den Preis für die „Expedition“, Benrath holt das nötige
Geld aus seiner Ledertasche und bezahlt.
Genau in diesem
Augenblick öffnet sich mit einem leisen Knarren eine Hintertür zum
Kontor, und herein tritt ein älterer Herr mit einem gepflegten
vollen Knebelbart und weißem, schütterem, streng zurückgekämmtem
Haar in einer etwas abgetragenen grauen Joppe. Er wirft nebenhin
einen Plattdeutsch gesprochenen Satz zum Kommis, der daraufhin
aufsteht und zur Dielentür hinausgeht, um den Auftrag, den er da
offenbar gerade erhalten hat, auszuführen. Dann geht der Alte
langsam um die Tische herum zu seinem Armlehnenstuhl und setzt sich:
Der Prinzipal, Generalkonsul Grimm. Er verneigt sich ernst gegenüber
dem Kunden und murmelt: „Mien Vize ümdeit sük all üm Sei?“ - „Verzeihung“,
sagt Benrath verlegen lächelnd, „ich bin nicht von hier. Ich
spreche Ihre Sprache nicht.“ - „Oh“, erwidert der alte Mann
freundlich, „ich habe nur gefragt, ob mein Stellvertreter sich schon um Sie
kümmert.“
Ich könnte jetzt den
alten Mann, er ist 67 – genau mein Alter –, detailliert
beschreiben und charakterisieren. In einem Roman müsste ich das. Ich
würde es auch am liebsten fantasiereich machen. Im Szenario aber
scheue ich davor zurück, geht es hier doch darum, wie er wirklich
aussah und wie er wirklich war. Und wie gesagt: Es gibt weder
Aufzeichnungen über ihn noch ein Porträt. Wir wissen nichts.
Ich überlege Folgendes:
Er wird als Konsul und Kaufmann ein beschäftigter Mensch gewesen
sein, energisch. Er hatte sicher seine Prinzipien, hatte Ehrgefühl
(damals üblich), war wahrscheinlich streng gegenüber seinen Kindern
und seinen Angestellten. Das muss man ja auch aus dem schließen, was
wir von seinem Sohn in Riga wissen.
Dagegen lässt mich dies
„Meinen lieben Kindern“ in seiner Notiz über den Besuch der
Königin an einen freundlichen Herrn denken. Altersfreundlich?
Nachlassende Kraft? Er verließ (verkaufte?) das Kontor in der
Johannisstraße immerhin schon im folgenden Jahr, vermutlich um sich
zur Ruhe zu setzen, und er starb bereits fünf Jahre später. Seine
Frau war seit drei Monaten tot. Hat ihn das mitgenommen? Die drei
älteren seiner sechs überlebenden Kinder, nämlich die drei Söhne,
waren weit weg in Riga. Fühlte er sich einsam? War er enttäuscht,
dass keiner seiner Söhne, in Riga so erfolgreich aufstrebend, sein
Unternehmen in Lübeck übernahm?
Ich konstruiere,
zugegeben spekulativ: So wie die alte Konsulin Bethsy Buddenbrook
nach dem Tod ihres Mannes religiös geworden ist, so hält sich auch
der alt und einsam werdende Generalkonsul plötzlich verstärkt an
die Religion, sucht einen letzten Halt. Ich lasse auf seinem
Schreibtisch im Kontor eine Bibel liegen.
In diesem Zusammenhang
zitiere ich aus Wilhelm Grimms „Lebensskizzen“:
"Es ist bekannt, welch
einen gewaltigen Umschlag das napoleonische Joch bei den damals
lebenden Deutschen (und namentlich Norddeutschen) bewirkte. War der
größere Teil der Deutschen vorher in Materialismus und
Eigendünkel versunken gewesen, nun in der schweren Leidensszeit
erwachten sie zu einem neuen Leben in christlichem Geiste und
christlicher Hoffnung."
So sehr diese Sätze
etwas über ihren Autor sagen, so sehr kann man sich doch tatsächlich
fragen: Ist Johann Anton vielleicht ebenso schon in der Franzosenzeit
religiös geworden?
Sprach er Französisch,
die Sprache der feinen Gesellschaft? Er stammte nicht aus der feinen
Gesellschaft, sein Vater war Pastor in Wismar gewesen. Wenn er
Französisch sprach, dann wohl kein sehr gutes. Sicher sprach er
Platt, wenn man wohl auch davon ausgehen darf, dass in seiner Familie
Hochdeutsch gesprochen wurde, denn seine Frau war Baltin gewesen. Die
Sprache der Kinder untereinander wird Platt gewesen sein.
Möglicherweise konnte Johann Anton Schwedisch, eine ohnehin schon
häufiger unter lübischen Kaufleuten verstandene Sprache, erst recht
wohl beim diplomatischen Vertreter Schwedens zu erwarten. Englisch
spielte in der Ostsee-Stadt Lübeck, ganz anders als im Atlantikhafen
Hamburg, keine so große Rolle. (In einer Aktennotiz im städtischen
Archiv finde ich übrigens den Hinweis, dass „ab 1806“ die
englische Sprache in Briefen nach England verboten war. Das hatte
allerdings politische Gründe und war eine ziemlich alberne Maßnahme
Napoleons. Wird 1815 wieder aufgehoben worden sein.)
Er wird Zahnlücken
gehabt haben, nichts Ungewöhnliches damals. Es gab Zahnersatz, aber
der war unerschwinglich teuer. Konnte er sich den leisten? Vielleicht
Gold zwischen den Backenzähnen? Weißes, schütteres, streng
zurückgekämmtes Haar und einen gepflegten, vollen Knebelbart habe
ich ihm verpasst, gegen die Regeln des Szenarios. Das habe ich von
einem Foto seines Enkels Wilhelm Grimm, meines Urgroßvaters, des
Verfassers der Grimmschen „Lebensskizzen“. Der blickt ernst aus
schweren Augenlidern in die Kamera. Unwillkürlich ist das das Bild,
das ich von Johann Anton habe. Er sah nicht so aus, aber so sehe ich
ihn. Und so lasse ich ihn Benrath heute am Mittwoch, dem 24.
September 1823, sehen.
Das Geschäft mit dem
Paket wird mit dem Vize-Konsul rasch abgewickelt. Der empfiehlt sich
kurz darauf, indem er sich höflich vor dem besuchenden Kunden
verneigt. „Beehren Sie uns wieder. Ich muss mich um eine neue Fuhre
kümmern.“ Benrath erhebt sich leicht vom Stuhl. „Ich bitte Sie,
Herr Nölting, Sie haben sicher gut zu tun.“ – „Oh ja, wir
Kaufleute müssen laufen. Kooplüüt – Looplüüt.“ Er wirft den
Arbeitern bereits im Hinausgehen in die Diele Anweisungen zu. (Im
Plattdeutschen sagt man: „up dei Dääl“, beim Hinausgehen auf die
Diele.)
Der alte Prinzipal lacht,
zeigt dabei ein oder zwei Zahnlücken. „Die Jungen sollen laufen.
Als ich jung war, bin ich auch gelaufen. Darf ich Ihnen einen Liqueur
anbieten? Einen Kümmel? Einen Absinth?“ Zwischen ihm und Benrath
kommt es zum Gespräch, ich lasse sie Sympathie zueinander
entwickeln.
Ob der Konsul, fragt der
junge Besucher, den dänischen Konsul Herrn Platzmann in der
Mengstraße kenne, er wolle bei ihm eine Schiffspassage nach
Kopenhagen buchen. „Nach Kopenhagen?“, fragt Grimm. „Da sind
Sie bei Herrn Platzmann richtig.“ – „Eigentlich möchte ich
nach Stockholm“, sagt Benrath. Wenn er nach Stockholm wolle,
antwortet Grimm, könne er die Passage auch bei ihm bekommen. Er
brauche nicht über Kopenhagen zu fahren, sondern könne eine der
schwedischen Postyachten nach Ystad nehmen und dann von dort weiter
nach Stockholm segeln. „Für wann planen Sie denn Ihre Reise?“
Benrath meint, es sei für ihn am günstigsten, wenn er im kommenden
Sommer reisen könne. „Nächstes Jahr?“, ruft der Konsul aus und
erklärt, dass er dann ja mit dem neuen Dampfer nach Kopenhagen
fahren könne. Ein Reeder sei nämlich gerade dabei, die Lizenz für
die Einrichtung einer regelmäßigen Dampferlinie von Lübeck nach
Kopenhagen zu beantragen. Es sei doch sicher eine schöne Erfahrung,
die neueste Technik kennenzulernen. Ob er schon mit dem Travedampfer
gefahren sei. So ein Dampfsegler mit großen Schaufelrädern an den
Seiten werde auch auf der Linie nach Kopenhagen eingesetzt werden,
nur größer natürlich. Er könne dann mit einem anderen Schiff nach
Stockholm weiterreisen. Diese Passage könne er auch bei ihm im
schwedischen Konsulat buchen.
Es gebe aber, fährt der
Alte fort, so schöne Segelschiffe in Lübeck (Er spricht es
Niederdeutsch „Lübeek“ aus). Wenn er wolle, könne er nachher,
sobald die Pakete für die Yacht auf den Wagen geladen seien,
zusammen mit ihm zum Hafen gehen, zum Verladekai. Er habe mit dem
„Yachtkaptain“, er verbessert sich sofort: „Yachtkapitän“,
er habe mit dem Yachtkapitän etwas zu besprechen. Dann könne er
ihm die Lübecker Schiffe erklären.
Ob die Geschäfte gut
gingen, will Benrath wissen. „Inzwischen wieder“, entgegnet
Grimm. „In der Franzosenzeit haben wir schon sehr gelitten. Wir
haben viele Verluste gehabt. Ich habe mal eine Seifensiederei
betrieben. Die musste ich zumachen, sie brachte nichts mehr ein, die
Konkurrenz aus Frankreich war zu groß.“ – „Wie war das
möglich?“, fragt Benrath, und der Kaufmann antwortet: „Als wir
1811 zusammen mit Hamburg und Bremen Teil des Kaiserreichs Frankreich
wurden als „Département des Bouches de l'Elbe“, da hofften wir,
zollfrei nach Paris liefern zu können. Aber wir wurden von Napoleon
bitter enttäuscht, denn wir mussten hohe Zölle auf unsere
Lieferungen nach Paris zahlen, während wir dagegen gezwungen wurden,
bei uns französische Waren zollfrei einzuführen. Gegen die
Konkurrenz kamen wir nicht an. Und nach England durften wir ohnehin
nicht exportieren. Das hat meine Seifensiederei nicht überlebt.“
Ich zitiere aus Wilhelm
Grimms „Lebensskizzen“:
"Im „Gaedickens
Fabriken- und Manufakturlexikon“ finden sich für das Jahr 1798 für
Lübeck 72 Fabrik-Firmen verzeichnet, doch wird diesbezüglich
bemerkt: „Mit wenigen Ausnahmen stellten diese sämtlichen
Fabriken in der französischen Zeit (1806 – 1813)
ihren Betrieb ein.“ Auch Grimm sah sich genötigt, das zu
tun."
Da ich wenig über
Seifensiedereien in Lübeck um 1800 erfahren habe und auch über die
Seifensiederei an sich nur finde, dass sie zur Zeit eine Liebhaberei ist, eine grüne Bio-Mode, leicht von jedermann in der Küche
durchzuführen, bin ich froh, für das Jahr 1823 darauf verzichten zu
können, Benrath Grimms Seifenwerkstatt besuchen zu lassen. Ich
müsste zu sehr meine Fantasie spielen lassen, könnte keine
Informationen über Seifensiedereien um 1800 einbringen, unpassend
für ein Szenario.
Grimm äußert sich
ähnlich negativ über die Franzosen und Dänen wie vorhin der junge
Freiherr aus Pommern, wenn auch verbal zurückhaltender, „dat
Takeltüüch (Takelzeug), de Franzosen“, ist das Äußerste, was
er sagt. Gerade auf die Franzosen ist er gar nicht gut zu sprechen,
zu sehr habe er unter ihnen gelitten, sagt er. (Noch heute hört man
bei Altstadtführungen, die Franzosen hätten in Lübeck „gehaust
wie die Vandalen“.) Er spricht die Hausdurchsuchung von vor zehn
Jahren, am 24. Juni 1813, an. In Wilhelm Grimms „Lebensskizzen“
wird kein Grund für die „Haussuchung“ angegeben. Mündliche
Überlieferung in meiner Familie: Sie habe etwas mit von den
Franzosen verordneten Schanzenarbeiten zu tun.
Folgendes entdecke ich in
einer Geschichte Lübecks: Nach der Rückkehr der Franzosen im Sommer
1813 – sie hatten sich nach der Niederlage gegen Russland kurz
zurückgezogen – sei dies gekommen:
"Bürgerentwaffnung,
Strafkontribution, Einquartierung und Zwangsrequisition – das
waren die Stichworte für das Geschehen in den nächsten sechs
Monaten. Freilich hatte die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der
Stadt bereits so stark gelitten, dass trotz mehrfacher Geiselnahme
noch nicht einmal der sechste Teil der auf 6 Millionen Franc
festgelegten Kriegssteuer aufgebracht werden konnte. So wurden denn
die Reallasten entsprechend erhöht, das heißt: Wer keine
finanziellen oder materiellen Leistungen erbringen konnte, wurde
noch häufiger als andere zum Schanzdienst herangezogen. Auf den
Wällen der Stadt sollen damals täglich 300 bis 500, zuletzt sogar
über 2.000 Einwohner an der Wiederherstellung der Festungsanlagen
gearbeitet haben. Ein zweites Mal wollten die Franzosen die Stadt
nicht kampflos aufgeben: Die Alleen vor den Toren wurden
niedergehauen, vor dem Mühlentor 3, vor dem Burgtor 4 Gartenhäuser
rasiert, die Wallallee und die schönen Bäume, die die Wälle an
den Seiten bis unten herunter zierten, wurden von den dänischen
Soldaten mutwilligerweise niedergehauen und verkauft, rings um die
Stadt wurde die Gegend eine Wüstenei. Die Brücken wurden
durchbrochen, die Einwohner nahe den Toren mussten ihre Häuser
räumen, Furcht und Bangigkeit ergriff bei diesen Vorkehrungen die
Gemüter."
Schanzenarbeiten: Hat
Johann Anton Grimm sich geweigert, an den Zwangsarbeiten teilzunehmen? War
er nicht in der Lage zu Kompensationszahlungen? Kurz, auch bei ihm
müssen Franzosen wie Dänen ein Gefühl abgrundtiefer Ablehnung
zurückgelassen haben. Entsprechend positiv lasse ich ihn über
Bernadotte reden, den Kommandeur der schwedischen Truppen, die
schließlich die Franzosen verjagt haben: Der sei von allen mit
lautem Jubel als Befreier empfangen worden. („Jubelnd wurde er vom
Volke begrüßt, um so begeisterter, da er der Stadt sofort ihre
Selbständigkeit zusicherte“, lese ich in einer anderen Geschichte
Lübecks.)
Aber Bernadotte sei doch
auch der französische Eroberer 1806 gewesen, bemerkt Benrath. „Da
war er noch Franzos'“, sagt Grimm verschmitzt, „als Schwede hat
er uns befreit.“ – „Und die Plünderungen 1806?“ – „Das
waren die gemeinen Soldaten. Bernadotte wollte das nicht.“ –
„Bernadotte wollte das nicht? Warum ist er dann nicht
eingeschritten?“ – „Er hat es versucht. Aber die beiden anderen
Marschälle, es waren Soult und Murat, waren gleichgültig. Sie
ließen die Soldaten gewähren. Bernadotte hat verzweifelt gegen die
Plünderungen angekämpft. Das hat er mir selber gesagt. Wenn er
Offiziere zum Eingreifen angehalten hat, haben sie seine Befehle nur
halbherzig befolgt, und wenn er das Stadtviertel verließ, ging es
wieder weiter. Zwei Tage lang ist er vergeblich gegen die
Plünderungen vorgegangen. Erst am dritten Tag hat er für Ruhe
sorgen können. Aber da ist schon zuviel passiert. Das hat mir der
Kronprinz – damals war er noch Kronprinz – persönlich erzählt.“
Ich wage es, Bernadotte
mit Johann Anton gesprochen haben zu lassen. Ich halte das für sehr
gut möglich. Nach der Rückeroberung Lübecks im Dezember 1813
beispielsweise, oder als Bernadotte im Mai 1814 von den Siegesfeiern
aus Paris zurückkam – am 26. Mai bestieg er in Travemünde eine
Fregatte nach Stockholm –, da kann er, etwa während eines
Empfanges seines Lübecker Konsuls, sich ohne weiteres mit ihm
unterhalten haben – nachdem er einen tüchtigen Schluck Champagner
aus einem prachtvollen Glaskelch genommen hat.
„Überhaupt die
Schweden“, fährt Grimm in seinem Gespräch mit Benrath fort. Und
aus tiefster Seele, aber auch als schwedischer Konsul, lasse ich ihn
das Hohelied auf Schweden und die lübisch-schwedische Freundschaft
singen: Schon Gustav Adolf habe seinerzeit für die Vernichtung des
katholischen Irrglaubens hier im Norden gesorgt, und Gustav Wasa sei
von einem Lübecker Kaufmann mit Geld ausgestattet worden, damit er
seine verlorengegangene Macht in Stockholm habe zurückholen können.
Allein die Erzfeindschaft mit Dänemark habe Schweden zu Verbündeten
und Freunden Lübecks gemacht – auch wenn es vor hundert Jahren
einmal Kriege zwischen den Hansestädten und Schweden gegeben habe.
Von der Diele her dringt
Lärm, Hufeschlagen, Rufe des Kutschers, Eisenknirschen der
Wagenräder auf Steinfliesen. Benrath sieht durch die Fenster zur
Diele, wie der inzwischen leere Wagen von den beiden Pferden zum
Hintereingang hinausgezogen wird. „Im Hinterhof werden die Tiere
abgeschirrt“, erklärt Grimm. „Sie kommen dort in den Stall, und
der Wagen bleibt erstmal im Hofe. Auf der Deel muss Platz gemacht
werden, da kommt gleich ein neuer Wagen herein.“
Benrath spricht Grimm auf
seinen Begleiter an, den Freiherrn von Rönnstein: „Sie kennen
ihn?“ – „Den kenne ich. Ein ehrenwerter junger Mann.“ – „Er
spricht arg gegen alles Nicht-Deutsche, vor allem gegen die Juden.“
– „Nun ja, ein wenig hitzköpfig, das ist er wohl. Seine
Meinungen sind oft übertrieben, Deutschtümler, er ist eben ein
Freiherr aus Pommern. Ich glaube, er war vor sechs Jahren bei dem
Studentenfest auf der Wartburg dabei, wo sie Bücher verbrannt und
geschworen haben, alles Fremde in Sprache, Kleidung, Sitten und
Bräuchen zu vermeiden. Zwar ein junger Hitzkopf, aber er hat nicht
immer unrecht.“ – „Richten denn die Juden Schaden an in der
Stadt?“ – „Ach, die Juden aus Moisling. Nein, nein, sie richten
keinen Schaden an. Sie haben nur eben den Herrgott auf dem Gewissen.
Die Bürgerrechte, die sie von den Franzosen erhalten hatten, sind
ihnen ohnehin wieder abgesprochen worden. Hier in Lübeck dürfen
sie nicht leben. Warum lassen sie sich nicht taufen?“
Ich gehe davon aus, dass mein Ahn so antisemitisch gedacht hat wie viele. Man war gegen das
Judentum aus religiösen Gründen („Jesusschänder“), und viele
hassten die Wucherer, die Kredithaie: „Wat uns de Franzosen laten
hewwen, dat nemen uns de Juden“, sagt einer in Fritz
Reuters „Ut de Franzosentid“. Aber man machte gern gute Geschäfte
mit ihnen, Kaufmann blieb Kaufmann.
Ein Lehrling kommt herein
und sagt zu seinem Prinzipal: „Herr Kunsel, de Waagn is
klaarmaakt.“ (In Benraths Ohren:
„Worgn is klorrmorkt.“) Grimm erwidert ein kurzes: „Is gaut, Jung. Ik kümm
ruut.“ Er blickt mit seinem ernsten Ausdruck zu Benrath. „Begleiten
Sie mich zu den Verladekais? Ich werde Ihnen unsere schönen Schiffe
zeigen.“ – „Gern“, antwortet der Collaborator. Bevor der Alte
sich jedoch erhebt, greift er zur Bibel, die neben ihm auf dem Tisch
liegt. Ohne langes Blättern schlägt er sie auf und liest:
"De endige handt wert
herschen, De averst träch ys, de wert tyns möthen geven. Sorge im
herten, krencket, averst ein fründlick wort vorfrowet. De
rechtverdige hefft ydt beter, den syn negeste, Averst der Godtlosen
wech vorvöret se. Eynem unendigen geret syn handel nicht, Averst
ein endich minsche, wert ryke. Up dem wege der gerechtigkeit, ys
dat levent. Und up dem gebänten styge, ys nen dödt."
„Amen. Aus den Sprüchen
Salomonis. Haben Sie verstanden?“ Benrath schüttelt den Kopf. Der
Konsul sagt: „Das ist altes Niederdeutsch. Ich habe hier die Lübecker Bibel von 1533, die Bugenhagenbibel. Mein wahrer Schatz. Sind Sie ein guter
Christ?“ – „Schon“, sagt Benrath. Grimm schaut noch einmal in
die Bibel. „Hören Sie zu, ich übersetze für Sie: Die fleißige
Hand wird herrschen, die aber träge ist, die wird Zins müssen geben.
Also Frondienst leisten“, erklärt Grimm aufblickend und fährt
fort: „Sorge im Herzen macht krank, aber ein freundliches Wort
erfreut. Der Rechtfertige hat es besser denn sein Nächster, als sein
Nachbar.“ Grimm schaut wieder kurz zu Benrath. „Aber der
Gottlosen Weg verführt sie. Einem Unfleißigen gerät sein Handel
nicht. Aber ein fleißiger Mensch wird reich. Auf dem Wege der
Gerechtigkeit ist das Leben, und auf der gebahnten Stiege ist kein
Tod. Das bedeutet, auf dem vom Herrgott geebneten Weg in den Himmel
ist das ewige Leben. Amen.“ Grimm legt die Inkunabel beiseite und
erhebt sich. Er sagt: „Der Fleißige wird herrschen im Reiche
Gottes. Das sagt unser Herr.“ – „Et pecunia abundabit“, denkt
ergänzend der Lateiner Benrath. Der Protestantismus, das
ideologische Rüstzeug der niederländischen und englischen und
hansischen Großhändler.
Im Hinausgehen ruft der
Generalkonsul, jetzt im Umhang, Hut auf dem Kopf und Stock in der
Hand, seinem Vize zu, der in der Diele mit Männern verhandelt: „Ik
gah tau dei Yacht.“ – „Is gaut“, antwortet der. In dem Moment
kommt mit viel Getöse ein weiterer Planwagen durch das Tor in den
Vorhof gefahren. „Brrr!“, hört man den Pferdeführer laut rufen.
Grimm und Benrath weichen aus und treten dann hinaus auf die Straße,
gefolgt von einem gerade sechzehnjährigen Lehrling, der einen
Handwagen voll gefüllt mit Paketen, Säcken, zusammengeschnürten
Briefsendungen und Beuteln aller Art, alles Post für Ystad, hinter
sich her klappernd und ratternd über das grobe Kopfsteinpflaster
zieht. Benraths Blick wird kurz angezogen von einem auf der
gegenüberliegenden Straßenseite stehenden, in Grau gekleideten
jungen Mann, der auffällig unruhig und finster aus einem blassen
Gesicht zu ihm herüberstarrt. Aber nur halb bewusst nimmt er das
Gesicht wahr, denn im Fortgehen ist er ganz ins Gespräch mit dem
alten Konsul vertieft.
Ich lasse in meinem
Szenario die Post nach Ystad direkt von Lübeck abgehen, obwohl es in
dem Stadtführer von 1814 heißt, die Postyacht fahre in Travemünde
los. Ich mache das, weil mich eine Fahrt nach Travemünde zu sehr von
Lübeck entfernen würde. Eine solche Fahrt wäre ja reizvoll mit dem
Dampfsegelboot. Das kenne ich aber nicht, ich müsste zuviel
fantasieren. So möchte ich das Szenario-Geschehen doch lieber in
dem berühmten Hafen von Lübeck beenden. Warum soll die Yacht heute
nicht ausnahmsweise in Lübeck in der Untertrave festgemacht haben?
Die beiden gehen, gefolgt von dem ratternden Karren, die Johannisstraße hinauf, müssen
immer wieder anhalten und sich an entgegenkommenden Wagen und
Pferdefuhrwerken vorbeizwängen. Vor dem offenen Tor zu einer
Schmiedewerkstatt, aus dem lautes Eisengehämmer dringt, stehen zwei
junge Handwerksgesellen und rauchen kurze Holzpfeifen. Eine alte
Frau schimpft: „Dei jung'n Mannslüüt smöökt up dei Schtraat jüst so as wenn sei nix tau daun hefft“ (Mecklenburgisch), und geht kopfschüttelnd vorüber. Am
Rathaus und an der Marienkirche vorbei, hinter ihnen der klappernde
Postwagen, geht es weiter durch die Mengstraße wieder hinab zur
Untertrave. Dort stoßen sie direkt zu den Kaimauern. Benrath sieht
sich plötzlich mitten im Hafen bei den Schiffen, die in einer
unübersehbar langen Reihe bis weit hinten hinter der Travebiegung am
Kai festgemacht liegen, kleinere Ein- und Zweimaster, aber auch
einige größere Dreimaster. Lautes, geschäftiges Treiben überall,
Wagen und Karren fahren herum, werden beladen, entladen, Schnauben
der Pferde, Rufe der Schauerleute, Segeltaue schlagen an die
schwankenden, knarrenden Mastbäume, über denen Möwen schweben,
Wellen klatschen, Tauben picken auf dem teils gepflasterten, teils
schlammigen Boden, flattern auf, oft Pferdemist, flachgetreten, sieht
aus, als wären die Kopfsteine mit dem Mist ausgefugt. Von einem
Haufen schmutziger Säcke, die an einer Hauswand gestapelt liegen,
wird unwirsch ein Hund verscheucht, schwere Schritte auf den
hölzernen Decks, würzige und faulige Gerüche vermischt mit der
Witterung von Wasser, Holz und Kalfater-Teer. Etwas abseits uriniert
ein Arbeiter an eine Backsteinmauer. Drüben von der
gegenüberliegenden Seite der Trave das Hämmern und Klopfen auf den
Werften und Docks der Lastadie (ausgesprochen: „Lastadi“,
Betonung auf der letzten Silbe). Aus einem der Schiffe am Kai wird
ein toter Fisch ins Hafengewässer geworfen, ein Schwarm Möwen
stürzt sich laut kreischend und zankend darauf. Das alles ist es,
was Benrath, der Lehrer aus dem Süden Deutschlands, wahrnimmt.
Wenn man sich mit den
verschiedenen Segelschiffstypen beschäftigt, die im 18. Jahrhundert
durch die Ostsee gefahren sind, dann wird einem klar, eine wie lange
Entwicklung da schon stattgefunden hatte: Die Zahl der
Betakelungsarten und Rumpftypen ist Legion, für den Laien
vollkommen verwirrend. Verwirrt ist auch der Binnenländer Benrath,
als er an der Lübecker Kaimauer entlanggeht und sich die Schiffe
zeigen und erklären lässt, die all die verschiedenen Frachten und
Güter durch die Meere transportieren, Eisen, Wein, Bier, Salz,
Tuche, Blech, Alaun, Zucker, Glas, Tabak, Hopfen, Juchtenleder,
Talg, Segeltuch, Wachs, Flachs, Seife, Kaffee, Essig, Öl, Kork,
Pflaumen, Südfrüchte, Papier, Terpentin, Grünspan, Getreide, Holz
– von Stockholm nach Reval, von London über Kopenhagen nach
Helsingfors, von Lübeck nach Riga, von Nowgorod über Brügge nach
Bordeaux, von Liverpool nach Bergen und von dort nach St. Petersburg.
Da liegen die zweimastigen Briggs und Schoner, Toppsegelschoner wie
Gaffelschoner, die Brigantinen und Galeassen und Holke und
Schoner-Briggs und die alten holländischen Kraweele. Die
Frachtsegler haben Fockmasten, Großmasten, Besanmasten, und die
Betakelung besteht aus Schratsegeln und Rahsegeln, Schratsegel sind
Gaffelsegel, Stagsegel, Hochsegel, Lateinersegel, Sprietsegel, da
sind die Focksegel an den Fockmasten, Besansegel an den Besanmasten,
Toppsegel, Rahsegel, Bramsegel, Marssegel an den Großmasten. Die
kleinen Museumsschiffe, die heute, Autolärm im Hintergrund, im
Museumshafen vor sich hin dümpeln, heißen Gertrud, Verwisseling,
Die Zwillinge von Kappeln, Johanne, Mathilde, Krik Vig, Ellen,
Hansine, Krista Rud, Rikke … Hießen so auch damals die Schiffe?
„Die großen
Dreimast-Barke und Vollschiffe kommen meist nicht die Trave herauf
bis Lübeck, die machen zum Löschen und Aufnehmen der Ladung in
Travemünde fest.“ Herr Grimm, der Hochseehändler (Reeder?), kennt
sich aus, aber nicht nur, weil er ein Hochseehändler ist. Alle
Lübecker kennen sich da aus, das gehört zum Leben der alten
Hansestadt an der Ostsee, jeder Hafenstadt an der Ostsee. Schon der
zehnjährige Wismarer Pastorenjung wird das alles gekannt haben,
1766.
„Die Schiffe fahren
nicht nur Güter in die Welt“, erklärt Grimm, „sie bringen auch
Güter aus aller Welt hierher. Sie werden nie ein unbeladenes Schiff
die Trave herauffahren sehen.“ – „Verlorener Verdienst?“,
fragt Benrath. Grimms Antwort: „Das zwar auch. Aber der wahre Grund
ist: Die Schiffe sind zu leicht ohne Ladung, der Wind würde sie zu
sehr hierhin und dorthin ans Ufer treiben. So haben die Lübecker den
Rotspon entdeckt.“ – „Rotspon?“ – „Kennen Sie den
Lübecker Rotwein nicht? Spon, vom Holzspan der Weinfässer. Auch im
Mittelalter mussten die Schiffe, wenn sie keine Waren brachten,
Ballast tragen, um nach Lübeck hereinzusegeln, so auch die Schiffe
aus Frankreich. Damals war französischer Rotwein nichts wert, und
man brachte die Rotwein-Fässer aus Bordeaux als reinen Ballast
hierher und lagerte sie unbeachtet irgendwo, so lange, bis der Wein
seine Reife erhielt. Da merkten die Menschen irgendwann zufällig,
dass der alt gewordene Wein besonders gut war. Und dann fingen die
Kaufleute an, mit diesem Bordeaux zu handeln: So sind wir auf den
Rotspon gekommen. Heute eine teure Ware.“ (Ein Touristenführer-Dööntje)
Die beiden Männer müssen
einem Träger ausweichen, der sie, einen riesigen Sack auf der
Schulter, mit schnellen, kurzen Schritten, ächzend unter seiner
Last, fast angerempelt hätte. Er flucht zwischen den Zähnen über
das Hindernis und stampft weiter zu einem Speicher, wo der Sack hin
soll. „Wir sind wohl im Weg“, sagt Benrath schüchtern, und der
Konsul lacht: „Ja, ja, hier wird fixing gearbeitet. Dat mutt sin.
Sehen Sie einmal dort.“
Er zeigt auf einen ziemlich großen Zweimaster, der gerade hereingesegelt kommt. „Das ist eine Schnau. Wissen Sie, was eine Schnau ist?“
Benrath hat das Wort noch nie gehört.
„Schnauen haben keinen Gaffelbaum“, erklärt Grimm fachmännisch. „Sehen Sie dort am Großmast?“ Er schaut Benrath an. „Der Großmast ist der hintere Mast, der größere.“ – „Achso“, macht Benrath nur. Sie sind stehengeblieben, und auch der Lehrling mit dem Handwagen muss warten. Grimm redet leidenschaftlich weiter: „Wenn Sie genau hinkucken, dann können Sie erkennen, dass das Vorderliek des Gaffelsegels nicht direkt am Mast befestigt ist. Das Segel hängt an der dünnen Spiere da. Kann man gut sehen. So können die Männer an Bord das Segel schneller rauf- und runterziehen. Manchmal knoten sie das Gaffelsegel auch mit einer Reihleine an das Jackstag.“ – Er sagt das ganz Lübeckisch: „Yäcksstääk“ – „Und kucken Sie mal an der Großrah, da ist ein separates Segel. Das haben nur die Schnauen, Briggs haben das nicht.“ Grimm geht völlig auf bei dem Anblick des Schiffes, das gerade halst und dann mit Tauen an die Kaimauer gezogen wird.
Benrath versteht nichts.
Er zeigt auf einen ziemlich großen Zweimaster, der gerade hereingesegelt kommt. „Das ist eine Schnau. Wissen Sie, was eine Schnau ist?“
Benrath hat das Wort noch nie gehört.
„Schnauen haben keinen Gaffelbaum“, erklärt Grimm fachmännisch. „Sehen Sie dort am Großmast?“ Er schaut Benrath an. „Der Großmast ist der hintere Mast, der größere.“ – „Achso“, macht Benrath nur. Sie sind stehengeblieben, und auch der Lehrling mit dem Handwagen muss warten. Grimm redet leidenschaftlich weiter: „Wenn Sie genau hinkucken, dann können Sie erkennen, dass das Vorderliek des Gaffelsegels nicht direkt am Mast befestigt ist. Das Segel hängt an der dünnen Spiere da. Kann man gut sehen. So können die Männer an Bord das Segel schneller rauf- und runterziehen. Manchmal knoten sie das Gaffelsegel auch mit einer Reihleine an das Jackstag.“ – Er sagt das ganz Lübeckisch: „Yäcksstääk“ – „Und kucken Sie mal an der Großrah, da ist ein separates Segel. Das haben nur die Schnauen, Briggs haben das nicht.“ Grimm geht völlig auf bei dem Anblick des Schiffes, das gerade halst und dann mit Tauen an die Kaimauer gezogen wird.
Benrath versteht nichts.
Sie gehen weiter, müssen
über einen Stapel Eisenketten steigen, der Lehrling macht einen
großen Bogen um den Kettenhaufen über das grobe, durchlöcherte
Pflaster, Säcke fallen herab, er hält an, hebt sie, vor sich
hinschimpfend, wieder auf, weiter geht’s. Sie hören aus dem
ohnehin schon lauten Stimmengewirr heraus einen Arbeiter einem
anderen zuschreien: „Treck de kodde Lien doruut, Kuddl!“ Woraus
Kurtel die kurze Leine herausziehen soll, bekommen sie nicht mit. Da
macht der alte Konsul seinen Begleiter auf ein anderes Segelschiff
aufmerksam, das am Kai festgemacht liegt, auch einen Zweimaster, aber
einen ziemlich kleinen. „Unsere Postyacht“, sagt er und erklärt:
„Zweimastiger Gaffelschoner, Großmast und Besanmast,
Gaffelbetakelung mit Stagsegel, Rundgattboot, eine Galeote, Rumpftyp
aus Holland, Küstenfrachtschiff“, und so weiter.
Eine schwedische
Postyacht war nicht viel größer als eine heutige Segelyacht. (Auf
dem Foto von so einer Postyacht lese ich die Maße: 15 Meter lang, 5
Meter breit, der Großmast 18 Meter hoch.) Die Boote waren weniger
schnittig als die Segelboote, die wir heute so kennen, für unser
Auge eher klobig, breit, und natürlich nicht aus weiß lackiertem
Kunststoff, sondern aus einfachen Holzplanken. Galeoten hießen diese
Boote, wie ich lese. Das sind sogenannte Rundgattboote, Boote mit
rundem Heck. (Im Duden steht falsch: mit spitzem Heck. Überhaupt
sind Duden wie Wahrig bei solchen Fachbegriffen reichlich ungenau,
stelle ich fest, wertlos. Besser schon Wikipedia, aber auch das nur
zum ersten Informieren. Man muss schon die Fach-Websites (und
-bücher) durchblättern, um Details zu erfahren. Und auch dort immer
mal Widersprüchliches: Auch die Fachleute sind sich nicht immer
einig.)
Damals galt so eine Yacht
als schnell und wegen ihres geringen Tiefgangs als überall
einsetzbar, auch und gerade in den engen Schärengewässern
Schwedens. Die Besatzungen bestanden in der Regel aus sechs Mann.
Eine Tour von Travemünde nach Ystad, an der Südküste Schonens
gelegen, Luftlinie gut zweihundert Kilometer entfernt, dürfte in
einem Tag zu schaffen gewesen sein, bei ungünstiger Witterung
vielleicht in zwei Tagen.
Ich lasse den Konsul mit
dem Kapitän der Yacht reden und gleichzeitig den Lehrling mit zwei
Leuten der Yachtbesatzung die Postladung vom Karren in das Boot
tragen und dort verstauen, während Benrath unbeteiligt beiseite
steht und das in den Ladebewegungen schaukelnde Gefährt betrachtet.
Das Szenario ist damit eigentlich am Ende. Der Kasseler Besucher soll
nur noch in seine Pension gehen, wo ihm Witwe Hansen ein Mittagessen
angeboten hat, Brathering mit Hirseklößen.
Bevor er sich von
Generalkonsul Grimm verabschieden kann, nimmt er wieder dieses
blasse, auffällig unruhig und finster zu ihm starrende Gesicht
wahr, diesmal aber plötzlich sehr bewusst, denn blitzartig erinnert
er sich, es vor dem Haus in der Johannisstraße gesehen zu haben. Er
erschrickt, unwillkürlich zieht er seine Ledertasche mit dem Geld an
sich, umgreift sie fester. Er wendet sich hastig an den Generalkonsul
und fragt ihn, ob der den jungen Mann in der grauen Kleidung kenne.
Grimm dreht sich um und schaut in die Richtung, die Benrath ihm
zeigt. „Welchen Mann?“, fragt er. Benrath sieht hin. Der Mann ist
fort. Viele andere Männer gehen an der Stelle umher, arbeiten,
reden, rufen sich Worte zu, gestikulieren. Aber der junge Mann ist
verschwunden. So sehr Benraths Blicke auch den Platz entlang der
Kaimauer absuchen, er ist nirgends mehr zu sehen.
Auf dem Weg zurück in
die Kleine Petersgrube schaut Benrath sich noch mehrmals um. Folgt
ihm der junge Mann in Grau? Nein. Nichts. Da müsse er sich etwas
eingebildet haben, beruhigt er sich, lässt die Tasche wieder
lockerer von der Schulter hängen und tappt entspannt mit dem Stock
auf den Boden.
Und doch, als er in der
Kleinen Petersgrube die „federnde Hausglocke“ (Ewers) zieht und
im Innern des Hauses das Läuten hört, als „Weetfru Hansen“ ihm
die Tür öffnet und er im Hineingehen noch einmal zurückschaut …
da sieht er den Mann drüben auf der anderen Straßenseite stehen.
Erneut fährt er zusammen, springt in die schmale Diele des Hauses.
„Was ist Ihnen, Herr Doktor?“, fragt die alte Frau erstaunt.
Benrath stößt hervor: „Kennen Sie den jungen Mann, der dort
drüben steht?“ Die Frau öffnet noch einmal die Tür und sieht
hinaus. „Ein junger Mann? Wo ist ein junger Mann?“, fragt sie.
Er ist wieder
verschwunden.
In
der Dööns
Ein guter Monat ist
vergangen, der Herbst fast schon vorüber, Bäume und Sträucher
haben das meiste Laub verloren, nur noch wenige gelbe und braune
Blätter hängen an Ästen und Zweigen. Collaborator Dr. Benrath ist
wieder nach Lübeck gekommen und marschiert heute, an einem Sonntag,
es ist Anfang November, erneut die Kleine Petersgrube hinauf. Er hat
den Mann in Grau mit dem unruhigen, finsteren Blick im blassen
Gesicht, der es auf sein Geld abgesehen hatte, keineswegs vergessen,
hält daher seine Ledertasche fest unterm Arm und geht schnellen
Schrittes, um den Inhalt der Tasche, es ist wieder viel Geld darin,
so rasch wie möglich loszuwerden.
Er hat einen Brief nach
Hamburg gesandt bekommen vom Vizekonsul Nölting: Die Karten für die
Dampferpassage im Sommer des kommenden Jahres lägen im Kontor Grimm
für ihn bereit, er könne jederzeit kommen, um sie zu bezahlen und
in Empfang zu nehmen. Jederzeit, hieß es ausdrücklich in dem
Schreiben, auch gern an einem Sonntagvormittag. So hat er sich in
Hamburg wieder Lübecker Geld besorgt und sich dann gestern nochmals
mit der Thurn-und-Taxisschen Postkutsche für, sagen wir, zwei Mark
und acht Schilling (vielleicht dreißig Euro) auf den Weg gemacht, um
diesmal allerdings nur wenige Tage in der Stadt zu bleiben.
Die Sonne strahlt von
einem tiefblauen Himmel in die windstillen Gassen Lübecks. Trotzdem
ist es bereits kalt, ein früher Winter hat sich schon seit Tagen
angekündigt. (Das Klima mit heute nicht zu vergleichen: 1823 hatte
die Erderwärmung noch nicht eingesetzt, noch lag Europa in einer
Kaltzeit, die vom Anfang des 17. bis weit in die Mitte des 19.
Jahrhunderts reichte.
Die
Jahre 1816 bis etwa 1820 übrigens besonders kalt: Der gigantische
Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora im April 1815 hat, wie
Klimaforscher später herausfanden, weltweit für eine zusätzliche
Kälte gesorgt mit Missernten, Getreideteuerungen, Hungersnöten, vor
allem im Jahr 1816. Über dies dunkle und kalte „Jahr ohne Sommer“,
wie es heute genannt wird, dichtete Lord Byron: „The bright sun was
extinguish'd, the icy earth swung blind and blackening in the
moonless air. Morn came and went – and came, and brought no day.“
(Aus „Darkness“, 1816))
Benrath trägt bei seinem Gang zum schwedischen Generalkonsul – er ahnt im fröhlichen Sonnenschein nicht das verstörende Ende des Tages – einen dicken Winterpaletot, der ihm bis an die Waden reicht, um den Hals einen Wollschal – damals schrieb man noch „shawl“ –, seinen hellen Zylinder auf dem Kopf. Jetzt am Vormittag, die Gottesdienste sind vorüber, sind es vor allem Kinder, in Mänteln, die die Straßen lärmend, schreiend, lachend, spielend bevölkern. Ansonsten ist wenig Betrieb, keine Fuhrwerke unterwegs, die Kontorhäuser geschlossen. Sonntag ist der Tag des Herrn, man ruht.
Benrath trägt bei seinem Gang zum schwedischen Generalkonsul – er ahnt im fröhlichen Sonnenschein nicht das verstörende Ende des Tages – einen dicken Winterpaletot, der ihm bis an die Waden reicht, um den Hals einen Wollschal – damals schrieb man noch „shawl“ –, seinen hellen Zylinder auf dem Kopf. Jetzt am Vormittag, die Gottesdienste sind vorüber, sind es vor allem Kinder, in Mänteln, die die Straßen lärmend, schreiend, lachend, spielend bevölkern. Ansonsten ist wenig Betrieb, keine Fuhrwerke unterwegs, die Kontorhäuser geschlossen. Sonntag ist der Tag des Herrn, man ruht.
Im Vorbeigehen wird
Benraths Aufmerksamkeit in einen der Arme-Leute-Gänge gezogen, die
von der Straße abgehen. Er bleibt stehen, blickt durch einen
niedrigen Torbogen in den Seitengang hinein und sieht eine Gruppe
von vier, fünf Mädchen, lange Röcke, Wintermäntel, aus Wollmützen
hängen dicke geflochtene Zöpfe herab. Sie singen und klatschen sich
dabei gegenseitig im Rhythmus ihres Kindergesanges abwechselnd an
ihre linken und rechten Hände, in einer Abfolge, die der fremde
Besucher nicht nachvollziehen kann. Als sie bemerken, dass sie
beobachtet werden, laufen sie kichernd an die Seite und verschwinden
hinter einer der kleinen Haustüren des Ganges. Weiter im Hintergrund
des schmalen, ziemlich verkommenen Gangs sieht Benrath andere,
kleinere Mädchen bei einem Hüpfspiel, ebenfalls singend.
Lächelnd geht er weiter.
Und schon wird er wieder aufgehalten durch sechs Jungen, nein, es
sind acht, die aus einem anderen Gang auf der gegenüberliegenden
Seite in die Gasse stürmen und sofort ein Spiel beginnen. Noch ein
neunter, kleinerer, kommt aus dem Gang hinterher gelaufen, darf auch
mitspielen. Benrath ist fasziniert. Er kennt das Spiel nicht,
versteht nur soviel: Zwei Parteien, die eine hat einen Schläger und
schlägt damit einen kleinen, festen, harten Ball die Straße
hinauf, den die anderen fangen müssen, zurückwerfen, der abgelegte
Schlagstock muss getroffen werden, Entfernungen werden mit langen
Schritten abgezählt, es wird viel und laut diskutiert. Die Jungen
nehmen ihr Spiel sehr ernst. „Was spielt ihr?“, fragt Benrath
einen von ihnen. Alle unterbrechen das Spiel, und der älteste
versucht, mühsam Hochdeutsch sprechend, zu erklären:
„Wir sspielt Klipp ...“
– „Wir sspielen Klipp“, verbessert ein anderer. „Ja,
wir sspielen dat Klipp-Sspeel ... Sspiel.“ (Kinder holsteinischer
Herkunft: „Wi sspeelt dat Sspeel.“ Mecklenburger würden sagen:
„Wi schpäält dat Schpääl“, weiter östlich: „Wi schpääln.“)
Der Junge versucht die Regeln zu erläutern. Aber Benrath winkt ab,
das ist ihm zu kompliziert und dauert zu lang. „Spielt nur weiter“,
sagt er, und die Kinder, die höflich ihr Spiel unterbrochen haben,
machen sich wieder mit großem Ernst und laut schreiend an ihr
Unternehmen.
Bei Ludwig Ewers wird
dies Klipp-Spiel erwähnt. Es scheint unserem Kippel-Kappel
(„Kibbl-Käbbl“ ausgesprochen) aus der Nachkriegszeit in der
Eimsbütteler Lindenallee zu ähneln, nur dass da nicht ein Ball,
sondern der Kippel, ein kurzes, an den Enden angespitztes Stück
Holz, mit dem Kappel in die Luft und weggeschlagen wurde, eine Art
Cricket, in dem die eine Partei den Kippel möglichst weit
wegschlagen, die andere ihn fangen und versuchen musste, den
abgelegten Kappel mit dem Kippel zu treffen. An viel mehr kann ich
mich nicht erinnern, zumal ich selber selten mitgespielt habe, das
war mehr ein Spiel der größeren Jungs. Es führt jetzt zu weit, die
genauen Kippel-Kappel-Regeln aufzuschreiben, die ich in einer
Homepage irgendwo entdeckt habe. Die Regeln des Klippspiels finde
ich nicht, müsste ich in einer Bibliothek suchen.
Solche Spiele gab es also
offensichtlich vor zweihundert Jahren in den Gassen Lübecks. Hat
auch der neunjährige Johann Anton das 1765 auf den Straßen Wismars
gespielt?
Benrath denkt an sein
Geld und geht weiter. Dennoch wirft er schnell einen Blick in den
Seitengang, aus dem die Jungen in die Kleine Petersgrube
herausgestürmt kamen: Ein so niedriger Torbogen, dass ein
Erwachsener sich bücken muss, um hindurchzugelangen. Auch in diesem
Gang ist alles sehr eng, sehr klein, die Hauswände schmutzig und
verfallen. Dort leben die Armen, das weiß er, die Knechte und Mägde
und Angestellten der reichen Kaufleute, die vorne in den
Kontorhäusern mit den repräsentativen Fassaden direkt an der Straße
wohnen, genauer gesagt früher einmal wohnten, als Lübeck noch die
Königin der Hanse war, denkt Benrath, vor vierhundert Jahren.
Er geht nun entschlossen
weiter, Kolk, Holstenstraße, Kohlmarkt, überquert den
Rathausplatz, auf dem sich allerlei rot und blau uniformiertes
Mannsvolk versammelt hat. Aber er will sich mit seinem teuren,
klimpernden Tascheninhalt nicht mehr aufhalten lassen und geht in die
Johannisstraße hinein und hinunter bis zum Kontorhaus des
schwedischen Generalkonsuls. Heute, am Sonntag, ist das Eingangstor
verschlossen.
Ich lasse an dem Tor
einen Ewersschen schmiedeeisernen Klopfer hängen, der „beweglich
in einer Angel hängt und mit seinem Kolben auf einem eisernen Amboss
liegt“. Benrath hebt ihn an, schwer, und lässt ihn auf das eiserne
Widerlager fallen, so dass es „dröhnt und der Widerhall dumpf im
Innern des Hauses grollt“.
Eine ältere, kräftige
Frau in einem einfachen Kittel öffnet. Benrath, der seinen Hut
abgenommen hat, fragt: „Guten Tag. Ist der Herr Generalkonsul zu
sprechen?“ – „Gaudn Dach. Sei sün' dei Herr Collaberater uut
Hammorch föör dei Passaasch nah Schtockholm?“, stellt die Frau mit
lauter, resoluter Stimme mehr fest als dass sie fragt. Benrath
versteht und bejaht. „Kümmt Sei man herinner, dei Herr Kunsel sitt in't
Kontoor un schrievt sien Korrespondenz.“ Sie gibt sich nicht die
geringste Mühe Hochdeutsch zu sprechen, sie kann es nicht.
Ich stelle mir vor, dass
im Hause Grimm immer schon eine Haushälterin gewirtschaftet hat, für
den Haushalt eines wohlhabenden Kaufmanns im 19. Jahrhundert nicht
ungewöhnlich – fünf Schilling Tageslohn (vier Euro), Kost und
Logis frei, lese ich. Und ich stelle mir weiter vor: Die Haushälterin
ist die gute Seele im Hause, verbirgt ihr herzliches Wesen hinter
einer burschikosen Art und einem lauten, schnodderigen Tonfall,
norddeutscher Charme. Als einfache Frau und gebürtige Lübeckerin
spricht sie nur Platt, was spaßig geklungen haben muss, als die
Hausherrin noch lebte: Baltische Anweisungen, Antworten auf Platt.
Ich nenne sie Anna-Sophia, sie wird aber nur „Fieken“ genannt,
Sophiechen, was sie gerne hört.
Diese Frau lässt Benrath
in die feuchte, kühle, heute dunkle Diele ein mit den
herumliegenden Eisenteilen, Lumpen und Sackhaufen. Sie verschließt
das Tor, nimmt dem Besucher seinen hellen Filz-Zylinder ab – heute
hat er keinen Stock – und führt ihn in das Kontor, das im
Sonnenlicht hell erstrahlt und behaglich warm ist von einem in der
Ecke stehenden gusseisernen Ofen, der Benrath bei seinem letzten
Besuch gar nicht aufgefallen ist. Der Generalkonsul erhebt sich zur
Begrüßung und bietet Benrath mit seinem ernsten Gesichtsausdruck
einen Platz an, nachdem die ältere Haushälterin auch seinen Paletot
in Empfang genommen hat. Eine junge Frau, Mitte zwanzig, steht an
einen Tisch gelehnt bei dem alten Mann. „Dorothea, meine Tochter“,
stellt der sie vor. Benrath spürt ihre Blicke auf den Berlocken an
seiner silbernen Uhrkette, die an der Weste unter seinem grünen
Jackett baumelt, und hofft, dass sie ihn darauf anspricht, so dass
sie ins Gespräch kommen. Aber sie wendet sich der Haushälterin zu.
Und während jetzt der Generalkonsul und der Collaborator ihr
Geschäft abwickeln, unterhalten sich die beiden Frauen zwanglos auf
Platt. Es wirkt auf Benrath, als setzten sie ein Gespräch fort, in
welchem sie durch sein Kommen unterbrochen worden sind.
Grimm wendet sich an den
jungen Besucher: „Haben Sie das Geld mit?“ Benrath öffnet seine
Tasche, holt das Tuch heraus, bindet es auf und schüttet die Münzen
auf den Tisch. „So viele Markstücke müssen Sie mit sich
herumtragen“, sagt Grimm. „Wir Kaufleute sind inzwischen bei
solchen Summen zu Banknoten übergegangen. Solche Münzhaufen sind zu
unhandlich. Außerdem können Gelddiebe – die gibt es nun mal
überall – mit den Noten nicht viel anfangen, denn keiner nimmt
ihnen ab, solche „Bankzettel“ (den Ausdruck finde ich
mehrfach) auf ehrliche Weise erworben zu haben.“ – „Ich
trage auch nicht gern so viele Münzen mit mir herum“, entgegnet
Benrath und zählt Taler Courant für Taler Courant und Doppelmark
für Doppelmark und Acht-Schilling-Münze für Acht-Schilling-Münze
auf den Tisch. „Ich habe immer Angst vor einem Überfall. Das
letzte Mal ist mir eine düstere Gestalt bis vor die Haustür meiner
Pensionswirtin gefolgt.“ – „Am hellichten Tage“, erwidert
Grimm, „brauchen Sie sich nicht zu sorgen. Aber nachts müssen Sie
schon achtgeben, bei uns in Lübeck („Lübeek“) hat es da schon
in bestimmten Straßen um den Marktplatz herum böse Überfälle
gegeben. Auch ich bin von so einer düsteren Gestalt verfolgt worden,
mehrmals, und war froh, dass ich kein Geld bei mir hatte. Aber eine
Uhr kann ebenso das Interesse eines gewissen losen Gesindels wecken,
ein Ring, eine Krawattennadel, Manschettenknöpfe. Man kann nicht
vorsichtig genug sein. Ich habe schon mit unserem Polizeisenator
gesprochen, dass der Bruchvogt (Wachtmeister) und die Polizeidiener
und Wächter auch des Nachts ein offenes Auge in den Straßen und
Gassen unserer Stadt haben.“ – Benrath ruft lachend: „Jedenfalls
bin ich erleichtert, mich meiner Geldlast entledigt zu haben. Ich
gehe jetzt ruhiger durch die Straßen.“
In diesem Moment öffnet
sich eine Hintertür, und eine Frau mit einem kleinen Mädchen in
langem Kleid kommt herein. „Gaudn Dach, Herr Kunsel, gaudn Dach,
Madahms“, sagt sie, und das Mädchen, vielleicht gerade sechs Jahre
alt, will wie aus Gewohnheit zum alten Herrn stürmen, als es
beim Anblick des Fremden stehenden Fußes umdreht und zurück zur
Frau läuft, offenbar seiner Mutter. Grimm stellt den fremden
Besucher und die Frau, eine Nachbarin, einander vor, das Mädchen
muss zu Benrath hingehen, und mit einem artigen Knicks sagt es:
„Gaudn Dach, Herr Collaberater.“ Worauf dieser ebenso artig
antwortet: „Guten Tag. Wie heißt du denn?“ – „Ernestine“,
die Antwort. Dann entspannt sich die Verlegenheit, das Mädchen
setzt sich auf den Schoß des Alten, dessen sonst eher ernste Züge
in ein weiches Lächeln übergehen. Das Kind sagt etwas
Plattdeutsches, das Benrath nicht versteht, außer dem Wort
„Grootvadder“. „Ihr Enkelkind?“, fragt Benrath. „Nein, ein
Kind der Nachbarin hier. Aber für mich wie eine Enkelin, und sie
nennt mich Großvater. Für mich ist sie Schtine. Mien Schtine, mien oll
lütt Schtining, nich?“, ergänzt er, zärtlich dem Kind auf seinem
Schoß zugewandt, das verspielt an seinem gepflegten Knebelbart
zupft.
Entweder hat der Konsul
seine Korrespondenz, von der die Haushälterin gesprochen hat, schon
zu Ende geschrieben, oder die Frauen haben ihn in seiner
Kaufmannstätigkeit unterbrochen, jedenfalls ist jetzt, mit dem
Mädchen auf dem Schoß, an ein Arbeiten überhaupt nicht mehr zu
denken. Das ist wohl nur möglich, weil heute Sonntag ist.
Die neu eingetretene
Nachbarin beginnt etwas auf Plattdeutsch zu erzählen, das ich aber
leider auf Hochdeutsch wiedergeben muss, da ich es aus Ewers'
„Großvaterstadt“ so übernehme. Benrath, der sich im Moment
sich allein überlassen sieht, versteht nur, dass es sich um einen
Brand in der vergangenen Nacht handelt. „Haben Sie von dem Feuer
diese Nacht gehört? Haben Sie den Trommelwirbel gehört?“ Die
beiden anderen Frauen verneinen. „Na, man gut“, fährt die Frau
fort, „dass Sie nach hinten raus schlafen. Aber wir hören alles
aus erster Hand. Ferdinand, sag ich zu meinem Mann, Ferdinand! Der
Trommelwirbel! Na und mein Ferdinand ja nun gleich aus'm Bett raus
und das Fenster aufgemacht. O wie klang das schaurig, die Trommeln
und die Feuerhörner!“ Die Frau kann ihre Sensationslust nicht
verbergen. „Sehn taten wir nichts. Aber denn das Peitschenknallen!
Wir haben ja das Spritzenhaus hier gleich an der Ecke. Ich lag wie
in Schweiß gebadet in mein' Bett. Und mein Ferdinand, wie er ist,
rein in sein' Anzug. „Da muss ich hin“, sagt er und läuft raus.
Und stellen Sie sich vor, er lässt das Fenster auf. Und ich muss ja
nun alles hören.“ Sie hat es ganz offensichtlich mit großer
Neugier gehört. „Die Trommeln und die Hörner und bald das
schreckliche Gellen von den Sprützenglocken; und ich ermanne mich
denn ja nu und steh auf, koche Kaffee, wie ich das von meine
kindlichen Jahren an gewöhnt bin.“
Die Haushälterin meint
dazu auf ihre schnodderige, laute Art: „Ich wundere mich, dass man
noch immer die Trommeln schlagen lässt und den gräulichen Lärm
macht. Die Feuerwehr kann doch ihr Wasser auch spritzen, ohne dass
die ganze Stadt aus dem Schlaf getrommelt wird. Dadurch werden ja
bloß Neugierige und Aufgeregte angelockt, die nachher im Wege
stehen.“ Doch die Nachbarin, die diese Anspielung auf ihren Mann
verstanden hat, ereifert sich: „Sagen Sie das nicht! An den
Pumpenwagen brauchen sie immer Leute, sechs an der einen Stange und
sechs an der andern, damit die Feuermänner an der Brandstelle
sprützen können. Und nu erst mein Ferdinand, als er nach Hause kam.
Ordentlich mitgepumpt hat er! Aber wissen Sie, wo das Feuer war? In
der Garbereiterei (Garküche) in der Wahmstraße hat es gebrannt.“
Nur so ein kleiner
Einblick in das Feuerlöschwesen der Zeit.
*
* * * * * *
Nach längeren Gesprächen
– Haushälterin Fieken ist inzwischen in die Küche gegangen –
wird zum Mittagessen in den Essraum im ersten Stock gerufen. Auch
Collaborator Benrath ist eingeladen. Die Nachbarin geht nach Hause,
das Kind darf bleiben. Alle begeben sich nach oben.
Im Essraum ist die
Familie versammelt, neben dem Hausherrn und Dorothea noch zwei
weitere Töchter des Generalkonsuls, Katharina, knapp 21, und
Charlotte, knapp 19. „Mien Döchtings“, stellt Grimm sie gut
gelaunt Benrath vor, „meine Töchterchen.“ Die älteste der drei,
Dorothea, wurde übrigens, laut Wilhelm Grimms „Lebensskizzen“,
„Dorchen“ genannt. Und ich frage mich, warum nicht niederdeutsch
„Dörte“? Ich vermute: Die
Verkleinerungsform „Dorchen“ kam von der baltischen Mutter, und
man muss sich das aus ihrem Mund in baltischem Singsang mit stark
gerolltem Zungen-r vorstellen: Doorrchen.
Am 2. November 1823, dem
Tag dieses Szenario-Besuches, lebten von den ursprünglich acht
Kindern nur noch diese drei Töchter im Hause. Die drei Söhne waren
alle in Russland: Bernhard Christian, mit 35 Jahren der älteste,
schon seit fast zwanzig Jahren in Riga, machte dort eine
erfolgreiche Kaufmannskarriere, noch erfolgreicher der 29-jährige
Eduard Wilhelm Tielemann, der spätere Rigaer Bürgermeister, mein Ururgroßvater, Wilhelms („Lebensskizzen“) Vater, und
schließlich Anton Joachim, der zunächst auch nach Riga gegangen war
und dann in St. Petersburg als Professor in einem Pädagogischen
Institut arbeitete. Anna war sieben Jahre zuvor gestorben, in der
Nähe von Riga, auch sie hatte Lübeck verlassen. Meine große Frage:
Warum sind alle Kinder nach Riga gegangen? Nach Johann Antons Tod
auch noch „Dorchen“ und Katharina; nur die jüngste, Charlotte,
ist in Lübeck geblieben und starb dort früh, 1835, gerade
dreißigjährig. Warum sind alle anderen nach Riga gegangen? Alle zu
den mütterlichen Großeltern von Huickelhoven? Warum hat keiner der
Söhne die Firma in Lübeck übernommen? Die Frage bleibt ohne
Antwort.
Zum Essen sind außer der
Familie alle Angestellten des Grimmschen Handelshauses anwesend:
drei Lehrlinge, ein Kommis, ein junger Kutscher, ein Arbeiter,
Haushälterin Fieken und ein „Folgemädchen“, Dienstmädchen, das
Fieken in der Küche hilft, alle unverheiratet. Nur der Vize, Herr
Nölting, ist nicht da. Alle wohnen im Hause und nehmen
selbstverständlich an den Mahlzeiten mit dem Prinzipal teil.
Was aß man zu Johann
Antons Zeiten? Ich finde nicht viel: Klöße mit Sirupsauce,
„Saucischen“ (lange Kettenwürste), „Kalwerbraden“, „suur
Swienfleesch“, zum Nachtisch „Heetwegen“, Kräuter-Heißwecken,
„schmackhaft und mit einer schwer verdaulichen Mandelfüllung“
(Ewers). Für einen kleinen Imbiss unter Freunden lese ich bei Ewers:
eine Schüssel hochgehäuft voll Franzbrotschnittchen (Franzbrot nannte man das französische Weißbrot), die mit
gewürfeltem Ei, geräuchertem Lachs und andern guten Dingen belegt
sind, dazu eine Karaffe mit rotem, süß und streng zugleich
duftendem Bischof, einem Destillat von Rotwein und Orangenschale, für die Damen; die Herren erhalten eine Flasche Lafite,
edlen französischen Rotwein. Bei Fritz Reuter isst einer
„meckelbörgsch Pölltüften (Pellkartoffeln) un stippt sei in
meckelbörgsch Speck“.
Ich nehme an, es wurde in
einer Hafenstadt viel Fisch gegessen. Daher lasse ich jetzt Aalsuppe
mit Kartoffelklößen auftischen. Oder würde Benrath lieber einen
heimischen Rippenspeer essen? Vielleicht gibt es ja auch einen
sonntäglichen „Swienbraden“. Schwein war besser als Rind,
wahrscheinlich weil die Kühe damals kleiner und magerer als unsere
heutigen Kühe waren, während Schweine immer schon schön fett
gemästet wurden. Und fett galt als gesund, in mageren Zeiten
durchaus verständlich.
Nach dem Essen gehen die
beiden Herren in die „gaude Dööns“ noch einen Stock höher, wo
die Privatgemächer sind. Die Frauen machen sich an ihre Hausarbeit,
die Angestellten ziehen sich zurück zu irgendwelchen sonntäglichen
Betätigungen, nur die kleine Stine darf mit in die Dööns. An der
Tür erwartet Fieken die Anweisung des Hausherrn: „Schall ick Tee
ouder Koffe kaken? Un Schockelohr föör de Diern?“
„De gaude Dööns“,
das ist die gute Stube. Diese „Dööns“ (meist „Döns“
geschrieben) sollte man sich nicht zu plüschig vorstellen, wahrscheinlich auch nicht so hell
und reich ausgestattet wie die Wohnzimmer (etwa das
„Landschaftszimmer“) der reichen und vornehmen
Buddenbrooks/Manns. Ich denke, bei den durchschnittlichen Kaufleuten - und ich glaube, mein Ahn war ein nur mäßig erfolgreicher Kaufmann - sollte man die "Dööns" eher bescheiden - wenn auch sicher gediegen - und durch die
Kleinheit der Fenster abgedunkelt sehen, natürlich bequeme
Holzstühle mit Armlehnen, vielleicht ein größeres Sofa, ein großer
Tisch, eine Vitrine mit Geschirr und Gläsern, daneben eine Kommode,
ein Eisenofen, das alles in einem Raum mit dunkler Holztäfelung und
einer dezent dekorierten Paneel-Decke, etwa wie im „roten Zimmer“
im Rathaus. (Unser Altstadtführer weist auf die Decke hin und meint,
so hätten die Wohnzimmerdecken der reichen Kaufleute ausgesehen.) Aber vielleicht täusche ich mich hier, vielleicht war das Zimmer hell und lichtdurchflutet, wo doch das Haus ein Bau im damals modernen klassizistischen Stil ist, weiß, offen, freundlich - anders als die engen Backsteinhäuser aus dem Mittelalter. Und vielleicht war Grimm doch wohlhabend genug, um sich eine üppige Möblierung zu leisten, warum nicht im verspielten Biedermeierstil, befinden wir uns 1823 doch in der Zeit des Biedermeier (1815 - 1848).
Auf der Kommode an der
Wand steht ein großer Glaskelch, der wohl zum Säubern aus der
Vitrine geholt worden ist. Die kleine Stine, wieder auf dem Schoß
des alten Mannes, sieht den Pokal zum ersten Mal und fragt
schüchtern-neugierig mit ihrem Kinderstimmchen: „Wat is'n dat föör
'n fläämschn Pott, Grootvadder?" Grimm antwortet bewusst auf
Hochdeutsch: „Das ist kein Pott, mein Kind, das ist ein Glaskelch.
Und der ist auch nicht flämisch, das sagt man in gutem Deutsch
nicht, mien Schtining, man sagt: Der ist groß, oder: Der ist hoch. Aus
dem Kelch haben die schwedische Königin und der schwedische König
getrunken." Das Kind, dem Hochdeutsch schwerfällt, hört
aufmerksam zu und erwidert erstaunt: „Uut den grootn Kelch drinkt
ein?" – „Ja, aus dem trinkt man." – „Wat hefft sei
denn doruut drunken, dei Königin un dei Könich?" –
„Champagner“, antwortet der Alte, worauf Stine fragt: „Wat is
dat?“ Aus dem Hintergrund ruft Fieken mit ihrer lauten Stimme:
„Champagner, dat is Knallkööm. Dat wier'n püükn (reiner)
Knallkööm uut Frankriek wääst, wier dat. Un dei Frugensperson,
Könichlich Hoochheit, hett man bannich göölt, de Knallkööm."
– „Das stimmt nicht", sagt der Generalkonsul, sich halb
entrüstet, halb belustigt zu der Haushälterin umdrehend, „die
Königin hat nicht gegöölt, sie hat ganz sittsam und langsam
getrunken." Die Haushälterin beharrt: „Ik heff dat nipping
seihn, Herr Kunsel. Döörchläuchten hett dei Knallkööm hellschn gaut
afköönt, hett sei man." (Ich hab das ganz genau gesehen.
Durchlaucht hat den „Knallkümmel“ höllisch gut abgekonnt, d.h.
er hat ihr geschmeckt.)
Auf Benraths Nachfrage
erzählt Grimm vom Besuch der schwedischen Königin. Bei Tee und
später „Geel'n Kööm“ (dem friesischen „gelben“
Kümmelschnaps) kommt man dann weiter ins Gespräch – das Mädchen
ist inzwischen „nah Huus“ gegangen –, der Alte könnte sich
eine Pfeife angezündet und selbstverständlich seinem Besucher eine
angeboten haben. Möglich aber auch, dass die beiden Männer eine
Prise „Snuwtoback“ zu sich nehmen.
Ich möchte an dieser
Stelle versuchen, in einer kurzen Auseinandersetzung zwei
unterschiedliche Sichtweisen der französischen Besatzung
anzureißen, ein politisches Thema, das die Gemüter noch Jahrzehnte
beschäftigt hat. Der Konsul schildert seinem Besucher im Detail, wie
er persönlich als Händler und als Vertreter einer fremden Macht
unter der Besatzung gelitten habe, Details, die ich nur zu gern hier
wiedergeben würde, die ich aber leider nicht kenne, wo ich nicht
einmal weiß, warum die Hausdurchsuchung stattgefunden hat. Immerhin,
über deren Stattfinden sind wir informiert. Ich setze fest, dass
Grimm die damals übliche anti-französische Haltung zum Ausdruck
bringt, auf die ich Benrath zurückhaltend reagieren lasse, Benrath,
den aufgeklärten Demokraten, der auch die positiven Seiten der
Franzosenherrschaft sieht und für den Napoleon ein Befreier war, der
die Ideen der Französischen Revolution nach Deutschland gebracht
habe, eine Einstellung, die nur wenige seiner Zeitgenossen teilen.
(Heinrich Heine war so einer: „weltlicher Heiland“, Napoleons
„Lippen brauchten nur zu pfeifen – et la Prusse n'existait plus
(Heine meinte die reaktionäre Hohenzollern-Herrschaft)
– diese Lippen brauchten nur zu pfeifen – und die ganze Klerisei
hatte ausgeklingelt ...“, 1826)
„Haben
Sie“, fragt der Konsul, „in Kassel denn nicht ebenso unter dem
Franzosen zu leiden gehabt?“ – „Doch, gewiss, auch bei uns hat
es Plünderungen gegeben. Und auch Enteignungen.“ – „Na eben.
Sie haben doch zum sogenannten Königreich Westphalen (mit
ph) gehört. Napoleons unfähiger Bruder Jérôme
hat ja bei Ihnen in Kassel als König seines „Royaume de
Westphalie“ residiert.“ – „Ja“, ruft Benrath lachend aus.
„Schrohm, König Lustig, der fröhliche Verschwender. Besonders
großartig war der nicht. Aber das sind doch die anderen aus den
angestammten Königshäusern meist auch nicht. Der preußische König
...“ – „Ach der preußische König“, winkt der Alte grinsend
ab. Die beiden meinen den entscheidungsschwachen Friedrich Wilhelm
III. (1770 – 1840). „Manchmal wünscht man sich tatsächlich
eine Herrschaft der Besten, nicht der ältesten Söhne.“ Darauf
Benrath: „Die Revolution in Frankreich hat ja genau das erreicht:
Napoleon war doch so ein Bester.“ – „Das war er wohl“, sagt
der Konsul, „aber nur zum Wohle seines eigenen Landes, nicht zu
unserem Wohle.“ – „Nicht immer zu unserem Wohle“, räumt
Benrath ein. „Aber ich denke trotzdem immer auch an den Code
Napoléon, das neue Gesetzbuch, das Napoleon bei uns eingeführt hat,
gerade bei uns in Kassel, wo wir ein echtes Parlament bekommen haben.
In allen Ländern, die Napoleon erobert hat, ist die Leibeigenschaft
der Bauern aufgehoben und die Gleichheit jedes Mannes vor dem Gesetz
in die Tat umgesetzt worden, die Trennung von Kirche und Staat, die
Religionsfreiheit, die Unantastbarkeit des Privateigentums ...“ –
„Junger Mann“, unterbricht der Konsul, „Ihre demokratischen
Auffassungen in allen Ehren, aber Sie äußern sie sehr offenherzig.
Damit sollten Sie vorsichtig sein. Bei uns in der bürgerlichen
Hansestadt dürften Sie wohl unbeschadet so demokratisch auftreten
können. Aber in anderen deutschen Ländern, in Preußen, werden Sie
sich diesbezüglich zurückhalten müssen. So ist schon mancher
Übereifriger in Festungshaft geraten.“ Der Kaufmann sagt das so
gutmütig, dass Benrath spürt: Er muss sich hier nicht zurücknehmen.
„Sagen Sie, Herr Dr.
Benrath, Sie sprechen von der Unantastbarkeit des Eigentums ...“ –
„Ja, im Code Napoléon ...“ – „Heute können wir den getrost
wieder Code Civil nennen.“ – „Das stimmt“, sagt Benrath. „Im
Code Civil steht das Privateigentum unter staatlichem Schutz. Kein
Fürst kann sich ungestraft an dem Privateigentum eines gemeinen
Mannes vergreifen.“ – „Und ist unser Privateigentum
unangetastet geblieben vom Franzosen?“, fragt Grimm.
Benrath schweigt einen
Moment und denkt nach. Soll er argumentieren: „Mais c'etait la
guerre“, wie es radikalere Bonapartisten taten? Das gefällt ihm
jedoch nicht, er sagt sich, auch ein guter Krieg sei keine
Entschuldigung für Überfälle, Diebstähle, Plünderungen. Er gibt
daher zu: „Eigentum ist oft nicht geschützt gewesen, viel ist an
die französische Soldateska verlorengegangen. Aber das waren
Marodeure. Wenn sie von den eigenen Offizieren beim Stehlen und
Plündern ertappt wurden, hat man sie hingerichtet.“ – „Nicht
hier in Lübeck. Und wo das geschah, hat es den Bestohlenen nichts
genützt, ihr Eigentum haben die Menschen nur in den seltensten
Fällen wiedergesehen.“
Der alte Mann nimmt –
ich lasse ihn rauchen – einen nachdenklichen Zug aus seiner Pfeife.
Dann fügt er hinzu: „Aber es wurde ja auch nicht nur geplündert
und gestohlen. Was ist mit den Kriegs- und Strafsteuern zu
Frankreichs Gunsten? Was mit den Einquartierungen? Und den
Zwangsarbeiten? Und, vor allem, was ist mit den Beschlagnahmungen für
die französische Armee? Ich selber musste einiges abgeben. Aber ich
konnte immer meine Familie satt kriegen, so etwas hat mich nicht
gleich ins Armenhaus gebracht. Ich habe jedoch gesehen, wie
bedürftigen Menschen zumute war, denen der Franzos' – dat
Takeltüüch! – alles genommen hat, was der für seine Feldzüge
brauchte, Essen, Getränke, Küchengeräte, Werkzeug. In allen
Städten war es so, nicht nur hier in Lübeck. Aus Wismar, meiner
Heimatstadt, habe ich schreckliche Dinge gehört. Draußen auf dem
Land, in Mecklenburg (Er spricht es Platt
„Määklborch“ aus) nicht anders, wo sie den Bauern das Vieh und die Pferde aus dem Stall
gezogen haben, die Lebensgrundlage, einfach im Vorbeireiten aus dem
Stall gezogen und mitgenommen, confisqués, gehörte jetzt der Grande
Armée. Solche Vorkommnisse waren es, die diese armen Menschen mit
Hass erfüllt haben, nicht die neue Ordnung. Die war ihnen
gleichgültig. Für diese Leute waren die Franzosen einfach nur
Diebe, gottverdammte Halunken, und sind es noch heute, und zwar alle
Franzosen.“
Benrath schweigt
betroffen. Er kann nicht abstreiten, dass fürchterliche Dinge in der
Franzosenzeit passiert sind. „Und, junger Mann, auch ich mag sie
nicht, die Franzosen. Aber wissen Sie, Herr Collaborator“, setzt
der Konsul begütigend hinzu, „nun ist es ja vorbei. Wir haben
Frieden, und es geht wieder bergauf mit uns. Wie wir hier auf
Niederdeutsch sagen: Ook wenn sük uut ein Swiensuhr miendach' kein
sieden Geldbüüdl maaken lett, dat kümmt aal wedder tau Schick. Auch
wenn sich aus einem Schweineohr nie ein (meine Tage kein)
seidener Geldbeutel machen lässt, kommt das schon wieder in Ordnung,
tau Schick.“ Er nimmt einen letzten Zug aus seiner Pfeife und legt
sie dann beiseite. „Und was Ihre Demokratie angeht: Sei kümmt vun
allein, öäwer sei mutt vun uns sülwn kam'n, nie nich vunne
franzööschn Suldaadn, wie mir mal ein Hamburger Demokrat sagte.“
Vielleicht war Johann
Anton Grimm aber gar nicht ein so gelassen gutmütig diskutierender
Franzosengegner, vielleicht war er ein strammer, bärbeißiger
Nationalist wie später sein Enkel Wilhelm Grimm („Lebensskizzen“),
der kämpferisch-strenge lutherische Pastor, der sich über die
evangelisch-orthodoxe Mischehe seines jüngeren Bruders in Astrachan
geärgert hat, und der 1892 von den zaristischen, orthodoxen
Behörden aus seinem Pastorat in Uexküll bei Riga hinausgeworfen und
des Russischen Reiches verwiesen wurde, weil er zu lautstark auf
seinen evangelisch-lutherischen und deutschen Standpunkten beharrte.
Für ihn war Goethe ein „überschätzter“ Literat, dem es vor
allem am nationalen Standpunkt gemangelt habe. Aber ich brauche für
das Szenario in Johann Anton Grimm diesen freundlichen Diskutanten,
mit einem aggressiv radikalen Nationalisten à la Freiherr von
Rönnstein wäre nicht zu reden.
Die
beiden Männer unterhalten sich noch über dies und jenes, man kommt
vom Hölzchen aufs Stöckchen, Benrath erzählt von Hamburg,
von seiner Heimatstadt Kassel, auch einige Histörchen von „König
Lustig“, Grimm kommt auf den Tod seiner Frau zu sprechen, fast holt
er seine Bibel, was Benrath gerade noch abwenden kann, indem er dem
Alten Fragen stellt zu dem, was man in Lübeck an Vergnügungen und
Kultur erleben könne.
Ich könnte jetzt den
Kaufmann einen literarisch und musikalisch interessierten Mann sein
lassen. Denkbar wäre das, ein Kaufherr, der etwas auf sich hielt,
bemühte sich, modern aufgeklärt, gern um bürgerliche kulturelle
Bildung. Auch spielte in seiner Nachkommenschaft zumindest die
Literatur eine Rolle: Nicht nur war sein zweiter Sohn Anton Joachim
ein studierter Altphilologe (Latinist), sondern auch ist von seinem
ältesten Sohn, dem reichen Kaufmann Bernhard Christian,
überliefert, dass er keineswegs in seinem Kaufmannsberuf
aufgegangen sei, sondern viel gelesen habe, er „erfreute sich an
den literarischen Werken seiner Zeit“, steht in den
„Lebensskizzen“. Und auch in meinem Familienzweig – vom Rigaer
Bürgermeister Eduard Wilhelm Tielemann ausgehend – war „Bildung“
immer wichtig. Das alles kann in Johann Anton schon angelegt gewesen
sein. Wer weiß, vielleicht war er ja einer der vier Kaufleute, die
im Januar 1789, als er gerade aus Riga nach Lübeck gekommen war,
zusammen mit einundzwanzig anderen Interessierten die „Litterarische
Gesellschaft“ gegründet haben.
Wenn dem so war, dann
könnten Grimm und Benrath jetzt die noch lebenden Kulturgrößen
ansprechen, Schubert, Beethoven, dessen neue Oper „Fidelio“
könnte ich in Lübeck aufführen lassen. (Ich lese, dass zu der
Zeit in Lübeck Konzerte von Haydn („Die Schöpfung“), Händel,
Mozart („Don Giovanni“) gegeben wurden, und dass im Theater ein
freiheitlicher Geist wehte: Schillers „Don Carlos“ wurde
gespielt, und schon 1788 „Nathan der Weise“.) Die beiden könnten
die Köpfe schütteln über den gerade bekannt gewordenen
Heiratsantrag des berühmten, inzwischen vierundsiebzig Jahre alten
Dichters Goethe an eine Neunzehnjährige. Ich könnte sie über die
„Marienbader Elegie“, die Goethe über diese vergebliche Liebe
soeben veröffentlicht hat, reden und einen von den beiden sagen
lassen, dass Goethe zwar ein Liebesnarr sei, aber dennoch ein großer
Dichter. Ich könnte sie über die moderne Literatur der jungen
Romantiker sprechen lassen.
Vielleicht war Johann
Anton aber gar nicht so kulturbeflissen und hatte stattdessen eine
soziale Ader, auch ganz im Geiste der Aufklärung, um 1800 unter
Wohlhabenden immer verbreiterter. Dann war er eventuell an ganz
anderen Gründungen beteiligt, die es in seiner Lübecker Zeit gab,
Gründungen gemeinnütziger Einrichtungen wie die Rettungsanstalt für
im Wasser Verunglückte, oder eine Schwimmschule, oder eine
Kreditkasse für Gewerbetreibende, oder eine „wohlfeile
Speiseanstalt“, oder eine Industrieschule für bedürftige Mädchen,
oder das Ostseebad in Travemünde. Oder gehörte er, ganz im
Gegenteil, zu denen, die gegen solche Einrichtungen opponierten
voller „Vorurteile und Aberglauben, Zunft- und Departementsgeist“?
(Antjekathrin Graßmann, Spiritus Rector der Lübecker
Geschichtsschreibung, in der von ihr herausgegebenen „Lübeckischen
Geschichte“)
Wie auch immer, die
Mehrheit der Lübecker hatte noch ganz andere Interessen und liebte
andere Vergnügungen und Belustigungen. Ich lasse Johann Anton dem
nun folgen, einfach deshalb, weil ich etwas darstellen möchte, was
wir heute nicht mehr kennen, nämlich die folgende Veranstaltung, die
ich jetzt am Sonntag, dem 2. November, auf dem Burgfeld vor den
Mauern der Stadt stattfinden lasse.
Der Generalkonsul fragt
Benrath: „Mögen Sie mich zur Waffenübung unserer Bürgergarde
draußen vor dem Burgtor begleiten?“ Benrath erinnert sich, die
blauen und roten Uniformen einiger Gardisten auf dem Weg in die
Johannisstraße auf dem Rathausplatz gesehen zu haben. „Waffenübung
der Bürgergarde?“, fragt er. „Ja“, antwortet Grimm. „Seit
dem Ende der französischen Besetzung haben wir wieder eine
Bürgergarde. Ich war am Anfang auch dabei, bin aber nun aus dem
Alter raus. Die Bürgergarde exerziert heute auf einem Feld vor dem
Burgtore, zum letzten Male in diesem Jahr.“
Die beiden machen sich in
Mantel und Hut – der Generalkonsul feierlich mit Perücke und
Dreispitz, altmodisch, wie er ist – auf den Weg zum nördlichen
Burgtor und hinaus zum Burgfeld, wo sich am sonntäglichen
Nachmittag Hunderte, wenn nicht Tausende Lübecker zu einem wahren
Volksfest versammelt haben. Blau und rot blinken und leuchten die
Uniformen, Sturmbänder aus Messing und goldene Epauletten funkeln
um die Wette mit blanken Gewehrläufen, blitzenden Bajonetten und
Degen im lachenden Sonnenschein des Novembertages – so übernehme
ich jetzt eine Textstelle aus der „Großvaterstadt“ und passe sie
an meine Situation an. Kommandorufe hallen über das weite Feld durch
die frische, kühle Herbstluft und werden von der Mauer des
Gertrudenkirchhofs zurückgeworfen. Es ist die letzte von zwölf
jährlichen Waffenübungen der Bürgergarde.
Schaulustige Frauen und
Kinder tummeln sich in der Menge, auch Stine mit ihrer Mutter
entdecken der Konsul und sein Begleiter, Stines Vater Ferdinand
paradiert irgendwo mit. Aber unter den „Taukiekers“ sind auch
„viele Bummler, die sich dem Wehrdienst entzogen haben“, wie
Grimm missbilligend brummt.
Der vom Stadtrat
bestellte Höchstkommandierende der Bürgerwehr, ein Oberstleutnant,
steht in der Mitte des Feldes, breite Goldstreifen an der Tuchhose,
den Dreispitz mit goldener Agraffe und rot-weißem Federstutz auf
dem Haupt, seinen Oberadjutanten neben sich. Unter seinen Augen
exerzieren, paradieren, präsentieren die Bürgergardisten zu acht
Kompanien in blautuchenen Röcken mit rot eingefassten
Schoßaufschlägen und gelben Knöpfen, gekreuztem weißen Riemenzeug
vor der Brust, den Tschako mit rotem Pompon und weißer Fangschnur
auf den Köpfen; mancher Tschako verrutscht in die Stirn oder auf die
Schläfe. An den Beinen strahlen weiße Sommerhosen. Alles ist bunt
und in steter Bewegung.
Trotz der Novemberluft
schwitzt ganz in der Nähe von Benrath und Grimm der dicke
Gewürzkrämer und Grünhöker Jensen, ein Nachbar Grimms. Er ist
der Hauptmann einer Bataillonskompanie und kommandiert unermüdlich:
„Meine Herren, machen Sie mal rechtsum! Meine Herren, marschieren
Sie mal vorwärts! Meine Herren, machen Sie mal Halt!“ Aber lauter
als die Kommandos des feisten, schnaufenden Krämers schmettern die
Befehle des Hauptmanns Steinhagen – auch den kennt Grimm –, der
drüben mit der rot-silbernen Schärpe über dem ebenfalls mächtigen
Bauch eine andere Kompanie drillt und mit: „Gewehr an! Gewehr über!
Fällt das Bajonett!“ in ununterbrochenem Schwung hält. Die Frauen
zeigen stolz auf ihre exerzierenden Ehemänner, während ein Buttje
vorlaut in die Menge ruft: „Kiek mol, Mudder, Vadder hett sick
verkehrt rümdreiht!“ Dafür gibt’s einen Backs.
Am anderen Ende des
Feldes gibt es ein großes Scheibenschießen. Ganze Kompaniereihen
feuern immer gleichzeitig auf nebeneinander aufgestellte
Zielscheiben, dass es knatternd im Echo von den Wällen jenseits der
Trave widerhallt. Dabei fällt immer mal wieder ein Schütze vom
Rückstoß seines Gewehrs hintenüber: Die Feuersteine an den Hähnen
nämlich zünden manchmal nicht, und da im Gekrach der Salven keiner
weiß, ob seine eigene Flinte losgegangen ist, werden bei jedem
Befehl zum Laden Kugel und Pfropfen hastig in den Lauf gestoßen, so
dass oft mehrere Schüsse gleichzeitig im Rohr stecken; und schlägt
dann der Feuerstein seinen Funken auf die Pulverpfanne, dann schmeißt
die vorn ausbrechende doppelte oder gar dreifache Ladung den Mann
um. Laut aufschallendes Spottgelächter der Zuschauermengen.
So knallt und schreit und
lacht es lustig in den heiteren Herbsttag, und der Schall rollt im
Halbrund über den Hafen bis zum Gemäuer des Marstalls und kommt vom
hohen Turm des Burgtors auf das weite, bunt bevölkerte Feld zurück.
Während Grimm und
Benrath in munterer Stimmung über die Wiese schlendern, werden sie
in schwäbischem Akzent angesprochen: „Ah, der Herr
Generaalkonssuul sind auuch da. Habe die Ehre.“ Ein pausbäckiger
Mann mittleren Alters zieht seinen Zylinder und verneigt sich tief
vor dem Konsul, wogegen Grimm nur leicht seinen Dreispitz lüpft und
sich ein wenig verbeugt. Benrath spürt den sozialen Unterschied. Es
ist Johann Georg Niederegger (1777 – 1856), der die Konditorei an
der Breitenstraße betreibt. „Der hat Glück gehabt“, erläutert
Grimm später. „Er ist aus Ulm gekommen und hat gerade in der Zeit,
als es uns unter den Franzosen immer schlechter ging, sein Marzipan
verkauft. Viele haben das wie eine Medizin gegessen, anderes gab es
manchmal nicht. Das Marzipan konnte man sogar in den Apotheken
bekommen. Heute ist er ein gemachter Mann. Dat hett hei gaut maakt“,
sagt er am Ende leise mehr zu sich als zu Benrath.
Ein anderer Herr in edler
Kleidung mit seiner Ehefrau am Arm tritt auf die beiden zu und
verneigt sich höflich. Grimm reagiert auf die gleiche Weise, woran
Benrath erkennt, dass hier Gleich auf Gleich trifft. Man hält ein
wenig Konversation, auf Platt natürlich, Benrath und das Ehepaar
werden einander vorgestellt: „Herr Collaborator Dr. Benrath aus
Hamburg, Herr und Frau Konsul Mann.“ Man verabschiedet sich wieder
mit einer höflichen Verbeugung und Hutlüpfen. „Herr Mann ist,
wie ich selber, kein Lübecker“, wird Benrath wieder aufgeklärt,
„er ist aus Rostock. Etwa mein Alter. Firma „Johann Siegmund
Mann, Commissions- und Speditionsgeschäfte“, meine Sparte. Hat
sein Comptoir in der Ägidienstraße, nicht weit von dem meinen.
Macht seine Sache recht gut.“ – „Ist er ein Konkurrent von
Ihnen?“, fragt Benrath. „Ja, das ist er wohl. Aber wir sind hier
alle Konkurrenten. Das ist so unter Kaufleuten. Wir sind aber
Ehrenmänner und nehmen uns nicht gegenseitig die Geschäfte weg.“
Das war soeben Thomas
Manns Urgroßvater. Ob er wirklich schon niederländischer Konsul war
wie später seine Nachkommen, das habe ich nicht herausbekommen. Er
war fünf Jahre jünger als Johann Anton und hat – nicht wie dieser
aus Wismar, sondern aus Rostock gekommen – etwa zur gleichen Zeit
eine Firma gegründet, ebenfalls „Kommissions- und
Speditionsgeschäfte“. Mann und Grimm müssen sich gekannt haben.
„Guten Tag, Herr
Generalkonsul, guten Tag, Herr Collaborator“, hören die beiden
plötzlich. Sie drehen sich um und stehen dem jungen, pommerschen
Dragoner-Sergeanten Freiherrn von Rönnstein von der Hanseatischen
Brigade in seiner blauen Uniformjacke gegenüber. Er lächelt sie aus
seinem kühl-höflichen Gesicht mit dem blonden Schnurrbart an.
Diesmal trägt er den schwarzen Tschako auf dem Kopf. Man begrüßt
sich, kommt ins Gespräch, unterhält sich über das Volksvergnügen
hier auf dem Burgfeld und die Exerzitien der Garde, als der alte
Kaufmann einmal ärgerlich fragt, wie es sein könne, dass so viele
junge Männer sich vor diesen Waffenübungen drücken könnten nach
den Erfahrungen der Vergangenheit. Alle drei sind sich einig, dass
die Ämter da viel rigoroser die jungen Lübecker heranziehen müssten
und keine finanziellen Ersatzleistungen akzeptieren dürften. Man
spricht über Bürger und Nicht-Bürger, als die Frage aufgeworfen
wird, wie lang man in der Stadt gelebt haben müsse, bis man ihr
Bürger werden könne. Grimm sagt dazu, er selber habe schon nach
einem Jahr Wirkens in Lübeck die Bürgerrechte erhalten. Benrath
fragt unvorsichtigerweise: „Juden können die Bürgerrechte nicht
bekommen?“ Worauf der Dragoner wütend ausstößt, dass Juden
nichts in Lübeck verloren hätten und auf keinen Fall wieder
Stadtbürger werden dürften, geschweige denn zunftberechtigte Stadtbürger, wie
zu Zeiten des „Halunken-Franzosen“. „Gerade heute Vormittag musste ich
so einen Judenbengel vom Trottoir hinunterprügeln, der mir keinen
Platz machen wollte.“
Seine beiden
Gesprächspartner halten erschrocken inne, und Grimm versucht zu
beruhigen: „Gewiss sind die Juden Heiden und die Mörder unseres
Herrn. Aber muss man sie denn gleich vom Trottoir prügeln?“ Der
Dragoner, als er die Betroffenheit der beiden Männer sieht,
entschuldigt sich augenblicklich für seinen Zornesausbruch und
versichert, so in ihrer Gegenwart nicht mehr reden zu wollen.
Im selben Augenblick
scheint er in dem bunten Menschengetümmel etwas zu sehen, was ihn
erregt. Überaus hastig verneigt er sich, bittet um Verzeihung für
seinen überstürzten Abgang, empfiehlt sich und verschwindet in der
Menge. Benrath und Grimm sehen sich an, der Alte zuckt ratlos mit den
Schultern, und der junge Collaborator schüttelt den Kopf. „Ein
eigentümlicher Mann, so zuvorkommend und gleichzeitig so
hochfahrend.“
Im Laufe des Nachmittags
stoßen andere Bekannte, Freunde, Kunden, Angestellte zu den beiden,
und einige der jungen Männer laden Benrath zu einem Besuch in einer
der Wirtschaften ein, er solle gutes Lübecker Bier kennenlernen. So
geschieht es, Benrath verabschiedet sich von dem Generalkonsul, der
ihm alles Gute wünscht: „Beehren Sie mich gern wieder, bevor Sie
im Sommer in Travemünde den neuen Dampfer nach Kopenhagen
besteigen. Hollt (offenes o lang) Sei sük fuchtich, un blievt Sei schtief un schtuur up dei Passaasch nah Schtockholm, Herr Collaborator, dat dei Bris Sei nich nah Lee äwer Boord inne Oostsee weiht.“
(Der Wismaraner spricht natürlich Mecklenburgisch) Und in einer Gruppe von mehreren fröhlichen jungen Männern zieht
er durch die Gassen zur „Goldenen Tonne“ in der oberen Hüxstraße.
(Diesen Gasthof gab es wirklich.) Er nimmt sich zwar vor, nicht zu
spät in seine Pension in der Kleinen Petersgrube zu gehen. Aber es
ist doch schon dunkel, als er allein das Wirtshaus verlässt, um sich
auf den Heimweg zu machen.
Jetzt am Abend ist es
empfindlich kalt geworden, Benrath zieht Mantelkragen und Schal eng
um den Hals, schiebt die leere Ledertasche auf den Rücken und
vergräbt seine Hände tief in den wärmenden Taschen des Paletots.
Ein Glück, dass ich kein Geld mehr bei mir habe, denkt er, als er
schnell, heute ohne Stock, die Hüxstraße hinaufgeht. Und er ist
froh, dass die Straßenbeleuchtung, die im Sommer von den Ketten
abgenommen wird, jetzt im November wieder über den Gassen hängt.
Dennoch fühlt er sich
unsicher in den trotz der Straßenlaternen düsteren Gassen der
fremden Stadt, und er wirft doch einmal den Blick zurück, als er
von der Hüxstraße in die Breitenstraße einbiegen will. Und er
bleibt fast stehen vor Schreck, als er im Schein einer flackernden
Lampe sieht, dass in nicht weiter Entfernung von der Königstraße
her eine Gestalt ihm die Hüxstraße herauf zu folgen scheint. Ist es
derselbe vom letzten Mal?, denkt er. Wären die Lampen doch heller!
Zur Straßenbeleuchtung
finde ich im Stadtführer von 1814 einen leider etwas unpräzisen
Absatz. Er lautet so:
Die Erleuchtung der
Straßen ist sehr vorzüglich. In allen, selbst in den kleinsten
Gassen, und in den Höfen, hängen in der Mitte an Ketten grosse
viereckigte Leuchten mit mehreren Scheinlampen nach der Zahl der zu
beleuchtenden Seiten. Sie sind alle nach Pariser Mustern verfertigt,
und werden im Sommer ganz weggenommen. Noch mehr Würkung könnten
sie thun, wenn sie, wie an einigen Stellen, seitwärts an Stangen
befestigt wären, damit nicht der Wind und still haltende Fuhrwerke
u. dgl. ihren Schein so oft verminderten. Aber es würde dann eine
bedeutend grössere Zahl erfordert, und die Kosten der Erhaltung,
welche sich ohnehin jährlich auf 20,000 mc (Mark Courant, etwa
260.000 Euro) belaufen,
ungleich vermehrt werden.
Hingen die Leuchten über
den Straßen an im Wind schwankenden Ketten? Waren es
Petroleumlampen? Wer zündete sie an?
Wie auch immer, es gab
Straßenlampen. Und in ihrem Schein sieht Collaborator Benrath auf
dem Heimweg in die Kleine Petersgrube diese Gestalt. Er verlässt
unruhig die Hüxstraße, überquert die Breitenstraße und eilt zum
Rathausplatz. Er hofft dort auf Menschen zu treffen. Doch jetzt am
Abend ist niemand mehr unterwegs, alles hat sich in die warmen Stuben
vor der Kälte zurückgezogen.
Benrath dreht sich um. Da
sieht er immer noch die Gestalt. Und tatsächlich, er erkennt im
Schein einer Laterne denselben in Grau gekleideten jungen Mann, der
aus dem blassen Gesicht unruhig und finster zu ihm starrt, wie einen
Monat zuvor. Jetzt packt ihn die Angst. Was soll er tun? Um Hilfe
rufen? Kein Mensch weit und breit. Er geht noch schneller, fast läuft
er. Das Haus seiner Wirtin ist nicht mehr allzu weit. Er hastet über
den Kohlmarkt zur Holstenstraße, er muss den bis an die
Bordsteinkante ragenden Hauseingangstreppen ausweichen. Links hinein
in den Kolk. Im Abbiegen sieht er es jetzt genau: Der Mann folgt ihm.
Warum hat er es denn ausgerechnet auf ihn abgesehen? Hat er damals in
der Post die teuren Courant-Taler aus seiner Tasche über den Boden
kollern sehen und hält ihn für einen begüterten Reisenden?
Leichte Beute? Er hat doch jetzt kein Geld mehr bei sich, denkt
Benrath. Aber im selben Moment wird ihm klar, dass der Gauner das
nicht wissen kann.
Benrath eilt, läuft den
Kolk hinab, überspringt die Kellerluken, heute, am Sonntag, gottlob
von Eisenrosten bedeckt. Läuft weiter. Endlich die Kleine
Petersgrube vor ihm. Er biegt rechts ein, schreit fast auf, als er
sieht, dass der Mann nun ganz nah ist, keine zehn Schritt. Benrath
springt die Kleine Petersgrube hinab, über die Sandlöcher. Er hört
den Atem seines Verfolgers hinter sich. Wie weit noch bis zum Haus?
Kein anderer Mensch in der Gasse, der helfen könnte. Fast stolpert
er über ein Loch im Pflaster. Hier ist es besonders dunkel. Er
denkt: Jetzt?
Da eine Lampe. Der Mann
ist nun direkt bei ihm. Benrath bleibt stehen. Das bleiche Gesicht
des Mannes vor ihm flackert im Feuerlicht der Laterne. Benrath rafft
die Ledertasche an sich, drückt sie an seine Brust. Er
prallt mit dem Rücken an die Hauswand. Sein Hut fällt zu Boden.
„Was wollen Sie?“, stößt er hervor.
Der Fremde tritt dicht
vor ihn, atmet noch schwer von dem Laufen, Atemluft kondensiert, und
starrt ihn aus seinen unruhigen Augen an. Auch Benrath ist außer
Atem. Ihm schießt es durch den Kopf, ob er ihm nicht einfach seine
leere Ledertasche in die Hand drücken solle. Um die Tasche wäre es
ihm nicht leid. Da sagt der Mann heiser, immer noch schwer keuchend,
langsam und voller Hass: „Wer sind Sie?“ Kein Plattdeutsch.
Benrath versteht die
Frage nicht. In seiner Angst, er spürt das Blut in seinem Hals
schlagen, schüttelt er mit dem Kopf und sagt: „Ich habe nichts.“
Da springt der Mann plötzlich einen Schritt zurück. Er starrt ihn
weiter an, aber jetzt auf einmal ganz anders, nicht mehr finster,
sondern erschrocken. Er stammelt ein: „Verzeihen Sie! Verzeihen
Sie!“, dann dreht er sich um, läuft die schmale Gasse wieder
hinauf und verschwindet in der Dunkelheit.
Verwirrt blickt Benrath
hinter ihm her, hebt dann den Hut auf, klopft ihn ab und setzt ihn
wieder auf, sieht noch einmal hinter dem Mann her die dunkle Gasse
hinauf, geht weiter, kommt zum Haus seiner Wirtin, zieht an der
Glocke. Die alte Frau öffnet und sieht ihm gleich seine Verwirrung
an. „Herr Doktor, geht es Ihnen gut?“, fragt sie. Noch ein wenig
außer Atem erzählt er, was ihm gerade widerfahren ist. Entsetzt
schließt Witwe Hansen die Haustür zu und führt ihn in ihre kleine
Küche. „Soll ich den Nachbarn zur Wache schicken?“, fragt sie.
„Er kann einen Polizeidiener holen, und Sie erzählen ihm, was
passiert ist.“ Benrath meint, das sei nun nicht mehr nötig, der
seltsame Mann sei ja fort. Und was solle die Sicherheits-Polizei
schon ausrichten. Wie solle sie den Mann denn finden?
* * * * * * *
Am folgenden Tag –
Witwe Hansen hat tatsächlich mit Hilfe eines Nachbarn gleich morgens
die Polizei holen lassen, der „Bruchvogt“ ist gekommen, hat sich
die Beschreibung des Mannes angehört und ist dann mit den Worten:
„Dat Sluusohr schallt wi wohl finn'n“ unverrichteter Dinge
wieder abgezogen – am Montag früh also packt Benrath seine Sachen
zusammen, weil er am Vormittag wieder zurück nach Hamburg fahren
möchte, als die Wirtin an seine Zimmertür klopft, hereintritt und
ihm ein Kuvert überreicht. „Dieses Schreiben an Sie ist soeben
abgegeben worden“, sagt sie. Überrascht erbricht er den Umschlag,
zieht einen etwas zerknitterten Zettel heraus und liest den in einer
hastig hingeworfenen Schrift verfassten Brief:
Verehrter
Herr,
fürchtend, Sie, sowie auch Generalkonsul Grimm, über längere Zeit mit meinen Verfolgungen in Unruhe versetzt zu haben, teile ich Ihnen durch dieses Schreiben mit, daß selbige ab sofort ein Ende haben werden. Fälschlicherweise hielt ich Sie für einen Verbündeten jenes Dragonerlümmels, der Sie unlängst zum Hause des schwedischen Generalkonsuls begleitete und sich gestern auf dem Burgfelde mit Ihnen in angeregtem Gespräche befand. Dieser Mensch, für mich ist er kaum einer, unterstand sich nicht, mich, Sohn Israels, einen, ich mag es kaum schreiben, „Judenbengel“ zu nennen und mich mittels allerlei weiterer Beleidigungen zu kompromittieren, ja mich vom Trottoir zu prügeln, dergestalt daß ich mich genötigt sah, von diesem Pommerschen Junker, diesem Dragonerlümmel!!! Genugtuung zu fordern, die er mir staunend gewährte, wohl hatte er nicht geglaubt, dass der „Judenbengel“ seine befleckte Ehre wieder reinzuwaschen wünschte. Das Duell – wir kämpften mit Säbeln – hatte in der verflossenen Nacht statt, für mich, Gott sei gelobt, mit nur leichten, unerheblichen Blessuren. Mein Kontrahent dagegen, der mit meiner Gewandtheit nicht gerechnet zu haben scheint, er hatte wohl gemeint, „Judenbengel“ vermöchten sich nicht zu schlagen, hat durch meinen Stahl ernstere Verletzungen davongetragen. Gott bestrafte ihn für seine Frechheiten. Meine Ehre ist wieder hergestellt. Ich werde mich aber nun von dieser Stadt fern halten müssen.
Sie, werter Herr, bitte ich aufrichtig um Verzeihung für mein Mißtrauen und die Verwechslung, derer ich Sie aussetzte, und verbleibe für immer Ihr ergebenster Diener.
Gehaben Sie sich wohl!
David Heyne,
Lübeck sieht mich nicht wieder.
fürchtend, Sie, sowie auch Generalkonsul Grimm, über längere Zeit mit meinen Verfolgungen in Unruhe versetzt zu haben, teile ich Ihnen durch dieses Schreiben mit, daß selbige ab sofort ein Ende haben werden. Fälschlicherweise hielt ich Sie für einen Verbündeten jenes Dragonerlümmels, der Sie unlängst zum Hause des schwedischen Generalkonsuls begleitete und sich gestern auf dem Burgfelde mit Ihnen in angeregtem Gespräche befand. Dieser Mensch, für mich ist er kaum einer, unterstand sich nicht, mich, Sohn Israels, einen, ich mag es kaum schreiben, „Judenbengel“ zu nennen und mich mittels allerlei weiterer Beleidigungen zu kompromittieren, ja mich vom Trottoir zu prügeln, dergestalt daß ich mich genötigt sah, von diesem Pommerschen Junker, diesem Dragonerlümmel!!! Genugtuung zu fordern, die er mir staunend gewährte, wohl hatte er nicht geglaubt, dass der „Judenbengel“ seine befleckte Ehre wieder reinzuwaschen wünschte. Das Duell – wir kämpften mit Säbeln – hatte in der verflossenen Nacht statt, für mich, Gott sei gelobt, mit nur leichten, unerheblichen Blessuren. Mein Kontrahent dagegen, der mit meiner Gewandtheit nicht gerechnet zu haben scheint, er hatte wohl gemeint, „Judenbengel“ vermöchten sich nicht zu schlagen, hat durch meinen Stahl ernstere Verletzungen davongetragen. Gott bestrafte ihn für seine Frechheiten. Meine Ehre ist wieder hergestellt. Ich werde mich aber nun von dieser Stadt fern halten müssen.
Sie, werter Herr, bitte ich aufrichtig um Verzeihung für mein Mißtrauen und die Verwechslung, derer ich Sie aussetzte, und verbleibe für immer Ihr ergebenster Diener.
Gehaben Sie sich wohl!
David Heyne,
Lübeck sieht mich nicht wieder.
Das war es also, warum
dieser seltsame Mensch ihm aufgelauert und ihn immer so unruhig
angestarrt hat, ihm gefolgt ist, ihn angriff. In den Weg eines
überempfindlichen jungen Juden ist Benrath geraten, der sich
verfolgt fühlte, der glaubte, Benrath sei mit dem Dragoner im Bunde
gegen ihn. Überspannter Verfolgungswahn vielleicht, aber auch
verständlich, erst recht bei dem Auftreten des Dragoners.
Möglicherweise ist er, Benrath, gestern Abend nur knapp einer
Forderung zum Duell entgangen.
Was war es aber, das den
Juden so plötzlich dazu brachte von ihm abzulassen? Warum war er so
erschrocken? Benrath vermutet, ihm müsse auf einmal klar geworden
sein, dass er für einen Halunken, einen Dieb, einen Verbrecher
gehalten werde, dass der Verfolgte völlig ahnungslos sei und nur
Angst vor ihm habe. Ein Unhold, vor dem man sich fürchten müsse,
das war wohl das letzte, was er sein wollte. Das muss ihm schlagartig
vor Augen gestanden haben, und das wird es gewesen sein, was ihn
zurückspringen ließ, was ihn veranlasste fortzulaufen.
Er tut ihm nun geradezu
leid, dieser David Heyne, der von seiner Umwelt verachtet wird, sich
zur Wehr setzen will, ja, zur Wehr setzen muss, und der nun gezwungen
ist fortzuziehen. Aber Duelle sind nun einmal nicht erlaubt. In den
Augen des Gesetzes hat er eine Straftat begangen. Er hat einem
Menschen eine Verletzung zugefügt, ob in einem Ehrenhandel oder
nicht. Man ist schließlich nicht mehr im Mittelalter.
Und dieser
Dragoner-Sergeant, dem er am Nachmittag bei dem Manöver der
Bürgerwehr begegnet ist und der so plötzlich davonstürzte? Hat er
in der Menge den Juden erkannt und ist zu ihm gelaufen, um ihn zu
verjagen, gar zu prügeln? Ergab sich dabei, nachdem sie vorher schon
auf der Straße aneinander geraten waren, die Auseinandersetzung mit
den entsprechenden Beleidigungen, aus der die Forderung entstand? So
muss es wohl gewesen sein, denn noch in derselben Nacht haben sie
sich geschlagen.
Benrath wünscht dem
jungen Dragoner nicht gerade den Tod. Aber insgeheim empfindet er
Freude, dass der, und nicht der Jude, im Kampfe der Unterlegene
gewesen ist, er, der meint, Juden vom Bürgersteig prügeln zu
müssen. Dessen Meinung über die Juden wird das nicht ändern, er
wird vielleicht sogar umso hasserfüllter gegen die Juden wettern.
Aber er hat eine Lektion erteilt bekommen.
Das sind die ersten
Gedanken, die Benrath durch den Kopf gehen. Und er ist erleichtert.
Jetzt kann er beruhigter seinen Koffer packen und leichteren Sinnes
nach Hamburg zurückreisen. Und er kann ohne die Angst vor einem
Überfall wieder nach Lübeck kommen, ohne die Angst vor einem
Halunken, der es speziell auf ihn abgesehen hat. Der Jude hat ihm den
Brief gesandt, um ihm diese Angst zu nehmen. Dafür ist er ihm
dankbar.
Auch Generalkonsul Johann
Anton Grimm, der an diesem Montagmorgen in seinem Kontor sitzt und
soeben einen ähnlichen, an ihn adressierten Brief gelesen hat, macht
sich solche Gedanken. Ihm ist der hitzköpfige Dragoner nie ganz
geheuer gewesen, und auch er fühlt heimliche Freude darüber, dass
der das Duell verloren hat. Dieser Rönnstein hat „seinen Lex
gekriegt“, denkt er, geschieht ihm nur recht. Dass der
bemitleidenswerte Jude, wie heißt er noch? Grimm schaut auf den
zerknitterten Zettel, Heyne, dass Heyne die Stadt nicht mehr betreten
kann, wenn er vor Strafverfolgung sicher sein will, das ist unschön,
aber so sind die Gesetze, Duelle sind verboten.
Dann wendet er sich
wieder seinen Geschäften zu, als draußen in der Diele lärmend ein
leerer Wagen einfährt, um vom Dachspeicher aus beladen zu werden.
„Ruut up dei Dääl, Jung!“, ruft er dem Lehrling zu, der gerade,
noch etwas schlaftrunken, von hinten ins Kontor schlurft. „Ran an't
Wark!“
*
* * * * * *
Ich gebe zu, dass ich die Geschichte mit dem Juden und dem Duell erfunden habe, um in die ansonsten eher belanglosen Szenarien wenigstens ein kleines bisschen Spannung einzuflechten. Dabei war es mir allerdings darum zu tun, Zeittypisches zu verwenden: das Militärische, das Nationalistische, das Antisemitische, schließlich das Duell. Der Antisemitismus war in den Jahren nach Napoleon mit dem Ausbreiten nationalistischen Denkens wieder im Kommen – nur als ein Beispiel die sogenannten „Hep-Hep-Unruhen“ 1819, pogromartige Krawalle in mehreren Städten Deutschlands. Heinrich Heine, 1823 ein noch nahezu unbekannter Student – das „Buch der Lieder“ und die „Reisebilder“, mit denen er in Deutschland berühmt wurde, kamen erst 1827 heraus –, hat sich drei Jahre zuvor, im Sommersemester 1820, als er in Bonn studierte, wegen judenfeindlicher Beleidigungen mit jemandem ein solches Säbelduell geliefert. Man traf sich dazu im Baumschuler Wäldchen, einem Park vor den Toren der Stadt – dem heutigen „Baumschulwäldchen“ am Beethovenplatz, nahe dem Hauptbahnhof. Heine scheint das Duell unbeschadet überstanden zu haben. (Nicht zu verwechseln mit dem verhinderten Pistolenduell ein halbes Jahr später in Göttingen, bei dem es um etwas anderes ging – Wikipedia irrt sich da – und weswegen Heine von der Universität verwiesen wurde.) Die Namensähnlichkeit mit meinem Juden ist gewollt.
Auch der Name von
Rönnstein ist nicht zufällig. Er klingt so schön adelig. Das Wort
Rönnstein aber kommt bei Fritz Reuter vor (Mecklenburger Platt) und
bedeutet Rinnstein, Gosse.
Abschiede
Die Königin und die
Kronprinzessin standen am späten Nachmittag des 4. Juni 1823
nebeneinander an der Reling des hehren schwedischen Linienschiffes
mit drei Kanonendecks, das sie in Travemünde auf der Reede erwartet
hatte. Annemarie Selinko lässt in ihrem Roman Désirée sich fragen,
warum Jean-Baptiste, ihr Mann, der König, sie in einem so großen
„Kriegsschiff mit vierundachtzig Kanonen reisen lässt".
Die beiden Frauen waren
mit großem Gefolge am späten Mittag um ein Uhr in Lübeck
aufgebrochen. Der kleine Schaufelrad-Dampfer hatte die Gesellschaft
laut stampfend, zischend und rumpelnd den Fluss hinab nach Travemünde
gebracht, von wo sie in mehreren Beibooten vom Hafen hinaus in die
Bucht zu den großen Schiffen gerudert worden waren. Soeben waren die
Anker gelichtet worden, knarrend, ächzend und mit dem lauten
Geknatter der Segel hatte sich das riesige Schiff, das die Damen mit
ihrer Begleitung an Bord genommen hatte, leicht hin und her
schwankend in Bewegung gesetzt. Gerade drehte es sich in eine
günstige Windstellung und nahm dann ziemlich schnell Fahrt auf.
Die Frauen an der Reling
blickten zurück auf den Hafen und den kleinen Ort, von wo aus die
Menschenmenge noch lange winkte. Das Stimmengewirr nahm jedoch immer
mehr ab und wurde bald von den Kommandos der Seeleute, dem Flattern
der Segel und dem Kreischen der Möwen in der Luft verschluckt. Weit
im verschwindenden Land mit den „Birken in hellgelben
Frühlingsschleiern“ (Selinko) unter blassblauem Himmel versanken
langsam die beiden Doppeltürme der Marienkirche und des Doms am
Horizont. Désirée, die Königin, wird den milden Frühsommer
genossen haben. Das Wetter war so viel angenehmer als bei ihrem
ersten Besuch des Nordens. „Wird der Sommer in Schweden auch so
schön sein wie hier", mag sie sich gefragt haben, „so wie es
mir dieser höfliche ältere Generalkonsul mit der Perücke gestern
bei meiner Ankunft versprochen hat?" Vielleicht dachte sie auch
an den Empfang gestern Abend in dem Haus des Senators, bei dem sie
aus diesem überdimensionalen Glaskelch den Chartogne Taillet hatte
trinken dürfen.
Wie Désirée und
Joséphine am 4. Juni 1823, so nimmt auch, ein Jahr danach, im Sommer
1824, der Protagonist meiner Szenarien Abschied von Lübeck. Auch er
steht an der Reling eines Schiffes, das langsam aus der Lübecker
Bucht hinausfährt, und schaut zurück. Auch er ist voller Hoffnung
auf seine Stockholmer Zukunft. Sein Schiff ist allerdings ein
moderneres, ein funkelnagelneuer Dampfsegler. Er freut sich, einen
Platz bekommen zu haben auf diesem von dem Wunder der neuesten
Technik fauchend und wummernd angetriebenen Schiff, der
sensationellen Technik, die seit allerneuestem auch ganze Wagenzüge
auf Schienen hinter sich herziehen soll, wenn auch vorerst nur in
Großbritannien: George Stephenson hat gerade seine
Dampflokomotivenfabrik gebaut.
Auch ich nehme Abschied.
Es ist ein wunderschöner Frühlingstag geworden nach anfänglichem
Regen, die Sonne lässt die noch regennassen roten Backsteinhäuser
der von feinem Blütenduft (Blötenröök) durchzogenen Stadt
erglitzern und erstrahlen. Ich komme vom Stadtarchiv am Dom und
schlendere, den Schirm zusammengerollt als Spazierstock auf den Boden
klopfend, zum Lübecker Bahnhof, am Holstentor vorbei, und werde den
nächsten Regionalexpress nach Hamburg nehmen.
Wenn ich wieder nach
Lübeck fahre, und das werde ich mit Sicherheit, fahre ich dann in
das Lübeck meiner Vorväter, in die Grimmsche Ur-Stadt, wie ich mal
dachte? Nein, das tue ich nicht. Lübeck war nur eine Episode in der
Grimmschen Familiengeschichte. Lübeck blieb beschränkt auf den
einen Johann Anton Grimm, der in Lübeck vierzig Jahre lebte und dort
starb. Dadurch, dass er für seine kaufmännische Ausbildung nach
Riga gegangen war und dort in eine angesehene Rigaer Familie
hineingeheiratet hatte, orientierten sich alle seine Kinder nach dem
Riga der mütterlichen Großeltern. Die Grimms stammten aus Wismar
und bildeten dann ab Anfang des 19. Jahrhunderts eine baltische
Linie, nicht eine lübische. Wenn es also überhaupt eine Grimmsche
Urstadt gibt, dann ist es Wismar. Oder Hamburg? Die Wismarer Grimms
stammten aus Hamburg. Oder vielleicht gar Regensburg? In den Wirren
des Dreißigjährigen Krieges sollen Grimms, so eine Vermutung in
Wilhelm Grimms „Lebensskizzen“, von Regensburg nach Hamburg
ausgewandert sein.
Auch das Kaufmannswesen
war letztendlich nur eine Episode in der Familie. Es hielt sich kaum
über das 19. Jahrhundert hinaus. Die Grimmsche Sippe hat aus
Pastoren bestanden, Johann Antons Vater war Pastor und seine Brüder
waren Pastoren. Sein Enkel Wilhelm war auch wieder einer, und der war mein Urgroßvater. Das hat mich und meine Familie mehr geprägt als das Kaufmännische,
uns, die wir Lehrer, Ärzte, Professoren und solcherlei
bescheiden-solides Gutbürgerliches wurden. Im Wesen des Kaufmanns
steckt doch viel unternehmerisch Gewagtes, eben nicht-solides
Spekulantentum. Das liegt uns allen nicht.
Es bleiben bei dem Mann,
um den es hier ging, Johann Anton Grimm, viele Fragen offen: Wie
erfolgreich waren seine „Commissions- und Speditionsgeschäfte“?
War er wohlhabend? War er angesehen? Warum zog er lediglich als
Mieter in die Johannisstraße, nicht als Käufer? Warum sind alle
seine Kinder nach Riga gegangen – die beiden früh Verstorbenen
ausgenommen? Warum hat keiner der Söhne die Firma übernommen? Und,
für mich die entscheidende Frage: Warum hat er 1787 oder 1788 Riga
überhaupt verlassen, nachdem er in eine so angesehene Familie
hineingeheiratet hatte, und ist nach Lübeck gezogen? Lag nicht Riga
wie ein reifer Apfel vor ihm, und er brauchte nur zuzugreifen, wie es
seine Söhne dann getan haben?
Ich nehme auch Abschied
von dieser „familienhistorischen Reportage“. Die Nachforschungen
haben mir Spaß gemacht, über das Auffinden jeder noch so kleinen
Einzelheit habe ich mich gefreut, ich habe viel Neues erfahren. Auch
das Feilen an der Sprache und das Basteln an der Struktur habe ich
genossen. Ich habe diese Aufzeichnungen gern geschrieben, und fast
bedauere ich, dass sie jetzt zu einem Ende gekommen sind. Dass kaum
jemand sie lesen wird, schon gar nicht so gern, wie ich sie
geschrieben habe, dass kaum jemand sich für das Thema interessieren
wird, außer vielleicht später einmal irgendwelche „lieben
Kinder“, das stört mich nicht, das wusste ich vom ersten Wort an,
das ich in die Computertastatur getippt habe. Ich habe etwas davon
gehabt: Ich bin mehrmals nach Lübeck gefahren, ich habe mich
zweihundert Jahre zurückversetzt und bin als Collaborator Benrath in
Lübeck gewesen, um den schwedisch-norwegischen Generalkonsul und
Postdirektor zu besuchen, Ritter des Wasa-Ordens. Ich habe gesehen,
wie die Franzosen nach Lübeck gekommen sind, und ich habe gesehen,
wie eine Französin, die zufällig Königin geworden ist, durch
Lübeck reiste und mir bei diesem Besuch ein gläsernes Stück
Erinnerung zurückgelassen hat. So verabschiede ich mich denn nach
all den Besuchen und lasse
„dieses meinen lieben
Kindern zur Nachricht“.
Und: Die Mecklenburger haben nicht den scharfen S-Laut vor t und p, anders als die Hamburger und Holsteiner - die Dithmarscher aber auch schon wieder nicht mehr. Die Mecklenburger schtölken äwer de Schtraat (langes offenes o), während die Holsteiner över de Sstroot sstölken (stolpern), aber: „snackn“, „smöökn“, „Swester“, „Slachter“ - jedenfalls bei Fritz Reuter -, Dialektgrenze natürlich fließend: Gerade im lokalen Schmelztiegel Lübeck genau auf der Grenze zwischen Holstein und Mecklenburg hörte man, als in der Stadt noch Platt gesprochen wurde, durchaus auch holsteinischen Akzent.
Nachbemerkungen
zu den plattdeutschen Sätzen
Da das Lübecker Platt
wesentlich vom Mecklenburger Platt beeinflusst war – viele
Mecklenburger kamen zum Arbeiten nach Lübeck, wie ja auch mein Ahn –, lasse ich die
meisten meiner Figuren Mecklenburgisch sprechen, z.B. sagen sie für
„gut“ „gaut“ statt holsteinisch/hamburgisch „goot“, also „gaudn
Dach“ statt „goodn Dach“, für „zu tun“ sagen sie „tau
daun“ statt „to doon“, für „er“ und „sie“ „hei“
und „sei“ statt „he“ und „se“, für „aber“ „äwer“
(auch „über“) statt „öwer“ (in den „Buddenbrooks“
„öäwer“), für „Mädchen“ sagen sie „Diern“ statt
„Deern“, „die
Diele“, hamburgisch „de Deel“, heißt „dei Dääl“, und statt „veel“ und „Sspeel“ sagen sie „vääl“
und „Schpääl“.
Und: Die Mecklenburger haben nicht den scharfen S-Laut vor t und p, anders als die Hamburger und Holsteiner - die Dithmarscher aber auch schon wieder nicht mehr. Die Mecklenburger schtölken äwer de Schtraat (langes offenes o), während die Holsteiner över de Sstroot sstölken (stolpern), aber: „snackn“, „smöökn“, „Swester“, „Slachter“ - jedenfalls bei Fritz Reuter -, Dialektgrenze natürlich fließend: Gerade im lokalen Schmelztiegel Lübeck genau auf der Grenze zwischen Holstein und Mecklenburg hörte man, als in der Stadt noch Platt gesprochen wurde, durchaus auch holsteinischen Akzent.
Bestimmte
Mecklenburger Eigenheiten kennt man im Holsteinischen nicht: z.B. die
Verkleinerungs- bzw. Verstärkungsform „-ing“ wie in „Mamselling“ und „Döchting“
(„Fräuleinchen“, „Töchterchen“) und in „nipping“ („ganz
genau“) statt „nipp“ oder „nipp un 'nau“. Die Ausdrücke
„miendach' nich“, „siendach' nich“ (wörtlich: „meine Tage
nicht“, „seine Tage nicht“) für „niemals“ („Ik heff
miendach' nich drunken“, „hei ward dat siendach' nich vergeetn“)
sind Mecklenburgisch; in Holstein und Hamburg: „nie nich“
(doppelte Verneinung).
Ob
man um 1800 das Wort „Knallkööm“ („Knallkümmel“) für
„Sekt“ kannte, weiß ich nicht. Ich habe es in der Getränkekarte
in der Foyer-Bar des Ohnsorg-Theaters gelesen. Eine scherzhafte
Erfindung von Heidi Kabel oder Henry Vahl?
Aber
einige früher übliche, inzwischen veraltete Ausdrücke habe ich
verwenden können, z.B. „sük ümdoon üm“ für „sich kümmern
um“. Heute sagt man wohl eher „sik kümmern“ oder „sik
bekümmern“, so erfuhr ich es jedenfalls von einer Dithmarscherin, die
Platt-Muttersprachlerin ist. Auch das Siezen ist im Platt offenbar
unüblich geworden, zum Abschied sagt man heute, zumindest auf dem
Land, statt „Hoolt Sei sük fuchtich“ auch zu Fremden „Hool di
fuchtich“: „Halt dich gesund“. („Fuchtich“ übrigens von
„feucht“: Wenn es draußen feucht ist, gedeiht die Saat gut und
ist gesund. Nicht zu verwechseln mit einer anderen Bedeutung des
Wortes: „zornig“, etymologisch verwandt mit „fechten“. Wenn
in den „Buddenbrooks“ jemand in der Revolutionsszene zu seinem
Kumpel Christian über Konsul Buddenbrook sagt: „Dat's Kunsel
Buddenbrook! Holl din Mul, Krischan, hei kann höllschen fuchtig
warn“, dann meint er natürlich: „Er kann höllisch zornig
werden.“)
Die
Orthographie meiner plattdeutschen Sätze richtet sich nicht nach der
üblichen Schreibweise („Saßsche Schrievwies“, die von einem
Johannes Saß 1956 eingeführte verallgemeinerte Rechtschreibung mehrerer
plattdeutscher Mundarten), sondern nach dem, was ich bei
Fritz Reuter, Ludwig Ewers und Thomas Mann gefunden habe. Auch
schreibe ich so, dass wir Nicht-Platt-Sprechenden der Aussprache
möglichst nahe kommen, wenn wir die Wörter laut lesen. So schreibe
ich beispielsweise statt üblich „Döns“, „Mors“,
„Lüd“, „König“, „fuchtig“ „Dööns“, „Moors“,
„Lüüt“, „Könich“, „fuchtich“. Ik hööp, dat mookt
nüms fuchtich.