Donnerstag, 7. Juli 2016

Besuche in Lübeck


Besuche in Lübeck


Aufzeichnungen über Lebensumstände

meines Ahns

Johann Anton Grimm



Eine familienhistorische Reportage




Vorwort

Diese familienhistorische Reportage über meinen Urururgroßvater Johann Anton Grimm entstand aus einer Laune heraus. Jetzt, da ich in Pension gegangen bin, verfüge ich plötzlich über Zeit - erwartet zwar, dennoch überraschend und verwirrend -, und da habe ich begonnen, mich mit der Vergangenheit meiner Familie zu beschäftigen, etwas, das mich bisher nicht besonders gereizt hat. Und es war genau dieser Mann, mit dem ich mich befassen wollte, dieser Ahn, der vor zweihundert Jahren als Speditionskaufmann in Lübeck lebte.

Warum er? Warum Johann Anton, und nicht zum Beispiel dessen Sohn Eduard Wilhelm Tielemann, der in Riga viel bedeutender gewesen ist als sein Vater in Lübeck, sogar Bürgermeister war? Der Grund: Der Champagnerkelch, der auf meinem Schrank steht. Es war so: Eines schönen Tages sitze ich im Sessel und sehe, wie die Sonne so lustig auf dem Glaskelch funkelt. Da sage ich zu mir: Wer war das eigentlich genau, jener Johann Anton Grimm, der uns dieses Glas hinterlassen hat? Denn das eine, dass der Kelch von ihm war, das wusste ich.

So kam die Idee zu den Aufzeichnungen über Johann Anton Grimm, über ihn und Umstände seines Lebens. Sie sind natürlich nicht vollständig, sie sind kein Essay über „Grimm und seine Zeit“, mit Absicht fehlt im Untertitel vor dem Wort „Lebensumstände“ der Artikel „die“: Weder bin ich in der Lage, das Lübeck von vor zweihundert Jahren umfassend auszuleuchten, noch ist es bei den geringen Informationen, die es über Johann Anton gibt, möglich, ihn eingehend zu beschreiben, geschweige denn zu charakterisieren.

Bevor ich vor einem halben Jahr mit den Aufzeichnungen begann, hatte ich herzlich wenig, nahezu gar nichts über diesen Mann gewusst. Ich habe als Kind immer mal wieder etwas über ihn von den Eltern und Großeltern gehört, das alles aber immer sofort wieder vergessen, weil es mich nicht interessierte. Daher freue ich mich jetzt, dass ich das Wenige weiß, das man über ihn in Erfahrung bringen kann.

Ich habe diese Schrift eine familienhistorische Reportage genannt. Hochtrabend? Aber das ist es nun einmal, was sie ist, egal wie bescheiden sie ausgefallen sein mag: familienhistorisch sowieso, und eine Reportage. Ich stelle mir vor: So wie man ein fremdes Land besucht, um es kennenzulernen – und um gegebenenfalls über diese Reise eine Reportage zu schreiben –, so habe ich die Zeit vor zweihundert Jahren in Lübeck besucht, und ich berichte über sie. Unvollständig, ich sagte es ja, aber bei welchem Besuch sieht man alles?

Man kann meine Reportage nicht wie eine Biographie lesen, so ist sie nicht angelegt. Die einzelnen Informationen über den Ahn, die Stadt, die Zeit werden im Laufe der Kapitel beliebig eingestreut, so, wie sie im textlichen Zusammenhang gerade passen. Kein streng chronologischer Bericht also, sondern ein bunt zusammengesetztes Mosaik, eine Patchworkdecke, ein Blumenstrauß.

Leider hat Johann Anton Grimm um 1800 gelebt und nicht um 1400. Um 1400 war nämlich die Blütezeit der Hanse, und Lübeck war da die mächtigste, die reichste Stadt von allen über einhundert damals zum Hansebund gehörenden Städten, mächtiger und reicher als Hamburg, sie war die führende Hansestadt. Die ganze Ostsee blickte zu Lübeck auf. Danach ist es wirtschaftlich wie politisch langsam bergab gegangen, Hamburg, der Hafen zu den neu entdeckten Welten, lief Lübeck nach und nach den Rang ab, Lübeck, dem Hafen zur klein gewordenen Ostseewelt. „Ach Gott“, lässt Ida Boy-Ed in ihrem Lübeck-Roman den Protagonisten um 1900 über seine Heimatstadt sagen, Lübeck, „die Königin der Hansa einst – einer kümmerlichen Matrone hat sie jahrhundertelang mehr geglichen als einer Fürstin.“ Und die napoleonische Besetzung, auch wenn sie nur sieben Jahre gedauert hat, machte Lübeck zusätzlich noch wirtschaftlich schwer zu schaffen. In dieser für Lübeck bitteren Zeit hat unser Ahn gelebt, mit ihr musste ich mich beschäftigen, nicht mit der goldenen Zeit von Lübecks Größe.

Reinhart Grimm
Hamburg im Sommer 2016








Eine königliche Visite

Am 1. Juni 1823, einem milden, sonnigen Spätfrühlingstag, wehte von der Ostsee her ein schwacher Wind. Das Meer glitzerte in der Sonne, sanft schwappten Wellen an die Kaimauern von Travemünde. Im Hafenwasser Holzreste, vereinzelt Seetang, ein toter Fisch. Die Taue der Takelage in den Fischerbooten und Frachtseglern schlugen leicht an die Masten. Die Luft war gewürzt mit Seewasser und Fisch vom Meer her, vom Land her duftete der Raps der nahen Felder. Durch den Hafen hallten die Rufe der „Schauerlüüt“, über den Speichern die zeternden Schreie der Silbermöwen und Seeschwalben. Die Menschen, die hier zu tun hatten, die Schauermänner und Fischer, die „Folgemädchen" mit Einkaufskörben für ihre Herrschaften, die Höker, die Kutscher auf Pferdefuhrwerken, drei Matrosen auf dem am Kai festgemachten kleinen modernen Fluss-Dampfsegler mit den beiden großen Schaufelrädern an den Seiten, sicher auch einige Spaziergänger vom neuen Strandbad her, Frauen mit kleinen Kindern an der Hand, alte, gebeugte Männer, Hände auf dem Rücken und Pfeife im bärtigen Mund, Dragoner der in der Nähe stationierten Hanseatischen Brigade zu Pferd in blauer Uniform und schwarzen Tschakos, sagen wir zwei, sich unterhaltend, der eine beugte sich vielleicht gerade halb höflich lächelnd, halb anzüglich grienend zu zwei ihnen entgegenkommenden „Demoiselles“ mit Körben auf dem Kopf herab und lüpfte seinen hohen Tschako: „Gaudn Dach, smucke Mamsellings, hüüt hefft wi fien Weder, wat?", worauf beide aufkicherten und die eine halb spöttisch, halb kokett, ohne sich nach dem jungen Reiter umzusehen, rief: „Jo, un so'n mojen Blötenröök inne Luft." (so ein schöner Blütenduft) ..., diese Menschen sahen auf und blickten über das Wasser. Vom Horizont her segelte langsam ein Schiffsgeschwader in die Lübecker Bucht herein, drei imposante große Dreimaster und mehrere kleine Boote, ein beeindruckendes Bild, auch für die schiffsgewohnten Travemünder. „De Schwadroon föör de schweedsche Königin", sagte einer, viele nickten wissend. Ein anderer meinte: „Öäwer de kümmt nich in'n lüttn Tramünner Haabn, de sün tau vääl.“

Es waren Schiffe der schwedischen Kriegsmarine, die sich da mit schlaffen Segeln langsam Travemünde näherten, ein sehr großes, gewaltiges Linienschiff, zwei etwas kleinere Fregatten und mehrere noch kleinere Schiffe. Sie fuhren nicht ganz an den Hafen heran, sondern ankerten draußen auf der Reede. Vom Linienschiff, einem eindrucksvollen Schlachtschiff mit drei Kanonendeckreihen, löste sich bald ein langes Beiboot, das, von kräftigen Matrosenarmen gerudert, in den Hafen einfuhr und gleich neben dem Travedampfer am Kai festmachte. Mehrere Männer, ganz offensichtlich ranghohe Persönlichkeiten, einige in schwedischer Uniform, sprangen lachend und heiter redend an Land, empfangen von einer Gruppe Lübecker Honoratioren, die schon einige Zeit auf die Ankömmlinge gewartet hatten, unter ihnen ein älterer Herr mit gepflegtem Knebelbart, ungefähr Mitte sechzig, etwas altmodisch mit einem Dreispitz auf einer gepuderten Zopf-Perücke mit Lockenröllchen an den Seiten, dem offiziellen Anlass entsprechend. An einem Halsband trug er ein ovales dunkelrot-goldenes Medaillon, die schwedischen Besucher erkannten sofort den schwedischen Ritterorden. Man begrüßte sich förmlich und höflich, dennoch entspannt und heiter. Einige der Lübecker Herren mühten sich redlich mit dem Schwedischen ab, die meisten schwedischen Offiziere sprachen Deutsch in dem charakteristischen schwedischen Singsang.

Genau dreizehn Herren waren da von dem Kriegsschiff gekommen. Sie stiegen, nachdem sie sich über längere Zeit mit dem Lübecker Empfangskomitee unterhalten hatten, alle zusammen in mehrere bereitstehende Kaleschen und fuhren in den Ort. 

Erst am Abend kamen sie zurück zum Hafen. Die Neuankömmlinge waren wohl in der Zwischenzeit bewirtet worden. Jetzt stiegen sie in den kleinen Schaufelrad-Dampfer, der augenblicklich losmachte, Segel setzte, die kleine Dampfmaschine aufstampfend anwarf, eine dicke schwarze Wolke in die Luft schleuderte und die Trave hinauf in Richtung Lübeck davonpuffte.

Wechsel des Schauplatzes: Oldesloe (Bad wurde der Ort offiziell erst hundert Jahre später), dreißig Kilometer südwestlich von Lübeck, Poststation, 2. Juni 1823, fünf Uhr Nachmittag, immer noch herrliches Wetter, die Luft satt mit Raps und Lindenblüten. Mehrere herrschaftliche Kutschen standen vor der Station und den angrenzenden Häusern aufgereiht, unter ihnen eine sehr große, sehr vornehme Karosse mit einer riesigen Federung. Verteilt über den Sandplatz Soldaten zu Pferd, laut, fröhlich, erschöpft, in verschiedenen Uniformen. „Mia san heit von Hambuak ume kimma", hörte man einen sagen: bayrische Kürassiere, begleitet von dänischen Husaren – Oldesloe gehörte zu Dänemark – und von Angehörigen der Hamburger Bürgerwehr.

Der hochherrschaftlichen Kutsche entstieg, nachdem ein dienstbeflissener bayrischer Offizier den Schlag geöffnet und die Treppe heruntergeklappt hatte, ein junges Mädchen, gerade sechzehn Jahre alt, offensichtlich von hoher Abkunft. Derselbe ältere Herr mit dem Dreispitz und der altmodischen gepuderten Zopf-Perücke mit den Lockenröllchen, der am Tag zuvor am Travemünder Kai zum Empfangskomitee für die schwedische Gesandtschaft gehört hatte, trat aus einer Gruppe lübischer Honoratioren hervor und verneigte sich tief vor dem Mädchen. In einem nicht ganz lupenreinen Französisch mit norddeutschem Akzent brachte er seine große Freude über die hohe Ehre zum Ausdruck, die junge bayrische Herzogin und nunmehrige schwedische Kronprinzessin Josefina empfangen und nach Lübeck geleiten zu dürfen. Das Mädchen antwortete charmant in akzentfreiem Französisch.

Erneuter Ortswechsel: Zwei Stunden später in der Breitenstraße, Haus Nummer 821, im Zentrum Lübecks, im großzügigen Hause eines Dr. med. Jacob August Schetelig. Dichtes Gedränge in der weiten Diele, der Vorhalle. Die dreizehn hohen Herren, die tags zuvor mit der schwedischen Schwadron nach Travemünde gekommen waren, standen ebenso hohen Herren aus München gegenüber. Es wurden feierliche Reden gehalten, man unterhielt sich leise, aber zwanglos, Champagner wurde von Lakaien auf riesigen Tabletts angeboten. Im Hintergrund hielt sich auch wieder der ältere, knebelbärtige Herr Mitte sechzig auf mit der Zopf-Perücke, wobei das keineswegs die einzige Perücke im Saal war. In einem thronartigen Sessel inmitten der bayrischen Edlen saß freundlich lächelnd und neugierig auf die schwedischen Herren gegenüber blickend die sechzehnjährige Prinzessin, die Französisch sprach wie eine Französin, umgeben von einigen jüngeren und älteren Damen. Dann wurde sie gebeten sich zu erheben, und ein noch junger Bayer, er mochte, nach seiner Kleidung zu schließen, ein Graf oder gar ein Herzog sein, führte das Mädchen galant an der Hand hinüber zur schwedischen Gruppe, aus der sich ein ebenfalls eher jüngerer Herr, wohl auch ein Graf, herauslöste, auf die Prinzessin zuging, sie aus der Hand des bayrischen Herzogs in Empfang nahm, sie ähnlich galant zu einem anderen thronartigen Sessel führte, um den sich die Schweden gruppierten, und lud sie dort mit einem höflichen Diener ein darin Platz zu nehmen. Damit war die offizielle Übergabe der bayrischen Prinzessin durch den bayrischen Hofstaat an den schwedischen Hofstaat vollzogen, und man begab sich zur Abendtafel.

Gesprochen wurde vorwiegend Französisch. Nur wenn gelegentlich Schweden untereinander redeten, geschah das auf Schwedisch. Und wenn gelegentlich Lübecker miteinander redeten, etwa Herr Dr. Schetelig mit Senator von Evers oder der alte Konsul Grimm mit dem Bürgermeister, dann sprach man Platt. „Sei snackt je man bannich akkraat Franzöösch, dei Prinzess", könnte der Konsul gesagt haben. Nu, dat is je ook ehr Mudderschpraak", lasse ich den Bürgermeister entgegnen. (Die Lübecker, die eher das Mecklenburger Platt sprechen, sstolpern nicht über sspitze Ssteine wie die Holsteiner und Hamburger, also sagen sie „Mudderschpraak“ statt „Muddersspraak“, „Mudder“ übrigens fast wie „Murrer“ ausgesprochen, und „Schpraak“ mit langem, offenem o, also etwa: „Murrerschprork“.)

Nach dem Essen wurden die Herren in einen Nebenraum geladen, wo die neuartigen englischen Zigarren aus den Kolonien in Amerika angeboten wurden. „Dei Knastersmöök“, werden die Älteren gesagt haben, „nee, dat is nix föör mi. Dor preferier ik mien meerschümern Pipen tau Huus.“

Am folgenden Tag, dem 3. Juni 1823, früher Abend, im Holstentor, dem mittleren Tor der früheren Anlage, die ursprünglich aus drei hintereinander folgenden Toren bestanden hatte. (1823 stand noch das äußere Holstentor, „Krummes Tor“ genannt; es wurde erst 1853 abgerissen.) Ein noch größerer Kutschenkonvoi als am Vortag in Oldesloe, noch mehr Soldaten, und die größte Kutsche noch vornehmer. Diesmal trat eine Dame Mitte vierzig aus dem Innern des fürstlichen Gefährts, etwas füllig, aber mit einem besonders anziehenden Lächeln: die schwedische Königin Desideria. Sie blickte zum abendlichen Himmel empor und sog sichtlich zufrieden die frühsommerliche Luft ein. Nachdem drei schwedische Grafen die Monarchin begrüßt hatten, ein älterer und zwei jüngere in Paradeuniform, trat auch der uns bereits bekannte ältere Herr mit dem Dreispitz und der gepuderten Perücke und dem ovalen dunkelrot-goldenen Medaillon am Halsband auf die Königin zu, stellte sich als der schwedisch-norwegische Generalkonsul in der Hansestadt Lübeck vor und fragte, den Hut ziehend und sich ehrerbietig tief verbeugend, in einem mit plattdeutschem Akzent versehenen Französisch, ob Ihre Majestät eine angenehme Reise aus Paris hinter sich habe, worauf die Königin, wie die bayrische Prinzessin akzentfrei, antwortete: „Un voyage très agréable, Monsieur le Consul Général. Il fait beau temps maintenant ici, Monsieur. J'espère que cela soit pareil en Suède en été." - „Tout pareil", beruhigte sie der ältere Herr und verneigte sich so tief, dass es aussah, „as wenn hei Knöpnadeln up den Fautbodden säuken ded“ (Fritz Reuter. Knöpnadeln sind Stecknadeln). „Vous aimerez l'été Suédois. Il est tout comme à Paris." Er wusste, wie sehr die Königin den kalten Norden fürchtete. Schließlich war sie vor zwölf Jahren, als sie zum ersten Mal schwedischen Boden betreten hatte – im Winter –, Hals über Kopf wieder in ihre französische Heimat zurückgekehrt und dort geblieben.

Der Blick der Königin fiel auf das Medaillon am Halsband, und sie fragte: „Un ordre?" „Un ordre Suédois, Son Altesse. Le roi, le prédécesseur de l'époux de Son Altesse, m'a remit cet ordre de chevalerie de Vasa." „Chevalier?", erwiderte die Königin. „C'est très bon." Sie hatte offenbar nie etwas von dem Wasa-Orden gehört, alles Schwedische war ihr fremd. Er sagte, er habe die überaus große Ehre, Ihre Majestät Allerhöchst in die Stadt begleiten zu dürfen. Und gemeinsam ratterte man in einer großen offenen Kutsche über die gepflasterten Straßen auf die Parade, eine Straße oberhalb des Doms, zur Villa des Senators Christian Nicolaus von Evers, Haus Nummer 950.

Dort, in der vornehmen Villa des Senators von Evers, so stelle ich es mir vor, gab es einen großen Empfang. Hohe Würdenträger aus Frankreich, aus Schweden, aus Bayern, aus Lübeck drängten sich im Empfangssaal. Auch die sechzehnjährige Prinzessin war anwesend. Wieder wurden Reden gehalten, Toasts ausgesprochen, man unterhielt sich leise und höflich über Belangloses, man langweilte sich und wartete sehnsüchtig auf das Essen.

Irgendwann erhob sich der schwedische Generalkonsul in Lübeck, Johann Anton Grimm, der ältere Herr mit dem gepflegten Knebelbart, der gepuderten Perücke und dem dunkelrot-goldenen Ritterorden am Hals. Er trat an einen der mit Getränken überbordenden Tische, nahm von dort einen hohen, prachtvollen gläsernen Champagnerkelch auf, voll gefüllt mit perlendem – lassen wir es einen Chartogne Taillet sein, der klingt sehr edel und den gab es 1823 schon. Mit zwei Händen musste er den Kelch tragen, schritt mit ihm feierlich zur Königin, die lässig in einem Repräsentationssessel lehnte, verbeugte sich und reichte ihr das Glasgefäß mit den Worten: „Son Altesse Royale, soyez la bienvenue. Je me sens très honoré de vous accueillir pour votre visite ici dans la ville anséatic de Lübeck", und so weiter; mag sein, dass das Französisch nicht ganz fehlerfrei war. Die Königin nahm den Kelch, fast verschüttete sie dabei ein wenig, setzte ihre rot geschminkten Lippen an den Goldrand, was ihr, da sie saß und der Fuß des Kelches an ihren Schoß stieß, nur mit Mühe gelang. Sie musste ihren Kopf heben, so hoch war das Gefäß. „Comme il est beau, le verre", sagte Königin Desideria, das goldverzierte Prachtglas bewundernd, nippte einmal, nippte zweimal und nahm dann nochmal zwei kräftige Schlucke, setzte ab, setzte wieder an und nahm einen abschließenden Schluck. Der Chartogne Taillet gefiel ihr sichtlich. Dann gab sie das Glas zurück. Auch der jungen Prinzessin Josefina wurde der Champagner kredenzt, auch sie machte auf Französisch eine anerkennende Bemerkung über den Glaskelch, auch sie hinterließ leichte Lippenstiftspuren an dem Goldrand.

Und dann hieß es endlich: „Ses Altesses Royales, Mesdames et Messieurs, à table, s'il vous plaît."













Der Champagnerkelch

Um mir für die Beschreibung den Champagnerkelch, unser Familienheiligtum, vom Schrank herabzuholen, wasche ich erst einmal meine Hände und ziehe weiße Baumwollhandschuhe an wie in einem Archiv, wenn man besonders alte und wertvolle Pergamentrollen in die Hand nehmen möchte. Vorsichtig hebe ich mit beiden Händen das geheiligte Glasgefäß vom Schrank herunter. Ganz so heilig glänzen tut es allerdings nicht, es ist völlig verstaubt, unten im Kelchgrund modert unter Fusseln eine vertrocknete Mückenleiche. Vielleicht sollte man das Heiligtum ab und zu mal waschen.

Das mache ich jetzt, und zwar ganz respektlos mit Wasser. Das Bad tut ihm sichtlich gut: Es beginnt zu glänzen. Ich stelle es sodann vorsichtig vor mir auf den Tisch.

Knapp 43 Zentimeter hoch ragt der Glaskelch vor mir auf, die Öffnung mit dem Goldrand oben mit einem Durchmesser von achteinhalb Zentimetern, und der kreisrunde flache Fuß unten mit dem doppelten Goldrand hat einen Durchmesser von zehneinhalb Zentimetern. Dieses wunderschöne Stück festes, relativ dickes, solides Glas ist eine Handarbeit, nichts ist maschinell regelmäßig, einige kleine Luftbläschen unten im Stiel und im Fuß, der ganze Kelch steht ein wenig wackelig. Mit vierzehn Zentimetern bietet der oktagonische Stiel oberhalb des runden Fußes gerade genug Platz, um das Gefäß mit zwei Händen zu greifen. Oberhalb des Stiels öffnet sich der Kelch schlank über 26 Zentimeter hoch. Und dieser Hauptteil des Kelches, in den der Champagner eingefüllt wird, ist durchzogen von Verzierungen in dunklem Gold: stilisierte Blumen, länglich in die Höhe gezogene Bogenlinien, oben am Rand Borten, Eichenblätter, mäandernde Blumenmuster, alles wie auf einem Ehrenpokal, nicht überladen, ein dicker Goldrand oben, wo der (oder die) Trinkende nippt.

Ich kenne diesen Glaskelch seit meiner Kindheit. Er stand immer schon auf dem Schrank, auch bereits in unserem elterlichen Wohnzimmer. Und einmal im Jahr, zu Silvester, wurde er feierlich vom Schrank heruntergeholt, mit Sekt gefüllt und als Neujahrstrunk herumgereicht. Jeder durfte einen Schluck nehmen, auch wir Kinder, jeder durfte seine Lippen an den geschichtsträchtigen Goldrand setzen und nippen wie – vielleicht – die schwedische Königin Desideria und die schwedische Kronprinzessin Josefina im Juni 1823. Für uns war dieser gläserne Prachtkelch eine Ikone, ein Palladium, der Gral. Denn: Auch wenn Königin und Prinzessin daraus gar nicht getrunken haben, und auch wenn nicht einmal genau feststeht, bei welchem Empfang der Kelch zum Einsatz gekommen ist, von einem dürfen wir mit Sicherheit ausgehen: Der Champagnerkelch ist für einen königlichen Empfang angeschafft worden. Daran lässt die Familienüberlieferung keinen Zweifel.

Ich setze jetzt mal fest, es war der Empfang Anfang Juni 1823. Aber woher wissen wir, dass es diesen Empfang gegeben hat, den ich in meinen Eingangsszenen ausfantasiert habe?

Es gibt eine Notiz von Johann Anton, nicht im Original, sondern in einer Abschrift von dessen Enkel Wilhelm, meinem Urgroßvater. Der hat biografische „Lebensskizzen“ über einige Grimms verfasst, eben auch über seinen Großvater Johann Anton, und darin zitiert er die Notiz. Sie lautet – fehlerbereinigt – so:

"Im August 1823 erhielt ich von Sr. Königlichen Hoheit, dem Kronprinzen Oscar zum Beweise Allerhöchst dero Zufriedenheit für die Aufnahme Ihro Durchlauchtigsten Braut, der Prinzessin Josephine, Tochter des Herzogs von Leuchtenberg und Fürsten zu Eichstätt Eugène de Beauharnais, diese goldene Dose, auf deren Deckel sich ein O (?) Brillanten findet, zum Geschenk. Zur Abholung der Prinzessin von hier nach Stockholm traf hier am 1. Juni eine schwedische Escadre von 1 Linienschiff, 2 Fregatten und verschiedenen kleineren Fahrzeugen auf der Travemünder Reede ein, auf welcher sich die königl. schwed. Suite zur Empfangnahme allhier befand. Sie bestand aus 13 Personen, worunter sich ... befanden, die denselben Abend noch mit einem Dampfschiffe von Travemünde nach Lübeck kamen.

Den 2. Juni um 5 Uhr nachmittags traf die Prinzessin mit ihrer Suite in hohem Wohlsein hier ein. Ich hatte den ehrenvollen Auftrag, die Prinzessin in Oldesloe zu empfangen und nach Lübeck zu begleiten, wo sie im Hause des Dr. Schetelig in der Breitenstraße abstieg, wo sie von dem schwed. Hofstaat empfangen wurde. Noch denselben Abend um 7 Uhr wurde die Prinzessin Braut von dem kgl. bayrischen Hofstaat übergeben, bei welchem Akte ich gegenwärtig war. Und um 9 Uhr war große Abendtafel, wozu ich, wie auch den anderen Mittag, gezogen wurde.

Noch denselben Abend trafen Ihre Majestät die Regierende Königin von Paris hier ein. Ich empfing Allerhöchst dieselbe mit drei anderen schwedischen Herren vor dem Holstentor und begleitete Allerhöchst nach ihrem Absteigequartier bei dem Senator v. Evers auf der Parade.

Da am 4. der Wind sehr vorteilhaft war, so gingen die Allerhöchsten Herrschaften schon um 1 Uhr mittags mit dem Dampfschiffe von hier durch Travemünde nach der Reede auf den Kriegsschiffen ab und setzten ihre Reise nach einer Stunde mit günstigem Wind nach Stockholm fort, wo sie nach einer angenehmen Fahrt von 8 Tagen glücklich und gesund angekommen.

Dieses meinen lieben Kindern zur Nachricht.

Lübeck, d. 9. Novbr. 1823

Joh. Anton Grimm"

Das ist meine Quelle. Ich denke, dass das meiste, was hier steht, so stimmt: die Orte, die Schiffe, die schwedische Abordnung, aus dreizehn Personen bestehend, die zeremonielle Übergabe der Prinzessin von einem Hofstaat an den anderen, die Abendtafel, die Namen Evers, Schetelig (Ich habe die beiden später in dem Lübecker Adressenverzeichnis im Archiv gefunden), den Ort Oldesloe, das Holstentor, die Parade und Breitenstraße, die beiden Fregatten, das Linienschiff, und so weiter. Fast alles habe ich an anderer Stelle bestätigt gesehen. Nur den Empfang am 3. Juni abends im Hause Evers auf der Parade, den habe ich erfunden. Aber ich gehe einfach davon aus, dass es irgendeine solche Zeremonie für die Königin gegeben haben muss. Und dabei ist eben unser Kelch zum Einsatz gekommen.

Warum haben die Empfänge nicht im Haus des Generalkonsuls stattgefunden? Ich vermute: Sein Haus war zu klein. Das Haus des Senators von Evers befand sich in der Parade Nr. 950. An seiner Stelle – heute Nr. 1 – steht jetzt das „Schloss Rantzau“, ein zwar neugotischer, aber dennoch schöner, jedenfalls prachtvoller Repräsentativbau. Wenn man davorsteht, kann man sich das Gebäude leicht für einen königlichen Empfang vorstellen. So muss auch das Evertsche Haus gewirkt haben.

Auch das Haus des Dr. Schetelig in der Breitenstraße Nr. 821, in dem die Prinzessin abgestiegen war, wird so ein repräsentatives Gebäude gewesen sein. Das kann man heute allerdings nicht mehr nachvollziehen, denn an der Stelle stehen jetzt, mitten in der Einkaufszone, zwei nüchterne Büroklötze, in denen unten eine „Back-Factory“ und ein „Nordsee“-Fischrestaurant untergebracht sind.

Ist die Königin am 3. Juni oder schon am 2. Juni angekommen? Ich lasse sie am dritten in Lübeck eintreffen, nach Johann Antons Worten in der Notiz („noch denselben Abend“) müsste es jedoch eher der zweite gewesen sein. Demnach wäre sie noch am Abend der Ankunft ihrer Schwiegertochter um neun Uhr zu der „großen Abendtafel“ dazugestoßen. Ich bin mir da nicht sicher. Aber allzu genau können wir das leider ohnehin nicht nehmen, weil die Daten der Notiz nicht sattelfest zu sein scheinen. Dazu später in diesem Kapitel mehr.

Jetzt die Frage: Wieso kam die Königin überhaupt aus Paris? Warum war sie nicht in ihrem Schweden, wo sie hingehörte? War sie auf Reisen? Nein, das war sie nicht. Sondern sie kam aus ihrer Heimat. Königin Desideria hieß nämlich eigentlich Désirée und war Französin. Daher sprach sie auch akzentfrei Französisch. Warum war sie nun in ihrer Heimat und nicht in dem Land, dessen Königin sie war?

Désirée Clary, so hieß sie mit vollem bürgerlichen Namen, stammte aus Marseille. Ihr Vater war Seidenhändler, und sie heiratete einen Monsieur Bernadotte aus der Gascogne. Als ihr Mann 1810 Kronprinz von Schweden wurde, musste sie ihm in dieses ferne, unbekannte Land folgen. Es war auch noch Dezember, als sie, 1810, reiste, und die arme, bedauernswerte Südfranzösin war krank vor Heimweh bei der Kälte und der Dunkelheit des Nordens. Die ganze Fahrt über hatte sie schon an einem grippalen Fieber gelitten. Kein halbes Jahr hielt sie es in Stockholm aus, dann zog es sie zurück in ihr geliebtes Paris. Zwölf Jahre blieb sie dort, fern von Ehemann, Sohn Oscar und ihrem Volk, bis sie sich im Sommer 1823 endlich entschloss, doch für immer nach Schweden zu ziehen. Auf dieser zweiten Reise kam sie eben durch Lübeck (wo ich den Generalkonsul der Königin beim Empfang am Holstentor versichern lasse, dass der schwedische Sommer ganz wie in Paris sei), und dort traf sie mit ihrer Schwiegertochter Josefina zusammen. (Offiziell erhielt Désirée den Namen Desideria übrigens erst am 21. August 1829 bei ihrer zeremoniellen Krönungsfeier.)

Und wer war diese sechzehnjährige Kronprinzessin Josefina aus Bayern, die so „akkraat Franzöösch snackt", weil das „ehr Mudderschpraak" ist?

Sie war keineswegs Bayerin, sondern ebenfalls Französin und hieß eigentlich nicht Josefina, sondern Joséphine. Ihr Vater, der Herzog von Leuchtenberg und Fürst zu Eichstätt, war nämlich auch kein gebürtiger Bayer, sondern er stammte aus Paris. Er hieß Eugène de Beauharnais und war der Sohn der berühmten Joséphine de Beauharnais aus ihrer ersten Ehe – sie war in zweiter Ehe mit Napoleon verheiratet, bis 1810. Mit Napoleons Unterstützung – der war sein Adoptivvater – heiratete dieser Eugène de Beauharnais die Prinzessin Auguste von Bayern, Tochter des bayrischen Königs Maximilian. Eugènes und Augustes Tochter Joséphine, geboren 1807, lebte ab 1815, dem Jahr von Napoleons Untergang, in Bayern. Sicher sprach sie Deutsch, schließlich war ihre Mutter Auguste Deutsche, aber ihre Haussprache gewissermaßen, die Sprache, mit der sie groß wurde, ihre Vatersprache sozusagen, war Französisch.

Die Hochzeit zwischen dieser Joséphine und dem schwedischen Thronfolger Oscar, dem Sohn Désirées also, fand in zwei Teilen statt. Im ersten Teil gab es eine Zeremonie in Abwesenheit des Bräutigams, und zwar am 22. Mai 1823 in München. Von dort fuhr Joséphine Anfang Juni 1823 über Lübeck, wo sie mit ihrer aus Paris kommenden Schwiegermutter zusammenkam und vom bayrischen an den schwedischen Hofstaat übergeben wurde, nach Stockholm. Dort, in Stockholm, wurde dann am 19. Juni der zweite Teil der Hochzeit gefeiert, diesmal zusammen mit Bräutigam Oscar.

Das war die Situation, in der Königin Desideria und Prinzessin Josefina in Lübeck von dem schwedischen Generalkonsul Johann Anton Grimm empfangen wurden. Es war Frühling, die Luft lau und blütenschwanger. Das versetzte die Frau, die zwölf Jahre zuvor nach Nordeuropa gefröstelt war, in eine weit bessere Stimmung, eine Stimmung, in der man auch gerne einen Schluck Champagner trinkt, erst recht, wenn man ihn in einem so schönen Glaskelch dargereicht bekommt. Und der Frühling versetzte sie in eine Stimmung, in der man auch als Südfranzösin gern nach Schweden segelt, vor allem wenn es sich um ein so stattliches Schiff handelt wie das Linienschiff, das vor Travemünde in der Lübecker Bucht auf sie wartete.

Exkurs: Linienschiff. Mit diesem Begriff konnte ich nichts anfangen, als ich ihn zum erstenmal las. Ich habe ihn gegoogelt und bei Wikipedia dies gefunden: Linienschiffe waren damals die größten Kriegs-Segelschiffe, bestückt mit fünfzig bis hundertdreißig Kanonen verteilt über zwei, drei oder sogar vier Decks. Sie waren größer und damit schwerfälliger als Fregatten, bei denen es mehr auf Schnelligkeit und Wendigkeit ankam. In der Gefechtsordnung segelten die Linienschiffe in Formation hintereinander in Kiellinie – daher der Name – und bildeten so, alle zusammen, zur Seite hin eine Front mit unzähligen Kanonen. Taktisches Ziel solcher Seeschlachten mit Linienschiffen war es unter anderem, die Linien des Gegners zu durchbrechen. Daher fuhr man mit möglichst vielen Linienschiffen auf. In der Schlacht von Trafalgar 1805 beispielsweise, in welcher die Briten der Marine Napoleons eine vernichtende Niederlage beigebracht haben, standen sich mehrere solcher Kampflinien von etwa dreißig Linienschiffen auf jeder Seite gegenüber, grob geschätzt dreitausend Kanonen pro Seite. Es gibt Skizzen und Gemälde, in denen man das schön sehen kann.

Das Flaggschiff der Briten in der Trafalgarschlacht übrigens, ein Dreidecker-Linienschiff, die "Victory", auf der der siegreiche Admiral Nelson fiel, steht heute als Museumsschiff im Hafen von Portsmouth im Süden Englands. Ich war einmal dort und habe das Schiff besichtigt – ohne zu wissen, dass es sich um ein Linienschiff handelt –, und ich erinnere mich, wie überrascht ich war von der Größe dieses Segelschiffes: Auch wenn man heutige Frachter gewohnt ist – klammern wir mal die Containerhypergiganten aus –, so ist man doch beeindruckt von so einem Schiffsriesen, in dem man sich über die vielen Stockwerke, Treppen, Gänge leicht verlaufen könnte. Man wundert sich, dass so ein gewaltiger Koloss allein durch Windkraft in Bewegung gesetzt werden kann.

Ich erinnere mich aber auch, wie beklemmend eng es in den Kanonendecks war: Kanone neben Kanone, und jede musste von mehreren Männern bedient werden, unter niedrigen Decken, für den einzelnen gerade so viel Platz, dass Kugeln geholt, die Kanonen gestopft und abgeschossen werden konnten. Was muss das für ein Krach gewesen sein. Die Leute müssen, wenn sie überhaupt eine Schlacht überlebt haben, mit einem Ohrenschaden nach Hause zurückgekehrt sein. Und dann, in dieser Eingeschlossenheit – nach draußen sah man gar nichts, und von draußen pfiff nur Luftzug herein –, die ständige Angst vor Zertrümmerung der Bordwand, Wassereintritt, Untergang. Viel enger ist es in einem U-Boot auch nicht mehr.

Unvorstellbar auch die Männermassen, die auf so einem Schiff hausten und arbeiteten, Hunderte pro Schiff, von bis zu dreihundert Matrosen lese ich, bei großen Kriegsschiffen noch weitere vierhundert Soldaten. Siebenhundert Männer auf dem Schiff, und das oft über Monate! Die Schlaf-Hängematten, die jeweils von zwei oder drei Matrosen abwechselnd belegt wurden, hingen dicht bei dicht nebeneinander, so dass man sich nur mit Mühe hineinzwängen konnte.

Ich füge Informationen hinzu, die ich von einer Tafel im „Maritimen Museum" im ehemaligen Kaispeicher B in der Hafencity in Hamburg habe: Die Decks wurden selten gewaschen, Schmutz bei schlechtem Wetter einfach in die Bilge geleitet. (Bilge, auf See wohl auch eng-lisch ausgesprochen, Biltsch, ist der unterste Raum in einem Schiff gleich über den Kielplanken, in dem ständig eindringendes fauliges Wasser schwappte.) Zur Belüftung der unteren Decks wurden die Geschützpforten geöffnet. Bei schwer geladenen Schiffen unterblieb selbst das, denn die Öffnungen waren dann unter Wasser. Feuchtigkeit, Dunkelheit und schlechte Luft setzten den Seeleuten zu. Und in dieser Atmosphäre leisteten Matrosen Schwerstarbeit. Sie waren manchmal so erschöpft, dass sie aus purer körperlicher Kraftlosigkeit Fehler begingen und Unfälle verursachten.

An Bord wurde eiserne Disziplin eingefordert, selbst bei kleinsten Vergehen gab es die Prügelstrafe. Was zur Meuterei auf der Bounty führte, war, wie ich auch woanders einmal irgendwo gelesen habe, gang und gäbe auf allen Schiffen der Weltmeere. Mit Windjammer-Romantik hat das nicht viel zu tun.

Lebensmittel wurden auf langen Reisen immer ungenießbarer. Trocknen und Salzen waren die einzigen Möglichkeiten zu ihrer Konservierung, frischer Proviant fehlte meist völlig. Nach wenigen Wochen auf See wurde zudem das Trinkwasser brackig. Ersatzweise gab man den durstigen Männern Branntwein, und zwar in großen Mengen. Zum Durstlöschen! Jedenfalls war wenigstens an Schnaps kein Mangel auf den Schiffen, die Seeleute müssen alle Alkoholiker gewesen sein. Es ist, glaube ich, kein Seemannsgarn, wenn erzählt wird, dass Admiral Nelson nach seinem Tod während der siegreichen Schlacht von Trafalgar in einem Fass voll Rum – davon hatte man genug – zurück nach England gebracht wurde, damit der Körper bis zur Siegesfeier und Bestattung nicht zerfiel.

Die häufigste Todesursache auf See jedoch waren Mangel- und Infektionskrankheiten, so die Infotafel weiter. Die Geißel der Seefahrt war der Skorbut. (Die Infotafel schreibt „die Skorbut", mehrmals, leider falsch.) Erst als der schottische Arzt James Lind 1753 nachwies, dass der Verzehr von Vitamin C enthaltenden Zitrusfrüchten den Ausbruch der Krankheit verhindere, konnte sie ihren Schrecken verlieren. Doch die Studie blieb lange unbeachtet. Ich denke aber, bis 1823 hatte sie sich bis Schweden herumgesprochen, und die Besatzungen der schwedischen „Escadre" vor Travemünde brauchten zumindest diese Geißel nicht mehr zu fürchten.

An all das dachte man jedoch nicht, wenn man 1823 von einem Linienschiff schrieb, sondern man dachte an ein stolzes Schlachtschiff, an ein Schiff zum Repräsentieren: Eine Königliche Hoheit fuhr in einem Linienschiff. 

Der riesige Viermaster „Passat“ übrigens, der heute als Museumsschiff in Travemünde liegt, verzerrt uns Heutigen die Vorstellung von so einem Linienschiff, da es sich dabei um eine Stahlbark aus dem frühen 20. Jahrhundert handelt, nicht vergleichbar mit den Schiffen von über einem Jahrhundert davor.

Zurück nach Lübeck zu Johann Anton Grimm: Leider stimmen einige Angaben aus seiner Notiz nicht überein mit dem, was ich in anderen Darstellungen gelesen habe. In einer sehr detaillierten Biographie Bernadottes, des Ehemanns der Désirée, einem Buch, das ganz offenbar auf gutem Quellenstudium beruht, nämlich Alan Palmers „Bernadotte, Napoleon's Marshal, Sweden's King“ (1990), lese ich, dass Königin und Kronprinzessin am 3. Juni mit den Schiffen schon vor Stockholm eingelaufen seien, dem Tag, an dem ich noch große Abendtafel in Lübeck halten lasse. Johann Anton schreibt, erst am 4. Juni sei die Schwadron vor Travemünde in See gestochen. Wem dürfen wir glauben? Ich fürchte, eher Alan Palmer.

Der schreibt außerdem, die schwedische Abordnung habe mehrere Tage auf günstigen Wind warten müssen, habe also nicht gleich am folgenden Tag abreisen können. Und: So angenehm scheint die Seereise zumindest für die Königin nicht gewesen zu sein, wie Johann Anton notiert hat: Sie sei, so schreibt Palmer, die ganze Fahrt über seekrank gewesen. Aber das gute Wetter, das ich für ihre gute Laune in Lübeck und für ihre Zuversicht auf einen zweiten Versuch in Stockholm brauche, das wird von Alan Palmer bestätigt.

Eine weitere Ungereimtheit habe ich ebenfalls nicht klären können: In zwei historischen Berichten finde ich, dass das erste Dampfschiff in Lübeck erst 1824 zum Einsatz gekommen sei. In der Aufzeichnung meines Ahns wird aber unmissverständlich der Dampfer erwähnt, zweimal, und die Aufzeichnung ist nicht etwa viel später niedergeschrieben worden mit der Möglichkeit einer irrigen Erinnerung, die Aufzeichnung stammt vom November 1823. Die Daten mag er nicht mehr genau im Kopf gehabt haben, mit dem Dampfer kann er sich nach einem halben Jahr nicht geirrt haben. Erklärungsversuch: In den historischen Berichten wird von dem Einrichten der ersten Dampfschiff-Linie zwischen Travemünde und Kopenhagen gesprochen. Eventuell gab es vorher schon einen kleinen Flussdampfer-Betrieb zwischen Lübeck und Travemünde.

Wie auch immer, dieser Dampfer hatte zwei große Schaufelräder, eines an jeder Seite, worüber die Trave-Fischer sich beschwerten, wie ich lese, weil „durch solche wöchentlich wiederkehrende Bewegungen des Wassers der Trave die junge Fischbrut im Sommer zerstört, das Ausbrüten derselben gehemmt und durch das gewaltige Schlagen der auf den beiden Seiten eines Dampfschiffes sich mit großer Gewalt bewegenden Räder das Fortkommen der jungen Fische, die länger als ein Jahr bedürfen, gestört wird." Auf Bildern aus der Zeit sieht man übrigens, dass diese Dampfer noch hohe Masten hatten und auch unter Segel fuhren.

Die goldene Dose mit dem "O Brillanten" (mir unverständlich. Kreis Brillanten?) ist verschollen. Wilhelm notierte, sie sei im Besitz seines Neffen Herbert. Die letzte mir bekannte Nachricht von diesem Neffen: 1921 geschieden. Dessen Nachkommen möchte ich nicht nach der Golddose absuchen. Die können sonstwo in der Welt verstreut sein, das ist mir zu aufwendig. Und wer weiß, am Ende finde ich heraus, dass die Dose irgendwann verpfändet wurde. Von so einem Familiensakrileg möchte ich lieber nicht erfahren.

Aber der Champagnerkelch, den gibt es. Den habe ich hier vor mir. Und dass der bei einem Empfang im Juni 1823 zum Einsatz kam, das ist zumindest gut möglich. Wenn der Generalkonsul die beiden Hoheiten nicht in seinem eigenen Hause absteigen lassen konnte – weil es nicht herrschaftlich genug war? –, dann wollte er der Königin und der Kronprinzessin bei dem offiziellen Empfang im Hause des Senators von Evers auf der Parade wenigstens feierlich etwas kredenzen; und er dachte daran, einen Champagnerkelch machen zu lassen, natürlich nicht irgendeinen, sondern einen großen, einen prächtigen mit Goldverzierungen, einen Repräsentationskelch.

Kann aber natürlich auch sein, dass keine von den beiden hohen Herrschaften das Glas überhaupt gesehen hat. Vielleicht hat der Konsul es gar nicht anfertigen, sondern von einem seiner Gesellen in einem Glasgeschäft kaufen lassen und es für den Empfang bereitgehalten. Dann jedoch war die Königin vielleicht zu erschöpft von der langen Reise und hat sich gleich mit ihrer Schwiegertochter an den Esstisch gesetzt, um schnell einen Imbiss einzunehmen und sich dann eilig ins Bett zu begeben. Der Kelch stand dann noch immer in der Vorhalle des Hauses, in dem der Empfang stattgefunden hatte – ein kurzer, hastiger Empfang, keine Zeit für ermüdende Rituale –, und der Champagner darin moussierte unangetastet vor sich hin, bis das Folgemädchen, wie die Dienstmädchen genannt wurden – bei Thomas Mann lese ich auch „Folgmädchen", ohne e –, bis solch ein Folgemädchen ihn mit dem anderen Geschirr abräumte, wusch und zum Haus des Herrn Konsul brachte. Und der Konsul stellte das gute Stück dann, ohne dass es je von königlichen Lippen berührt worden wäre, in seinen Wohnzimmerschrank.

Es ist übrigens keineswegs ausgeschlossen, dass nicht (nur) Désirée, sondern (auch) Bernadotte aus dem Glas getrunken hat. Es ist nämlich wahrscheinlich, sogar sicher, dass sich auch der schwedische Herrscher und der schwedische Konsul in Lübeck persönlich begegnet sind: Mindestens zwei Anlässe kommen in Frage: Die Befreiung Lübecks von der französischen Besatzung im Dezember 1813 durch Bernadotte, damals noch nicht König, sondern schwedischer Kronprinz. Und zweitens die Rückkehr des Kronprinzen von den Siegesfeiern über Napoleon in Paris 1814. Dabei ist er nachweislich durch Lübeck gekommen, um am 26. Mai in Travemünde an Bord einer Fregatte nach Stockholm zu gehen. Und dass der Kronprinz Schwedens durch Lübeck reiste, ohne dass der schwedische Konsul ihn empfing, das ist nahezu ausgeschlossen. Es ist daher denkbar, dass unser Champagnerkelch schon bei einem dieser beiden Anlässe seinen Auftritt hatte und somit Bernadottes Lippenspuren trägt. Und wenn es so war, warum soll der Generalkonsul nicht den Kelch neun Jahre später noch einmal aus dem Schrank geholt und ihn beim Empfang im Haus des Senators auf der Parade auch der Königin und der Kronprinzessin dargereicht haben? Damit hätten Désirée und Bernadotte daraus getrunken, und zusätzlich noch die Prinzessin

Das alles ist leider nicht belegt. Aber eines ist sicher: Der Kelch existiert, er ist zweihundert Jahre alt und stammt von meinem Urururgroßvater. Und wenn er gar nicht bei einem königlichen Empfang zum Einsatz gekommen ist, so war er zumindest für einen königlichen Empfang gedacht. Daher: Ich bewahre den Champagnerkelch wie den heiligen Gral und erzähle jedem: Aus diesem Glas tranken einst die schwedische Königin, die Urmutter des Hauses Bernadotte, und Carl Johann, wie er sich in Schweden nannte, der Urvater des Hauses Bernadotte, des Königshauses, das noch heute in Drottningholm residiert.












Bernadotte

Haus Bernadotte, so heißt die heutige schwedische Königsfamilie. Bernadotte? Wer war Bernadotte, der Ehemann Désirées? Ein Franzose, der 1810 Kronprinz und dann 1818 König von Schweden wurde? Ein Bürgerlicher in einem Königreich, das keine Revolution erlebt hatte wie Frankreich? Und auch noch ein Katholik in einem Land, in dem der Protestantismus Staatsreligion war? Man reibt sich verwundert die Augen, und auch die Zeitgenossen haben sich verwundert die Augen gerieben.

Französischer König irgendwo in Europa unter Napoleon, das kennen wir: Der „Empereur" hat seinen Bruder Joseph zum König von Neapel, später von Spanien gemacht, einen anderen Bruder, Louis, zum König von Holland, und Bruder Jérôme wurde König von „Westphalen“. Napoleons Vertrauter Murat war Josephs Nachfolger in Neapel, und auch für Polen hatte Napoleon zeitweilig einen Franzosen vorgesehen. 

Aber Schweden! Schweden war von den Franzosen gar nicht besetzt. Und vor allem: Es war nicht etwa der Europabeherrscher Napoleon, der Bernadotte zum König bestimmte, es waren die Schweden selber, die ihn gewählt haben, aus freien Stücken. Sie wollten ihn, und sie begrüßten ihn jubelnd, als er, zum ersten Mal in seinem Leben, nach Schweden kam. Nie zuvor hatte er etwas mit dem Land zu tun gehabt, und er sprach dementsprechend auch kein Wort Schwedisch.

Es lohnt sich, diesen Werdegang genauer zu betrachten, so ungewöhnlich, ja sensationell ist er, dieser Aufstieg und Nationalitätenwechsel, keineswegs typisch für die Zeit. Und Bernadotte hat für Lübeck und für uns eine Bedeutung gehabt.

Jean Baptiste Bernadotte, so sein vollständiger Name, wurde als Sohn eines Anwalts geboren, in Pau in der südfranzösischen Gascogne. Dass er als Bürgerlicher in Frankreich eine Karriere bis in die höchste Machtsphäre in Paris hingelegt hat, das ist leicht nachzuvollziehen, wir kennen das ja schon von Napoleon. Die Revolution hat ihm, einem militärisch Hochbegabten, in der Armee Tür und Tor geöffnet, was vor 1789, als er seine Militärlaufbahn begann, unmöglich gewesen wäre. Er hat unterschiedliche hohe Funktionen innegehabt, unter Napoleon war er Gouverneur, noch in Zeiten der Republik ist er für einige Monate Kriegsminister gewesen. Er gehörte sogar zu den Männern, die als mögliche Nachfolger Napoleons gehandelt wurden für den Fall, dass der selbsternannte Kaiser in einem seiner Feldzüge fiel.

Obwohl Bernadotte einer von Napoleons höchsten Militärs war, nämlich einer der achtzehn Marschälle, gehörte er nicht zum engeren Vertrautenkreis des Kaisers. (In Napoleon-Biographien findet man ihn keine sehr große Rolle spielen.) Die beiden sind sich nie ganz grün gewesen. Das fing schon mal damit an, dass Désirée Clary, Bernadottes Ehefrau, in jungen Jahren in Marseille die Verlobte des damals noch völlig unbekannten Napoleone Buonaparte gewesen war. Der hatte dann später mit Joséphine de Beauharnais lieber in die Pariser Machtwelt hinein geheiratet, statt die zwar reiche, aber in Paris unbekannte Seidenhändlerstochter Désirée aus Marseille zur Frau zu nehmen.

Das dürfte allerdings für die späteren Spannungen zwischen den beiden Männern nicht ins Gewicht gefallen sein – behaupte ich nach der Lektüre von Bernadotte-Biographien, im Gegensatz zu Annemarie Selinko in ihrem „Désirée"-Roman (siehe nächstes Kapitel). Es gab andere Gründe für das gespannte Verhältnis, nämlich dass Bernadotte noch vor Napoleons Staatsstreich, in seiner Zeit als Kriegsminister, die Macht im Staate hätte an sich reißen können, wenn er der Typ dafür gewesen wäre – er war es nicht, Napoleon hatte da ein ganz anderes Naturell –, und dass sich Bernadotte daher später immer im Schatten dieses Machtmenschen Napoleon sah, und dass andererseits Napoleon Bernadotte misstraute, und dass er ihn für einen nur mäßigen Militär hielt – er sagte einmal, Bernadotte sei ein guter General, würde aber nie ein guter Feldherr sein –, das alles machte das Verhältnis zwischen den beiden Männern dauerhaft schwierig.

Regelrechte Feinde waren sie allerdings nie. Das lag vor allem daran, dass Bernadotte sich immer zurückgenommen hat. In den Auseinandersetzungen mit Napoleon ging er nie bis zum Äußersten. Er war seinem Wesen nach mehr Diplomat als Militär, eher nachgiebig, in seinen Ansichten sogar schwankend.

Wenn man die Darstellungen über Bernadottes Weg zur schwedischen Krone liest, dann stößt man auf Wörter wie „seltsam", „merkwürdig", „überraschend", „unglaublich", „abenteuerlich", „Husarenstreich“. Was geschah?

Bernadotte erhielt im Sommer 1810 in seiner Villa in Paris einen eigenartigen Besuch. Es handelte sich um einen jungen, gerade 29-jährigen schwedischen Leutnant, Baron Carl Otto Mörner. Der stellte sich als Angehöriger einer größeren frankophilen Gruppe von schwedischen Adligen vor und bot Bernadotte rundweg die schwedische Krone als Nachfolger des zwar erst 61-jährigen, aber früh alternden Königs Carl an. Unschwer sich vorzustellen, wie überrascht Bernadotte war. Nichts hatte er zuvor in dieser Richtung auch nur geahnt – konnte er auch nicht, denn der junge Leutnant agierte auf eigene Faust.

Wie kam der dazu?

Schweden war innenpolitisch zerfallen: Adelssippen befehdeten sich aufs Blut, der Adel, das Königshaus und das Bürgertum waren hoffnungslos miteinander zerstritten. Auch wirtschaftlich lag das Land am Boden. Und außenpolitisch stand Schweden auf verlorenem Posten: Als Gegner Napoleons verlor das Land Finnland an Russland, zwischenzeitlich auch Pommern an Frankreich. Und Norwegen, auf das Schweden immer Anspruch erhoben hatte, gehörte dem mit Napoleon verbündeten Dänemark.

1792 fiel König Gustaf III. einem Attentat zum Opfer, er wurde auf einem Maskenball ermordet. (In Verdis „Un ballo in maschera" ist das zu einem Eifersuchtsdrama umgedichtet worden, was gar nichts mit den wirklichen Ereignissen zu tun hat. In einer späteren Fassung ist der Handlungsort auch in die USA verlegt worden.) Da auch Gustaf IV. Adolf, Sohn des Ermordeten, die gegen Frankreich gerichtete Politik seines Vaters fortsetzte, wurde er schließlich abgesetzt und verhaftet. Das war im März 1809.

Eine echte Revolution war das nicht, auch wenn der Vorfall als „Revolution von 1809“ in die schwedischen Geschichtsbücher eingegangen ist. Die neue Verfassung war auch keineswegs republikanisch – allerdings hatte sie immerhin, mit Abwandlungen, Bestand bis 1975. Man wählte sich einen neuen König, Carl XIII., den Bruder des siebzehn Jahre zuvor getöteten Monarchen. Den mochte man, er war freundlich, volkstümlich, konziliant. Und der wechselte endlich die Seiten: Er schloss 1810 Frieden mit Napoleon, was viele in Schweden sich schon lange gewünscht hatten.

Napoleon befand sich auf dem Höhepunkt seiner Macht. Die Schweden sahen in ihm den unüberwindlichen Herrscher Europas, der er zu der Zeit auch war. Sie sahen in ihm den Hoffnungsträger für wirtschaftlichen Aufschwung sowie für ein Wiederaufleben alter Großmachtherrlichkeiten. Es hatte schon etwas eigenartig Irrationales an sich, wie die Schweden nach Frankreich stierten und in Napoleon geradezu den großen Heilsbringer sahen, wenn man sich mit ihm nur gut stellte.

Der neue König Carl XIII. tat genau dies. Aber er hatte zwei Mankos: Er war trotz seiner erst 61 Jahre senil, und, noch schlimmer, er war kinderlos. Also sahen sich König, Staatsrat und Reichstag nach einem potenziellen Nachfolger um, der gleich vom König adoptiert und zum Kronprinzen ernannt werden sollte, um im Falle des Todes des Königs keine Machtkämpfe aufkommen zu lassen. Man suchte im weit verzweigten Königshaus Wasa – groß war die Auswahl an ranghohen und halbwegs konsensfähigen Kandidaten nicht – und fand Prinz Friedrich von Holstein-Sonderburg-Augustenburg, einen entfernten Wasa-Verwandten aus Deutschland – leider einen Mann, der allgemein als Dummkopf angesehen und daher regelrecht verachtet wurde. Aber König Carl wollte ihn, alle anderen Kandidaten kamen aus den verschiedensten politischen Gründen noch weniger in Frage.

Was der König jetzt tat, macht deutlich, wieso die Nachfolgefrage überhaupt Richtung Frankreich ging. Er schrieb dem französischen Kaiser im Juni 1810 einen Brief, in dem er ihm den Kronprinz-Kandidaten vorstellte und um seine Meinung bat. Er hoffte, sich die Franzosen auf diese Weise zu Freunden und Helfern zu machen.

Während jedoch der schwedische Botschafter im Auftrag seines Königs in Paris mit Napoleon über die Kronprinzenfrage redete – Napoleon schwebte der dänische König vor, sein Verbündeter, weil er gern Skandinavien unter ihm vereinigt gesehen hätte im Kampf gegen England –, während also offiziell die Kronprinzenfrage erörtert wurde, ging der Leutnant Baron Mörner, ohne den Botschafter davon in Kenntnis zu setzen, zu Bernadotte.

Mörner nämlich, ein junger Heißsporn, war völlig anderer Meinung als der König, und damit war er in Schweden keineswegs allein. Es gab eine Gruppe von jungen frankophilen Offizieren, die sich an der Spitze ihres Landes nichts sehnlicher wünschten als einen starken Mann, einen erfolgreichen Militär. Und das treffe auf den Kandidaten des Königs, Friedrich von Holstein, ganz und gar nicht zu, meinten sie, so einen Kandidaten gebe es weit und breit überhaupt nicht unter den Wasas. So einen gebe es nur in Frankreich.

Und genau so sah es auch der Baron Mörner. Auch er war der Meinung, Friedrich von Holstein sei komplett unfähig. Er sei nicht in der Lage, das Land wirtschaftlich aufzurichten, und schon gar nicht sei er in der Lage, Finnland zurückzuerobern oder Norwegen den Dänen abzunehmen. Helfen könne jetzt, so Baron Mörner, kein Wasa-Verwandter mehr, sondern nur ein Mann Napoleons, einer aus dessen Familie, oder ein französischer Marschall, der bewiesen habe, dass er Schlachten schlagen könne.

Einige der Marschälle ging Mörner durch, viele waren es nicht, es gab ja nur achtzehn. Aber alle waren sie mit Ämtern und Militäraktionen beschäftigt, die meisten nicht einmal in Frankreich anwesend. Außer einem: Bernadotte. Das war ein Mann des Sieges, sowieso, das waren die anderen ja auch. Aber Bernadotte hatte noch andere Vorzüge: Er galt als freundlich, umgänglich und charmant – und Schweden-freundlich: Als nach der Eroberung Lübecks im November 1806 – nach der Niederwerfung Preußens bei Jena und Auerstedt – schwedische Verbände in Bernadottes Hände geraten waren, hatte er sie, obwohl sie Feinde Frankreichs waren, ehrenvoll in die Heimat entlassen. Das hatte man ihm in Schweden nicht vergessen. (Dazu mehr im Kapitel „Bernadotte in Lübeck 1806“.)

Auch hieß es, dass Bernadotte in seinen Zeiten als Gouverneur von eroberten Gebieten entgegenkommend, ja volkstümlich gewesen sei, jemand, der einen Sinn für die Bedürfnisse und Nöte der Menschen habe. Maßnahmen zur Minderung von Abgabenlasten und zur Ankurbelung der Wirtschaft in den eroberten Gebieten seien auf ihn zurückgegangen.

Und damit fiel Mörners Wahl auf Bernadotte. Mörners Wahl, so und nicht anders, Bernadotte war Mörners Idee, ein „Husarenstreich“.

Jetzt kann man sagen: Na und? Wenn dieser Springinsfeld der Meinung war, Bernadotte solle schwedischer Kronprinz werden, gut. Aber was hatte König Carl damit zu tun? Was hatten der schwedische Staatsrat und der Reichstag mit dieser Phantasterei zu tun? Was Napoleon? Und was Bernadotte selber?

Das Seltsame an der Geschichte: Mörner setzte sich durch, nicht sofort, aber dann doch überraschend schnell.

So verblüfft Bernadotte von dem Angebot war, reagierte er zwar zunächst zurückhaltend, dann aber, als er sah, dass Mörner nicht allein war mit seinem Anliegen, hellauf begeistert. König von Schweden? Nie im Traum hatte sich dieser Bürgersohn aus der Gascogne das vorstellen können. Diese Aussicht tat seiner Eitelkeit gut. Das war die Krönung seines Lebenslaufes. Alte republikanische Ideale? Weg damit!

Als Mörner zurück nach Stockholm kam, traf er zwar in Regierungskreisen

Aber das Befinden im Volk war ein anderes: Als die Kandidatur Bernadottes bekannt wurde, entstand so etwas wie eine „Massenpsychose", so lese ich. Bernadotte wurde wie eine Art ferner „Märchenprinz" angesehen, weil man von ihm eigentlich gar keine rechte Vorstellung hatte. Man erinnerte sich nur seiner Siege, an denen er, unter Napoleon, beteiligt gewesen war, und ebenso unvergessen war die wohlwollende Behandlung der schwedischen Kriegsgefangenen in Lübeck vier Jahre zuvor. Man wusste, dass er als volksnah galt. Das sprach nicht nur bei den jungen Offizieren für ihn, sondern auch bei den Handwerkern in den Werkstätten Stockholms wie bei den Bauern in den Dörfern. Und die waren alle auch vertreten im ständisch zusammengesetzten Reichstag.

Bernadotte schlug inzwischen selber durch französische Mittelsmänner in Schweden ganz gehörig die Propagandatrommel. Und er versprach, die beiden Haupthindernisse seiner Kandidatur aus dem Weg zu räumen: Er wollte zum lutherischen Glauben übertreten, und er wollte so schnell wie möglich Schwedisch lernen. (Ersteres geschah, das andere ist ihm nie gelungen, sein Schwedisch blieb bis an sein Lebensende rudimentär, was zumindest am Hof keine Schwierigkeiten machte, weil die Sprache des Hochadels das als vornehm angesehene Französisch war.) Das Endergebnis jedenfalls war, dass sich alle Stände – Adel, Armee, Bürger, Bauern – im Reichstag für den französischen Marschall aussprachen und der König, widerwillig seufzend, sich fügte und der Kandidatur zustimmte. Ohnmächtig und zähneknirschend musste die Familie Wasa zuschauen. Sie spürte, dass ihre Zeit abgelaufen war.

Napoleon hatte die Sache anfangs als lächerlich abgetan. Aber am Ende gab auch er seine Zustimmung. Einerseits war ihm das kleine Schweden zu unbedeutend und zu schwach, so dass ihm die Nachfolgefrage in diesem Land nicht wichtig erschien. Andererseits hoffte er, Bernadotte als schwedischen Kronprinzen, und später als König, so unter Druck setzen zu können, dass der zumindest nicht gegen Frankreich zu Felde ziehen würde. Das hat er übrigens auf die Dauer nicht geschafft: Bernadotte wechselte nicht nur die Nationen, er wechselte auch die Seiten. Er kehrte Frankreich den Rücken und schloss sich, gerade rechtzeitig, der anti-napoleonischen Koalition an. Und die verlangte natürlich von Schweden, im Oktober 1813 ebenfalls Kontingente nach Leipzig zu schicken. Bernadotte zögerte lange, musste dann aber wohl oder übel gegen sein altes Heimatland zu Felde ziehen, was ihm nicht leicht fiel. Immerhin, an der Schlacht bei Waterloo konnte er sich später weigern teilzunehmen.

So ist ein französischer Marschall schwedischer Kronprinz geworden, und 1818, beim Tode Carls XIII., wurde er dann König und nannte sich Carl XIV. Johann. Er war beliebt, nicht erfolglos: Norwegen beispielsweise kam unter seiner Herrschaft in Personalunion zu Schweden, eminent wichtig für sein Überleben als König. Und sein 1799 noch in Frankreich geborener Sohn Oscar übernahm 1844 den Thron vom Vater. Die Installation des Hauses Bernadotte in Schweden war vollbracht.

Und die kleine, charmante, aber offenbar, wie man gelegentlich liest, etwas unbedarfte Seidenhändlerstochter aus Marseille, ehemalige Verlobte Napoleons, Désirée Bernadotte geb. Clary, wurde zur schwedischen Königin Desideria. So stolz diese Südfranzösin auf ihren sozialen Aufstieg zusammen mit dem Gatten war, so schwer hatte sie mit der Tatsache zu kämpfen, dass sie jetzt eigentlich ihr geliebtes Paris aufzugeben hatte, das Paris, in dem sie ihre Villa hatte und ihren großen, hoch geachteten Freundeskreis – ihre Schwester Julie war bis 1815 Königin von Spanien, als Ehefrau von Napoleons Bruder Joseph –, das Paris der vielen Vergnügungen und des warmen Klimas, das Paris, in dem sie sich wohl und zu Hause fühlte. Das alles für das kalte, dunkle, unbekannte Stockholm aufzugeben, das konnte sie nicht – und sie tat es auch nicht: Sie hielt Schweden nicht aus und fuhr nach kurzer Zeit zurück nach Paris, was die Schweden ihr übelnahmen, natürlich. Erst im Juni 1823 kam sie dann für immer in ihre neue Heimat ... über Lübeck, wo – möglicherweise – ihre königlichen Lippen den Goldrand unseres Champagnerkelchs berührten.




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Die meisten Informationen zu Bernadotte habe ich aus Alan Palmers Buch „Bernadotte – Napoleon's Marshal, Sweden's King“, eine bis in kleinste Einzelheiten gehende Biographie. Eine deutsche Übersetzung gibt es, glaube ich, nicht.















Das Désirée-Buch

Désirée" – 1951 veröffentlichter Roman von der österreichischen Schriftstellerin Annemarie Selinko, die durch Heirat Dänin wurde – ist ein Weltbestseller, leicht lesbar. Es sind die fiktiven Tagebuchaufzeichnungen der Frau, die in jungen Jahren mit Napoleon verlobt war, dann aber Bernadotte heiratete, der später einer von Napoleons achtzehn Marschällen wurde, und die schließlich zusammen mit diesem Bernadotte den schwedischen Thron bestieg. Ich habe es gern gelesen, es ist unterhaltsam. Die Handlung zieht sich durch die historischen Ereignisse der Zeit, von der Revolution über Napoleons Putsch, die Schlachten, das Kaisertum bis hin zur schwedischen Krone für das Ehepaar Bernadotte, alles aus der Sicht der naiven, etwas unbedarften Désirée Clary.

Viele Details sind natürlich erfunden – das große Problem von historischen Romanen. Nicht jede Begegnung, nicht jedes Gespräch hat es so gegeben wie im Roman erzählt. Aber welche Begegnungen, welche Gespräche? Das wüsste der historisch Interessierte gern. Man muss raten. Zwei Beispiele:

Die Szene, in der Désirée und Bernadotte sich zum ersten Mal begegnen, dürfte ausgedacht sein: In einem Pariser Salon hält sich Napoleon auf zusammen mit der von ihm angehimmelten, etwas zwielichtigen Joséphine de Beauharnais. Die blutjunge Mlle. Désirée Clary, die heimlich aus ihrem Elternhaus in Marseille weggelaufen ist, um sich in Paris bei Napoleon über die briefliche Auflösung der Verlobung mit ihr zu beschweren, darf jedoch das Haus dieses Salons nur in Herrenbegleitung betreten und wird von einem ihr völlig unbekannten, zufällig auftauchenden Offizier mit hineingenommen, Bernadotte. Nach dem Auftritt im Salon, bei dem Désirée Napoleon eine Szene macht, fließen Tränen. Tröstung durch den fremden Offizier. Das ist selbstverständlich hochromantisch. Herzergreifend dann die Überraschung, als sie sich später zufällig wiedertreffen. Nach den historischen Berichten jedoch, die ich kenne, haben die beiden sich ganz simpel im Hause des mit Bernadotte befreundeten Joseph Bonaparte kennengelernt, des ältesten Bruders Napoleons, der mit Désirées Schwester verheiratet war.

Auch glaube ich nicht, dass Madame Bernadotte am Vorabend der Hinrichtung des Herzogs von Enghien Napoleon aufgesucht und diesen um Begnadigung für den Herzog gebeten hat, jenes jungen adligen Gegners Napoleons, der aus Deutschland nach Frankreich gekidnappt worden war und dann zur Abschreckung gegen anti-napoleonische Umtriebe nach einem kurzen Schauprozess quasi standrechtlich erschossen wurde und damit einen Entrüstungssturm in ganz Europa ausgelöst hat. Die Buchszene ist aber wichtig, damit der Leser Napoleons Ansicht zu diesem Ereignis erfährt, da Désirée ja die Ich-Erzählerin ist. Außerdem sollen alte Gefühle aus der Verlobungszeit noch einmal aufkochen, was ich allerdings auch für erfunden halte. Ich meine, dass solche Liebes- und Eifersuchtsgefühle, wie sie im Roman immer mal wieder beschrieben werden, in Wirklichkeit für die Spannungen zwischen Napoleon und Bernadotte keine Rolle gespielt haben. Da gab es, wie im vorigen Kapitel schon erwähnt, ganz andere Gründe, nämlich politische und militärische Rivalitäten.

Zudem finde ich, dass Bernadotte ein bisschen zu gut wegkommt in dem Buch. Er muss ein großer Militär gewesen sein, aber er hat Fehler begangen. Er war zwar anfangs ein aufrechter Republikaner, wie Napoleon ursprünglich ja auch, aber später erwies er sich als in keiner Weise prinzipientreuer als Napoleon, als Marschall schon nicht, und schon gar nicht mehr, als er schwedischer Kronprinz wurde. Und schließlich: Seine Eitelkeit kommt in dem Buch gar nicht vor. In den historischen Darstellungen liest man immer wieder, wie selbstgefällig und eitel er gewesen sei, was selbst Wohlmeinenden unangenehm aufgestoßen sei. Aber gut: Die liebende Ehefrau sieht das in ihrem Tagebuch eben nicht.

Enttäuschend kurz und obenhin wird in dem Buch die Art und Weise geschildert, wie Bernadotte überhaupt dazu kommt, Kandidat für die schwedische Thronfolge zu werden. Aber insgesamt muss ich schon sagen, wer sich mit Bernadotte beschäftigt, sollte diesen kurzweiligen Gesellschaftsroman nicht außen vor lassen.

Wer allerdings die Begegnung der schwedischen Königin Desideria und ihrer Schwiegertochter, der Kronprinzessin Josefina, Anfang Juni 1823 mit dem schwedischen Generalkonsul Johann Anton Grimm in Lübeck erzählt bekommen möchte, der kommt zu kurz: „Wir (Joséphine und Désirée) standen nebeneinander an der Reling eines imposanten Kriegsschiffes, das uns im Hafen von Lübeck erwartet hat und nach Stockholm bringen sollte", steht da auf Seite 796 am Anfang des Tagebuch-Eintrags „Im königlichen Schloss in Stockholm. Frühling 1823". Das ist alles. Kein Abholen in Oldesloe durch den Konsul Grimm, kein Empfang, kein Nippen am Sektkelch, nichts.

Zugegeben: Warum auch?




Erinnerung an Johann Anton Grimm

Das am 12ten d.M. im Zwey und Siebzigsten Lebensjahre erfolgte Ableben ihres geliebten Vaters, des Königl. Schwedischen General-Consuls und Ritters, Herrn Johann Anton Grimm, wird theilnehmenden Verwandten und Freunden angezeigt von den Kindern des Verstorbenen.
Lübeck, den 15ten April 1828

Das las man in der „Außerordentliche(n) Beylage zu No. 74 des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten Am Mittwochen 7 May 1828". Diese Zeitung – ihr vollständiger Name: "Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten", in Hamburg die erste regelmäßig erscheinende Tageszeitung – diese Zeitung war in der Zeit um 1828 mit 50.000 Exemplaren die auflagenstärkste Zeitung Deutschlands, sogar Europas, und das, als es in England „The Times" schon gab. Das bedeutet, dass die „Kinder des Verstorbenen" (von Riga aus?) die Anzeige bewusst nicht (nur?) in einem kleinen Lübecker Blatt lancierten, sondern in der norddeutschen Zeitung schlechthin. Sagt das etwas aus über die Bedeutung des „General-Consuls und Ritters"? Dagegen wirkt die Anzeige zwar ziemlich bescheiden, aber offenbar in dieser Form damals üblich, wenn man sie mit benachbarten Anzeigen vergleicht.

Was weiß die Familie über Johann Anton? Und woher hat sie das Wissen?

Es gibt kurze familienbiographische Aufzeichnungen – genannt „Lebensskizzen" – meines Urgroßvaters Wilhelm Grimm (1845 – 1926), eines Enkels von Johann Anton. Diese „Lebensskizzen" beginnen eben mit meinem Lübecker Kaufherrn-Ahn. Und ich meine, dass das Familienwissen vor allem daher stammt.

Johann Anton Grimm wurde am 22. Juni 1756 in Wismar als Sohn eines Pastors geboren. Das Geburtsjahr war es, das mich dazu brachte, ihm eine gepuderte Zopf-Perücke mit Lockenröllchen an den Seiten aufzusetzen, die in seinen Jugendjahren noch üblich war. 1756 ist nämlich auch Mozarts Geburtsjahr, und selbst den kleinen Wolferl kennt man auf Konzertbildern nur mit Perücke. Im neuen Jahrhundert kamen sie aus der Mode, aber ich lese, dass ältere Herren gern an dieser Tradition bei besonderen Anlässen festhielten, ebenso am Tragen des Dreispitzes. Warum nicht auch der ältere Konsul und Ritter Grimm?

Pastor, wie sein Vater und zwei seiner Brüder, wollte Johann Anton nicht werden. Er wollte Geld verdienen, fühlte wohl, dass ihm das Kaufmännische lag – immerhin war sein mütterlicher Großvater Kaufmann. Den genauen kaufmännischen Werdegang kennen wir nicht. Jedenfalls ging er nach Riga, dieser damals zum Russischen Reich gehörenden, unter dem beherrschenden Einfluss einer deutschen Kaufmanns-Oberschicht stehenden baltischen Hafen- und einstmaligen Hansestadt, vermutlich in den 1770erjahren, vielleicht 1772 im Alter von sechzehn. So früh begann durchaus die Lehrlingszeit eines werdenden Kaufmanns; die Lehrlinge im Roman „Die Großvaterstadt“ haben dies Alter; und auch Johann Antons ältester Sohn Bernhard war später genau sechzehn, als er 1804 als Kaufmannslehrling von Lübeck nach Riga ging. Eduard Wilhelm Tielemann, der spätere Rigaer Bürgermeister, mein Ururgroßvater, hat sogar schon mit fünfzehn Jahren seine Lehre in Riga begonnen.

In Riga lernte der junge Johann Anton – in der üblichen fünfjährigen Lehrlingszeit? Später als Kommis, als Handelsgeselle? – den angesehenen Kaufmann Bernhard Tilemann Huickelhoven (1723 - 1810) kennen, seit 1785 von Huickelhoven („römischer Reichsadel"), dessen dann zweiundzwanzigjährige Tochter Katharina er später, 1787, als Einunddreißigjähriger heiratete. Offensichtlich gleich nach der Hochzeit zog das Ehepaar nach Lübeck, das erste Kind, Bernhard Christian, wurde 1788 bereits in Lübeck geboren. Warum Johann Anton nach Lübeck umzog, ist nicht bekannt.

Über die Lebensdaten der Kinder gibt es im einzelnen unterschiedliche Angaben, vor allem, was die Tage anbetrifft, was auch, aber nicht nur, mit den unterschiedlichen Kalendern zu tun hat, dem gregorianischen in Deutschland und dem alten julianischen in Russland. Hier die Geburts- und Sterbejahre aus Wilhelms Lebensskizzen, ergänzt durch Angaben an anderen Stellen (u.a. im Stadtarchiv Lübeck oder im Baltischen Biographischen Wörterbuch), nicht immer übereinstimmend; Rufnamen unterstrichen:

1. Bernhard Christian, geb. 1788 in Lübeck, gest. 1855 in Riga, erfolgreicher Kaufmann.

2. Ursula Anna Katharina, geb. 1790, Ort unbekannt, gest. 1816 in Ronneburg bei Riga (26-jährig).

3. Johann Anton Joachim, geb. 1792 in Lübeck, gest. 1846 in St. Petersburg, Altphilologe, Professor an einem Pädagogischen Institut.

4. Eduard Wilhelm Tielemann, geb. 1794 in Riga (Warum in Riga und nicht in Lübeck? Hat Johann Anton zwischendurch wieder in Riga gelebt? – Auflösung in den Kapiteln „Archiv 2“ und „Archiv 3“), gest. 1874 in Riga, ebenfalls erfolgreicher Kaufmann, Rigaer Bürgermeister 1852 - 1867, mein Vorfahr. (Balt. Biogr. Wörterbuch: „geb. in Lübeck“, eindeutig falsch, für mich  anfangs verwirrend)

5. Henriette, geb. 1797 in Lübeck, gest. als Kleinkind 1798 in Lübeck.

6. Dorothea („Dorchen"), geb. 1799 in Lübeck, gest. 20. März 1881 in Riga.

7. Katharina, geb. 1802 in Lübeck, gest. 1860 in Riga.

8. Charlotte, geb. Dez. 1804 in Lübeck, gest. 1835 in Lübeck (mit 30 Jahren).

In Lübeck, wo er am 14. Mai 1789 die Bürgerrechte erhielt, wie ich später im Lübecker Archiv entdecken werde (Kapitel „Archiv 3“), hat Johann Anton eine Seifensiederei (nur bis zur Franzosenzeit 1806 – 1813) und eine Spedition betrieben. Spedition kann alles mögliche gewesen sein: Fuhrunternehmen mit Pferdeplanwagen zu Land, oder Binnenschifffahrt – vor allem über Stecknitz, Delvenau und Elbe nach Hamburg – oder aber auch Ostseehandel. Wilhelms „Lebensskizzen" deuten einen Hochseehandel an, und sie sprechen von einer Mitgliedschaft in dem Schonenfahrer-Kollegium.

Exkurs: Die zwölf Lübecker Kollegien: Die Lübecker Bürger eines jeden Standes und einer jeden Zunft gehörten sogenannten Kollegien an, auch Kompanien genannt, früher natürlich mit c geschrieben. Das war Pflicht, jeder musste Mitglied in einem Kollegium sein, wohlgemerkt, jeder der knapp zweitausend männlichen Bürger, nicht die etwa achtzig Prozent Einwohner ohne Bürgerrechte, die waren ausgeschlossen – ebenso die Frauen. Diese Kollegien waren so etwas wie Gilden, oder eher noch Standesvertretungen für die Bürgerschaft, das Lübecker Stadtparlament. Sie waren ziemlich streng hierarchisch geordnet: Es gab die hoch geachteten führenden Kollegien der reichen Kaufleute am oberen Ende der Hierarchie, am unteren Ende die Kollegien der Handwerker. Eine gute Erläuterung finde ich auf den Seiten 205 bis 207 in einem Stadtführer von 1814: (Zu diesem Stadtführer mehr im Kapitel „Lübeck 1814“.)

"Die Rechte des Raths (die Stadtregierung bestehend aus sechzehn Ratsherren ohne die vier Bürgermeister. Alle zwanzig zusammen bildeten den Senat. So die Terminologie bis 1848. Grimm war hier offenbar nie Mitglied.) und ihr Verhältniss zur Bürgerschaft sind in einem Bürger-Recess (Vergleich nach einer Auseinandersetzung) vom Jahr 1669 bestimmt. Soll ein allgemeines Gesetz, eine Auflage, eine Veränderung vollkommen gültig werden: so geschieht es durch Zustimmung der Bürgerschaft. Durch den Schüttingswortführenden („Schütting“ siehe Schonenfahrer, 3. Kollegium) Aeltermann (Ältermänner waren die Sprecher oder Vorsitzenden der Kollegien) wird der Vorschlag den Aeltesten eines jeden bürgerlichen Collegii mitgetheilt, welche ihre Mitglieder zusammen berufen, darüber votiren, und ihre Stimme abgeben, welche dann als Eine gerechnet wird. Sind die mehrsten Vota dafür: so ist die Sache angenommen.

Zu diesem Zwecke ist die Bürgerschaft in 12 Collegien getheilt. Diese sind

1.   die Junkern-Compagnie, oder Zirkelgesellschaft, 1379 gegründet und mehrmals, zuletzt 1778, vom Kaiser bestätigt. Dazu gehören die Patrizier, welche einen goldenen Zirkel als Abzeichen tragen. (Dieses Kollegium hatte seit 1809 keine Mitglieder mehr, existierte also nur noch auf dem Papier.)

      1. Die Kaufleute-Compagnie, 1450 errichtet. Dazu rechnen sich alle, welche zu keinem andern der übrigen kaufmännischen Collegien gehören.
      2. Die Schonenfahrer, oder der Schütting (von ihrem Versammlungshause also genannt), die ehemals auf Schonen (die südlichste Provinz Schwedens) besonders mit Heringen handelten, (daher noch das Wappen über dem Schütting). Ihr wortführender Aeltermann ist zugleich Präses und Wortführer der Bürgerschaft. (1797 - 1801 war das Johann Anton Grimm, laut „Lebensskizzen“)
      3. Die Nowgorodsfahrer, von dem einst blühenden Handel nach der Stadt Nowgorod.
      4. Die Bergefahrer, von dem Comtoir zu Bergen.
      5. Die Rigafahrer.
      6. Die Stockholmfahrer, von diesen Handelsplätzen so genannt.

        Nur diese sieben Collegia waren bis dahin rathswahlfähig.
      7. Die Gewandschneider-Compagnie, oder die Gesellschaft der Tuchhändler.
      8. Die Kramer-Compagnie, wozu alle gehören, welche im Kleinen und aus einem offnen Laden verkaufen, z.E. Seidenhändler, Eisenkrämer, Gewürzkrämer u.s.w.
      9. Die Brauerzunft.
      10. Die Schiffer, oder alle, welche als Capitain eines Schiffes fahren.
      11. Die vier grossen Aemter, der Schmiede, Schneider, Becker, Schuster, welche 72 kleine Aemter, nach einer oft unbegreiflichen Vertheilung, umfassen. Sie geben, seit uralten Zeiten, bei Berathungen über bürgerliche Angelegenheiten gemeinschaftlich ihre Stimme ab."

Das waren also Standesvertretungen in der Bürgerschaft, jedes einzelne Kollegium hatte eine Stimme. Das bedeutete, dass beispielsweise die über eintausend Handwerksmeister, die im zwölften Kollegium organisiert waren, über eine Stimme verfügten, während die kaum einhundert Großkaufleute, die den Kollegien Nr. 1 – 7 zugehörten, eben sieben Stimmen hatten. Noch krasser: Die zuletzt – bis 1809 – nur fünf Angehörigen der Junkern-Compagnie hatten ebenfalls eine ganze Stimme. Un homme une voix war für die Lübecker noch ein Fremdwort. Der Gleichheitsgedanke wurde zwar von Napoleon eingeführt, aber nach seinem Verschwinden gleich wieder abgeschafft.

Weitere Auskünfte über die Lübecker Kollegien lese ich in dem Roman „Die Großvaterstadt" von Ludwig Ewers auf der Seite 32 in touristenführerischer Weise, wie das typisch ist für dieses Buch: Da belehrt ein junger Kommis (Französisch auszusprechen mit Betonung auf der zweiten Silbe und ohne s am Ende: Handelsgehilfe, heute würden wir sagen Geselle) seinen Freund, der die fünfjährige Kaufmannslehre noch nicht abgeschlossen hat, dass jeder selbstständige lübische Kaufmann und Handwerker einem der zwölf Kollegien für die Bürgerschaft angehören müsse. Und weiter:

"Auch wir werden später einmal gezwungen werden, in ein kommerzierendes Kollegium einzutreten. Jochen Bade muß ebenso zu einem Kollegium gehören! Sonst nehmen ihn die Schonenfahrer in empfindliche Geldstrafe. Wir können zunächst wählen zwischen Kaufleute-Kompanie, der vornehmsten, Schonenfahrer- und Bergenfahrer-Kollegium, aus denen man dann in ein andres, Riga-, Nowgorod-, Stockholmfahrer, übertreten kann. Das Schonenfahrer-Kollegium ist das mächtigste, hat allein das Recht, junge Kaufleute zu berufen; ihm gehört auch der Schütting, Ecke Mengstraße und Fünfhausen. Und dem Schonenfahrer-Kollegium sind die Stockholmfahrer angegliedert, so daß sie auch im Schütting tagen."

Und auf den Seiten 33 und 34: Der Lehrling macht vor dem Schütting halt.

"Drunten hinter dem gewölbten Portal auf der weiten Diele mit ihrem Fliesenboden regte sich vor den Schaltern das Leben der Lübischen Post. Aber in den oberen Stockwerken herrschte das mächtigste Kollegium der lübischen Kaufmannschaft, und dahin gelangte nur, wer dazu gehörte. Er blickte an der Front hinauf. Droben im höchsten Giebelfeld blinkten in einem runden goldumrandeten Medaillon untereinander drei vergoldete Fische. Das also war das Zeichen der Schonenfahrer."

Die Schonenfahrer-Kompanie war die größte und älteste Lübecker Großhändler-Vereinigung. Sie wurde 1378 gegründet. Die anderen sind später aus ihr hervorgegangen und haben sich von ihr abgespalten. Schonenfahrer haben sie sich deshalb genannt, weil sie – im Mittelalter – ihre Schiffe nach Schonen, vor die Südküste Schwedens, geschickt haben, um in den damals noch unendlichen Heringsschwärmen zu fischen. Die Schwärme waren so dicht, so wird mir erzählt, dass man ins fischezappelnde Wasser nicht hineingreifen konnte, ohne eine Handvoll Heringe herauszuholen. Diese Fracht wurde in das Salz eingelegt, das die Stecknitzfahrer auf ihren Prahmen aus Lüneburg nach Lübeck brachten (gesegelt, getreidelt, gestakt) und das die Händler in den sechs Salzspeichern am Holstentor lagerten. So wurde der Fisch haltbar gemacht und konnte in alle Welt verkauft werden. Dieser Heringshandel war es, der die Stadt um 1200 reich machte, begünstigt durch die geographische Lage in der südwestlichsten Ostseebucht als Knotenpunkt zwischen mitteleuropäischem Festland und dem schwedisch-baltisch-russischen Meer.

Wenn Johann Anton, wie sein Enkel Wilhelm in den „Lebensskizzen" andeutet, zu den Schonenfahrern gehörte – die schon lange nicht mehr nur Heringshandel trieben, das Meer vor Schonen wahrscheinlich ohnehin längst überfischt – und von 1797 bis 1801 sogar deren Ältermann war, dann war er vier Jahre lang Vorsitzender der Lübecker Bürgerschaft, des Stadtparlaments. Das wäre er immerhin schon acht Jahre nach Erlangung der Bürgerrechte geworden. Und wenn er Mitglied der Schonenfahrer-Kompanie war, dann kann er nur Hochseehandel betrieben haben. Hat er eigene Schiffe gehabt? Oder hat er Schiffe gechartert? Und hat er viel Geld gemacht?

Bürgermeister war er nicht, anders als ich mal geglaubt habe, wohl in Verwechslung mit seinem Sohn in Riga, und Ratsherr war er auch nicht: Er taucht in keiner Liste der Lübecker Bürgermeister und Ratsherren auf.

Für das Jahr 1803 ist aktenkundig, dass Johann Anton einen Antrag gestellt hat, zum schwedischen Handelsagenten ernannt zu werden, mit Erfolg: Per Dekret des Königs Gustaf IV. Adolf erhielt er die Ernennung zum königlich schwedischen „Commerzagenten". Man kann davon ausgehen, dass von diesem Jahr an alle politischen Aktionen zwischen Lübeck und Schweden über diesen Agenten gingen. Johann Anton war somit ganz offensichtlich nicht nur schwedischer Handelsvertreter, sondern allgemein politischer Repräsentant dieses skandinavischen Königreichs, was gerade in den napoleonischen Kriegen eine gewisse Rolle spielen sollte.

1810, als der neue König Carl XIII. den Thron in Stockholm bestiegen hatte und eine neue, pro-französische Außenpolitik einleitete, wurde Johann Antons Funktion als schwedischer Handelsagent bestätigt, auch das ist in Lübeck aktenkundig. 1815, nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft über Europa – Schweden hatte unter Bernadotte, jetzt Kronprinz in Stockholm, gerade rechtzeitig erneut die Seiten gewechselt – wurde der Lübecker Handelsagent zum Konsul befördert, 1818 bestätigt von dem nun neuen König Carl XIV. Johann, nämlich Bernadotte. Und der „erhob" meinen Ahn – unsere Familienbrust schwillt noch heute vor Stolz – 1820 zum schwedisch-norwegischen Generalkonsul. So war es keineswegs irgendein Nobody, der 1823 der Königin den Champagnerkelch überreichte.

Wie die ganze Stadt so hatte auch Johann Anton unter der französischen Herrschaft zu leiden. Viele Betriebe mussten eingestellt werden, weil die Lübecker Wirtschaft bei den hohen Zwangsabgaben und anderen Verpflichtungen – vor allem zu nennen die Kontinentalsperre gegen England – zusammenbrach. Aus irgendeinem uns unbekannten Grund bekam es der schwedische Agent Grimm aber auch persönlich mit der französischen Verwaltung zu tun. Die vage Vermutung lautet, dass das im Zusammenhang mit Schanzenarbeiten geschah: Die Franzosen, die sich nach der Katastrophe ihres Überfalls auf Russland kurzzeitig aus Lübeck zurückgezogen hatten, dann aber noch einmal wiedergekehrt waren, wollten die Stadt nicht noch einmal kampflos aufgeben und verpflichteten die Lübecker Bevölkerung, die Befestigungen auszubauen. Hat sich Johann Anton geweigert, sich persönlich oder durch Zahlung an diesen Zwangsarbeiten zu beteiligen? Alles, was wir in diesem Zusammenhang erfahren, ist diese Textstelle aus Wilhelms „Lebensskizzen":

"Am 24. Juni 1813 fand in Grimms Wohnung eine Haussuchung statt, und alle Papiere, die in Beziehung zu seinem Amte eines schwedischen Kommerzagenten standen – in der betreffenden Akte wird er fälschlich als „Konsul" bezeichnet –, wurden beschlagnahmt. Sonst aber wurde nichts anderes Verbotenes gefunden. Weiter ist dann damals über ihn Hausarrest verfügt und ein Polizeibeamter mit seiner Bewachung beauftragt worden, bis am 15. Juli desselben Jahres zwei seiner Nachbarn (Georg August Friedrich Wendt und Johann Christoph Grube - letzterer wohnhaft in Johannisstraße 15 laut Adressenverzeichnis von 1811, 1815 in Nr. 16; ersteren habe ich nicht gefunden.) sich unter Kautionsstellung dafür verbürgten, dass er „sich nicht von hier entfernt", sowie auch „für sein Erscheinen zu allen Zeiten und an allen Orten, wie man von ihm verlangt". Ernstere Folgen scheint diese Affaire – wohl mit infolge des Abzugs der Franzosen aus Lübeck – nicht gehabt zu haben."

* * * * * * *

Irgendwann vor der Ernennung zum Konsul 1815 wurde Johann Anton der schwedische Wasa-Orden verliehen, eine staatliche Auszeichnung. Er wurde damit zum Ritter des Wasa-Ordens, so etwas wie das Bundesverdienstkreuz des königlichen Schweden. Daher also der „Ritter" in der Todesanzeige.

Exkurs: Der Wasa-Orden. Den Königlichen Wasa-Orden – „Kungliga Vasaorden“ – stiftete König Gustaf III. an seinem Krönungstag. Dieser Orden sah, jedenfalls bis 1866, ganz schlicht aus: ein ovales goldenes Medaillon umrandet von einem breiten dunkelroten Reifen, auf dem die goldene Inschrift stand:

GUSTAF DEN TREDIE INSTIKTARE MDCCLXXII

Das heißt: Gustaf der Dritte Stifter 1772. In dem offenen Medaillon eine Garbe aus Gold. Als Johann Anton den Orden erhielt, gab es vier Stufen: Commandeur mit dem Großkreuz, Commandeur 1. Klasse, Commandeur 2. Klasse, Ritter. Ritter war die unterste Stufe.

Ich habe ein Buch gefunden mit diesem Titel:

Geschichte und Verfassung aller geistlichen und weltlichen,
erloschenen und blühenden Ritterorden
.....
von Ferdinand Freiherrn von Biedenfeld.
Zweiter Band. Blühende Orden.
Weimar, 1841.
Verlag, Druck und Lithogrphie von Bernhard Friedrich Voigt.

(Solche Schätze findet man heute durch leichtes Fingerzucken auf der Maustaste. Fabelhaft!) Dieses Buch wurde keine dreißig Jahre nach der Ordensverleihung an Johann Anton geschrieben, ist ihm also näher als jede moderne Erklärung des Wasa-Ordens. Ich zitiere also bewusst daraus. In dem Buch lese ich auf den Seiten 401 und 402 unter der Überschrift „Der Wasa-Orden":

"König Gustav III. stiftete am Tag seiner Krönung, den 26. Mai 1772, den Wasa-Orden, zur Belohnung für diejenigen, welche für den Ackerbau oder Bergwerksbetrieb, für Künste und Wissenschaften, Handel oder durch nützliche Schriften über diese Gegenstände der Nation ausgezeichnete Dienste geleistet, so wie solche Verbesserungen gemacht haben, dass über deren Kenntnisse und Eifer kein Zweifel statt finden kann. Wasa-Orden nannte er ihn, weil das Schwedische Wort Wasa eine Garbe bedeutet und Wasa der Familienname des alten Geschlechts ist, aus welchem König Gustav I. (Gustav Wasa) 1523 den Schwedischen Thron bestieg, und dieses Geschlecht eine Garbe im Wappen hatte. Der Wasa-Orden wird in drei Classen getheilt: Commandeurs mit dem grossen Kreuze, Commandeurs und Ritter. Die Anzahl der Ordensinhaber ist unbestimmt, und kann dieser Orden auch Ausländern verliehen werden.

"Der König ernennt die Mitglieder; ist er bei seiner Thronbesteigung aber nicht schon Mitglied des Ordens, so muss er am Krönungstag den Orden feierlich aus den Händen des Erzbischofs, welcher die Krönung verrichtet, annehmen. Die Commandeurs erster Classe tragen die Decoration von der rechten Schulter nach der linken Hüfte nebst einem Stern auf der linken Brust. Die Commandeurs zweiter Classe tragen dieselbe Decoration und auf gleiche Weise wie die der ersten Classe, jedoch ohne Stern, und die Ritter tragen eine etwas kleinere Decoration um den Hals hängend. Beim Eintritt zahlt ein Commandeur mit dem Grosskreuz und ebenso auch ein Commandeur 18 Rthlr. 36 Schilling Stempel und 2 Rthlr. Canzleigebühren und ein Ritter 6 Rthlr. 12 Schilling Stempel und 2 Rthlr. Canzleigebühren. Bei feierlichen Gelegenheiten tragen die Commandeurs ein Ceremonienkleid von grünem Sammet, nebst einem solchen Mantel, mit weissem Atlas gefüttert. Dabei trägt die erste Classe noch eine goldene Ordenskette, deren Glieder aus Garben, den Schwedischen und Holsteinischen Wappen, und Symbolen des Handels, der Künste und des Ackerbaues bestehen.

"Die Aufnahme-Feierlichkeiten eines Ritters sind wie die beim Schwert-Orden, und der Eid, den die Ritter ablegen müssen, im Wesentlichen derselbe."

Beim Schwert-Orden schwört der Ritter (S. 398),

"die evangelisch-lutherische Lehre mit Gefahr des Lebens oder Eigentums zu vertheidigen, dem König und dem Staat treu zu dienen und den Feinden des Reichs mit Muth entgegen zu gehen."

Und weiter heißt es:

"Wenn ein Ausländer zum Ritter gewählt ist, so werden ihm die Ordensinsignien zu geschickt, und er muss dagegen ein Verzeichnis seiner geleisteten Dienste einsenden, welches im Ordensarchiv niedergelegt wird. Dem Orden sind Einkünfte angewiesen, welche zu Pensionen verwendet werden, die das Capitel bestimmt. Die Pensionsfähigkeit erlangen die Ritter nach der Ordnung, wie sie aufgenommen sind."

Dem nicht-schwedischen Ausländer Johann Anton Grimm ist demnach das ovale Medaillon zugesendet worden. Und zur Kasse wurde er gebeten: Sechs Reichstaler und zwölf Schilling Aufnahmegebühr, und nochmal zwei Reichstaler Kanzleigebühr. Das sind insgesamt acht Taler, mal drei Mark, also 24 Mark und 12 Schilling. Nach einer Umrechnungstabelle, die allerdings mit größter Vorsicht zu betrachten ist, wären das heute in etwa 320 €. Das für die Ehre, die evangelisch-lutherische Lehre mit Gefahr des Eigentums verteidigen zu dürfen.

Bei LinkFang.de (was immer das für eine Internetplattform ist) ist er übrigens in der „Liste der Träger des Wasa-Ordens" nicht dabei. 118 Namen stehen da, unter anderem finde ich Willy Brandt, IOC-Präsident Avery Brundage, FIFA-Präsident João Havelange, Victor Hasselblad, den Entwickler der berühmten Spiegelreflex-Kamera, Entdecker und Schriftsteller Sven Hedin, Heinrich Nordhoff, den langjährigen VW-Chef. Aber zwischen Jacques Goldberg und Christian Gottfried Gruner steht kein Johann Anton Grimm. Sind hier nur die höheren Ordensklassen aufgeführt, nicht die Ritter?

* * * * * * *

Johann Anton zu charakteriseren oder auch nur sein Äußeres zu beschreiben ist nicht möglich. In den „Lebensskizzen" des Enkels Wilhelm lese ich, dass der im Besitz eines Bildes sei. Ob es das noch irgendwo gibt? Persönlich erlebt hat er seinen Großvater nicht, ist er doch erst siebzehn Jahre nach dessen Tod zur Welt gekommen. Aber auch irgendwelche charakterisierenden Schilderungen von anderen existieren nicht. Das ist schade, denn so bin ich auf ein oder zwei sehr, sehr vage Hinweise angewiesen.

Sicher kein solcher Hinweis ist ein Gruß an seine Tochter Dorothea zu ihrem 28. Geburtstag am 23. Mai 1827. Darin wünscht er ihr „einen gnädigen Gott, ein mäßiges, aber dauerhaftes Glück, eine gute, feste Gesundheit, ein ruhiges, zufriedenes Gemüt und ein frohes, munteres Herz." Sagen diese fast schon formelhaften Glückwünsche etwas aus über den Verfasser? Nein. Ein zufriedenes, bescheiden glückliches Leben wünschte man eben. Und dass die Wünsche religiös beginnen, ist wohl zeitgemäß.

Ein vager Hinweis hingegen könnte die Unterzeichnung in der Notiz über den Besuch der schwedischen Königin im Juni 1823 sein: „Meinen lieben Kindern zur Nachricht". Dieses „Meinen lieben Kindern" klingt familienzugewandt, freundlich, nachsichtig. War er das? Und wenn, war es altersbedingte Freundlichkeit, während bei ihm als jungem Vater, dem Zeitgeist entsprechend, strenge Zucht herrschte?

Letzteres könnte man unter Umständen aus der Tatsache schließen, dass sein Sohn Eduard Wilhelm Tielemann, der Bürgermeister von Riga, ebendies war: sehr streng, offenbar hart zu seinen Kindern. Dessen Sohn Wilhelm muss einen solchen Respekt, ja eine solche Furcht vor ihm gehabt haben, dass er sich ganz seiner Mutter zuwandte. War es im Hause des Bürgermeisters, dass die Kinder, wie ich es aus irgendwelchen Erzählungen erinnere, bei Tisch den Mund zu halten hatten, und bei Zuwiderhandlung beim Essen am Tisch stehen mussten?

Hat auch in Johann Antons Haus eine solche Zucht geherrscht? Und ist auch er so auf Ehre bedacht gewesen wie sein Sohn, der Rigaer Bürgermeister? Geld leihen kam für den nicht in Frage, auch in wirtschaftlichen Engpässen nicht. Als ein Freund ihm einmal Geld geradezu aufdrängte, das er wohl für bestimmte Geschäfte dringend benötigte, da tat er alles, die Schuld noch vor dem vereinbarten Termin zu tilgen. Hat er das von seinem Vater Johann Anton übernommen? Ist er so erzogen worden?

Ein Bild von Johann Anton existiert nicht. Aber es gibt Originalpapiere mit seiner Schrift. Sie werden im städtischen Archiv von Lübeck verwahrt, soviel nehme ich aus den Archiv-Kapiteln vorweg. Einige der Schreiben mit seinem Namenszug am Ende sind eindeutig Abschriften von anderer Hand. Aber einige der Texte sind von ihm selber verfasst. Man erkennt sie an der besonderen Unterschrift, übrigens in lateinischen Buchstaben, mit einer an das zweite m von Grimm angehängten schwungvollen und komplizierten Schleifenkomposition. So eine Unterschrift denkt sich kein Kanzleischreiber aus.

Seine Schrift ist von kalligraphischer Präzision, sorgfältig und gleichmäßig, geradezu gemalt, gern an Wortenden mit ausschwingenden Kringeln und Schnörkeln versehen. Ob diese Schrift allerdings etwas über den Charakter aussagt, mag ich nicht beurteilen. Möglicherweise sagt sie mehr aus über den schulischen Schreibunterricht.

Der älteste Bruder des Bürgermeisters, Bernhard Christian, ein ebenso erfolgreicher Kaufherr in Riga, blieb kinderlos, worunter er litt. Er wollte einen seiner Neffen adoptieren. Der Bürgermeister verweigerte ihm das, verständlicherweise, was dieser ihm nicht verzieh. Solche kleinen Geschichten, die Charakterzüge durchscheinen lassen, fehlen von Johann Anton vollkommen, leider.




Archiv 1

Wo finde ich weitere Einzelheiten über Johann Anton Grimm? An wen wende ich mich? Wen frage ich? Gibt es zum Beispiel ein Archiv in Lübeck, so wie es ein Tiroler Landesarchiv in Innsbruck und ein Landesarchiv in Salzburg gibt, mit denen ich mal zu tun hatte?

Ja, das gibt es. Ich finde im Internet das Archiv der Hansestadt Lübeck. Es befindet sich im Mühlendamm 1 - 3. Die Öffnungszeiten des Lesesaals, den man unter der Telefonnummer 0451 für Lübeck und dann 122 41 56 erreicht, sind Montag bis Donnerstag acht bis sechzehn Uhr, Freitag bis zwölf.

Das klingt gut. Ich muss ausnutzen, dass ich in Hamburg nur eine Stunde Fahrt von Lübeck entfernt wohne – anders als Innsbruck und Salzburg, wohin ich immer umständlich und mit mehrwöchiger Wartegeduld schreiben musste, wenn ich eine vage Auskunft über meinen anderen vorväterlichen Johann Anton einholen wollte, Johann Anton von Winkelhofen. Nach Lübeck fährt man entweder mit dem Auto über die A1, bei wenig Verkehr vierzig Minuten, mit dem entsprechenden Gefährt auch weniger. Oder ich fahre mit dem Regionalexpress vom Hamburger Hauptbahnhof (dreiviertel Stunde Fahrtzeit, Halt nur in Ahrensburg, Bad Oldesloe und Reinfeld, Preis: 14,10 €).

Wie lange dauerte eine Fahrt von Hamburg nach Lübeck vor zweihundert Jahren? Wie fuhr man? Und was kostete sie? Wenn man nicht seine eigene Kutsche besaß und nicht das Geld für eine Mietkutsche hatte, dann fuhr man mit der Post, „Thurn und Taxis“. Diese Fahrten empfand man auch damals als überhaupt nicht angenehm. Der Reisende durchlitt Schlaglöcher, harte Stöße, Kälte, Hitze, Enge des überfüllten Wagens. Noch gab es nicht die besser ausgebaute ebenere „Chaussee“ nach Lübeck, die kam erst in den 1840erjahren, und die Post fuhr auch noch nicht die kürzere Strecke über Ahrensburg und Bargteheide nach Oldesloe, den Verlauf der heutigen Bahnstrecke, sondern sie fuhr über Tangstedt, Kayhude, Bargfeld nach Oldesloe und dann weiter nach Lübeck. Das waren um die 75 Kilometer. Für eine solche Entfernung brauchte die normale Postkutsche, die „Ordinari“, ungefähr fünfzehn Stunden, etwa alle drei Stunden über „Posthaltereien“, wo die Wagen umgespannt, manchmal auch die Kutscher ausgetauscht wurden. Das war in einem Tag mit Mühe zu leisten. Meist fuhr man das in zwei Tagen, mit all den Unterbrechungen, die es unterwegs geben konnte, schlechtes Wetter, Schlammlöcher, Achsenbrüche, Schwierigkeiten beim Umspannen in den Posthaltereien. Die „Eilwägen“, so lese ich es, konnten die Strecke in der Hälfte der Zeit schaffen, somit eher in einem Tag. Natürlich waren die teurer. Bequemer waren sie nicht.

Zwei bis drei Mark Courant kostete so eine Fahrt, je nachdem, ob es sich um eine „Ordinari“-Post, einen Eilwagen, eine alte Kutsche oder eine modernere und bequemere „Diligence“ handelte. Umgerechnet in heutige Kaufkraft waren das schätzungsweise 25 bis 40 Euro, wenn die Umrechnungskonkordanzen denn stimmen. Das ist teuer, wenn man an die heutigen vierzehn Euro und zehn Cent für den Regionalexpress der Deutschen Bahn denkt. Und erst recht ist das teuer, wenn man einen durchschnittlichen Tageslohn für einen Handwerker von einer Mark Courant annimmt. Zwei bis drei Tageslöhne für eine Fahrt von Lübeck nach Hamburg! Bei einem heutigen Monatsgehalt von netto 1.800 Euro wären das 120 bis 180 Euro. Aber natürlich sind die Lebensverhältnisse so nicht vergleichbar. Jedenfalls wird sich ein Durchschnittsverdiener eine solche Kutschenfahrt nicht allzu oft haben leisten können.

Heute, an einem kühlen, grauen Wintertag Ende Januar, fahre ich mit dem Auto nach Lübeck. Ich nehme mir vor, für eine erste Orientierung ein wenig durch die Altstadt zu schlendern. Wenn ich dabei den Mühlendamm finde mit dem Archiv der Hansestadt Lübeck, umso besser. Ich fahre über die A 20, Abfahrt Genin, an der Firma Baader vorbei („Food Processing Machinery") Richtung Zentrum, folge dem Schild „Klughafen, Altstadt", fahre von Süden her über die Trave und finde nicht weit unterhalb des Domes einen noch fast leeren Sand-Parkplatz; Tagesgebühr sechs Euro.

Während ich am Dom vorbei Richtung Rathaus gehe, ahne ich nicht, dass ich soeben das Archiv passiert habe. Erst am Nachmittag auf dem Rückweg sehe ich, dass sich der Parkplatz des Autos direkt am Mühlendamm befindet. Und voilà, da steht das Gebäude des Stadtarchivs, gleich neben dem Dom, von der Straße aus einen leichten Hang hinauf.

Das Gebäude ist ein großes, einfaches, gepflegtes Klinkerhaus der Nachkriegszeit - Fertigstellung 1961 - und steht dort, wo in alten Zeiten das Domkloster gewesen ist. Heute teilt sich das Stadtarchiv den Bau mit dem Museum für Natur und Umwelt. Neugierig beschließe ich, obwohl meine Zeit knapp geworden ist, dem Archiv einen ersten Besuch abzustatten, und ich steige unter den winterlich kahlen Bäumen die Stufen zur Eingangstür hinauf, gelange in eine kleine Eingangshalle und fahre mit dem Fahrstuhl hoch in den vierten Stock, wo ich, wie ich auf der Hinweistafel lese, den Lesesaal des Archivs finden kann.

Ich betrete einen größeren hellen Raum, darin vielleicht zehn Tische, jeweils mit Stühlen versehen, an einer Wand, neben der Fensterseite, bis an die Decke reichende Regale mit alten Folianten, Katalogen, Registern. An zwei Tischen sitzen zwei Leser, eine Frau und ein Mann, beide wie ich grauhaarigen Alters. Auch Ahnenforscher? Ahnenforschung soll sich zur Zeit großer Beliebtheit erfreuen. Eine Mode? Wenn, dann nur in der älteren Generation: Rentner haben Zeit für sowas.

Ich spreche eine Frau an einem neben der Tür befindlichen Tresen an, trage ihr mein Anliegen vor, unsicher, ob es ein ernstzunehmendes Anliegen ist. Die Bibliothekarin reagiert routiniert, offensichtlich hat sie alle Tage mit solchen Anfragen zu tun, fragt gleich nach dem Namen und will Jahreszahlen wissen. Sie wiederholt meine Antwort: „Johann Anton Grimm? 1828 gestorben?" Ich bejahe, fühle mich in meinem Anliegen bestärkt, bin mutiger und versuche Einzelheiten zu erklären, werde aber sofort zurechtgewiesen leise zu reden, dies sei ein Lesesaal. „Nehmen Sie diesen Antragszettel, setzen Sie sich dort an einen Tisch und füllen den Zettel aus. Hinterher werden Sie eine Benutzungsgebühr von sechs Euro zu entrichten haben. Und ziehen Sie diese weißen Handschuhe über. Manche Bücher sind sehr alt." 

Aha, denke ich, folge ihren nüchternen, deutlichen Anweisungen, und weg ist sie. Ich setze mich, fülle aus: Name, Adresse, E-Mail, Anliegen und derlei, bin noch gar nicht fertig, da liegen plötzlich auf dem Tisch vor mir, wie aus dem Nichts aufgetaucht, drei Bücher, aufgeschlagen, Faksimile-Seiten alter Akteneinträge in Schreibschrift. In den wenigen Minuten, die ich zum Ausfüllen des Zettels brauchte, hat die Bibliothekarin mir diese drei Folianten herausgesucht und die Seiten aufgeschlagen, in denen Johann Anton Grimm erwähnt ist. Ich kann meine Verblüffung nicht verbergen, und die Frau lacht (natürlich leise), das sei ihr täglich Brot.

Gierig mache ich mich über die Seiten her. Und ich finde als allererstes die Adresse, in der unser Ahn im Jahr 1828 gewohnt hat, dem Sterbejahr, das ich der Frau genannt habe: Fleischhauerstraße 83. Sofort stutze ich. Fleischhauerstraße? Wohnte er nicht in der Johannisstraße, wie ich es in einem Stadtführer von 1814 (siehe Kapitel „Lübeck 1814“) gelesen habe? Ich erkläre der Frau, dass im Stadtführer von 1814 ... Schon ist sie unterwegs und bringt mir den Band mit den Adressenregistern des Jahres 1814. Tatsächlich: Da wohnte er in der Johannisstraße 11. Dann ist er in der Zwischenzeit also umgezogen. Leider habe ich heute nicht die Zeit, die Adressenregister aller Jahrgänge durchzugehen, um zu erfahren, wann der Umzug gewesen ist. Ich muss das auf einen späteren Archivbesuch verschieben. (Kapitel „Archiv 2“)

Während ich versuche, in einem anderen Buch die „No. 291" der „Sterbeauszüge" zu entziffern, kommt die Frau wieder zu mir und erklärt mir: „Fleischhauerstraße 83, das ist heute die Nummer 51. Und Johannisstraße 11 ist heute die Dr.-Julius-Leber-Straße 25." Da muss ich natürlich hin, habe jedoch leider auch dafür nicht die Zeit, auch das muss verschoben werden. (Kapitel „Altstadtspaziergang“)

Aber zurück zum Sterbeauszug No. 291. Ich lese, bemühe mich Wort für Wort die zweihundert Jahre alte Handschrift zu entziffern, stelle dabei fest, dass im frühen 19. Jahrhundert noch nicht durchgängig die deutsche Kurrentschrift geschrieben wurde. Gerade Eigennamen stehen dort sehr sauber in lateinischen Buchstaben. Später übrigens erfahre ich, dass die Lübecker Ämter eigens Kalligraphen angestellt hatten, damit die Aktenvermerke lesbar in die Register kamen.

Ich lese:

No. 291
Heute den Sechszehnten April Eintausend Achthundert Acht und Zwanzig in der Kanzley der Stadt Lübeck erschien August Friedrich Schultz, Leichenbediener, in der Hüxstraße wohnhaft und zeigte an: daß Herr Johann Anton Grimm, Königlich Schwedischer und Norwegischer General=Consul, Zwey und Siebenzig Jahr alt, aus Wismar gebürtig, Wittwer von Catharina geborene von Huikelhoven, am Zwölften April, Abends Sechs Uhr, in seiner Wohnung in der Fleischhauerstraße belegen, verstorben sey und hat (unlesbar) diesen (unlesbar) mit mir unterschrieben. A.F.Schultz

12. April 1828, das Sterbedatum, das ich schon aus dem „Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten“ kenne, finde ich hier bestätigt. Auch Norwegen, nicht nur Schweden, vertrat er, natürlich, seit 1814 gehörte Norwegen zu Schweden. Er war schon Witwer. Wann seine Frau starb, erfahre ich gleich. Dass Huikelhoven ohne c geschrieben wird, halte ich für einen üblichen Schreibfehler, in allen anderen Erwähnungen finde ich diesen Namen mit c.

Aber was ist ein „Leichenbediener"? Ich finde später mühsam heraus, dass in Lübeck Leichenbestatter so genannt wurden, Leichenbediener. Ich hoffe, dass ich das einmal in einem anderen Zusammenhang bestätigt finden werde.

Rätselhaft bleiben mir die beiden unverständlichen Wörter am Ende der Anzeige, auch die Bibliothekarin kann mir da nicht weiterhelfen. Beim zweiten Wort lese ich „Kerbart", „Knebrart", „Kurbnart", ich verstehe es nicht. Auch das erste Wort, es ist so sauber gemalt, entschlüssele ich nicht. Ich entziffere: „Camparnat", „Canigarrat", ... Ich vermute historische Amtswörter, die ich nicht kenne. Ich lese dann in den Sterbeanzeigen über und unter Nr. 291, dass diese Wörter dort alle auch auftauchen: Eine Schlussformel. Was soll sie nur bedeuten?

Das zweite Wort ist der Begriff für die Anzeige: „diese Anzeige"?, „diese Todesanzeige"? Ich suche nach weiteren möglichen Begriffen ... und finde schließlich „Sterbeact". Eine Todesanzeige nannte sich 1828 in der Lübecker Kanzlei Sterbeakt. 

Gut. Aber das Wort davor? Wie hat der Leichenbediener Schultz diesen Sterbeakt unterschrieben. Eigenhändig? Das steht da eindeutig nicht.

Und doch heißt es ziemlich genau das. Ich entdecke viel später nach langem Suchen – nachts, im Bett liegend, im Internet: Früher nannte man jemanden, der in einem Amt oder vor Gericht persönlich erschien, einen Komparenten. „Comparent", steht da, und jetzt ist der Satz verständlich: "Comparent" ist hier ein Adjektiv, und die Bedeutung ist: Der "Leichenbediener" August Friedrich Schultz hat den Sterbeakt "Comparent", also persönlich anwesend, "mit mir", d.h. zusammen mit dem Kanzleibeamten, unterschrieben. Das ist ein Unterschied zu einem bereits unterschrieben mitgebrachten Sterbeakt.

Frage: War es üblich, dass Leichenbestatter Todesanzeigen im Rathaus machten? Auch in den benachbarten Anzeigen werden diese „Leichenbediener" als Anzeigende genannt. Haben nicht Angehörige Todesfälle angegeben? Hatte Johann Anton vielleicht keine Angehörigen mehr in Lübeck? Die Frau tot, die Kinder alle in Riga? Als einzige lebte noch seine jüngste Tochter Charlotte in Lübeck.

Das dritte Buch, das vor mir liegt, ist, soweit ich erkennen kann, eine Sammlung von Stammbäumen. Ich lese Handnotiertes, unübersichtlich, klein und dicht geschrieben, nicht die Schrift eines Kalligraphen, mühsam zu entziffern. Ich kenne so eine unübersichtliche Art von Stammbäumen von den Winkelhofens, man kann die genealogischen Reihenfolgen kaum erkennen. Die hatte ein Südtiroler Lokalhistoriker im 19. Jahrhundert aufgeschrieben. Wer zu welchem Zweck diesen Grimmschen Stammbaum zu Papier gebracht hat, ist mir nicht ersichtlich, es fehlt eine Überschrift. Jemand aus der Familie?

Diesem kleinen Stammbaum entnehme ich Folgendes: Johann Anton Grimm, Kaufmann in Lübeck, gestorben in Lübeck 12.04.1828 (72-jährig), hatte zwei Brüder, beide Pastoren in Wismar, deren Vater, ich zitiere, „N N. zu Wismar, verheir. mit ... Rode". Von anderer Stelle weiß ich: Johann Antons Vater hieß Magister Gottlieb Octavius Grimm (1717 – 1766), war Erzdiakon in St. Marien in Wismar, und seine Frau, Johann Antons Mutter, hieß Catharina Dorothea Rode (geboren 1722, Todesjahr unbekannt. Später erfahre ich die korrekten Jahreszahlen: 1726-1806). Weiter entnehme ich dem Stammbaum Johann Antons Ehefrau, wörtlich: „Catharina von Huickelhoven des Kaufmanns Bernhard Tilemann von H. zu Riga (gest. 1820, 25 May, 86 Jahr)“ – 1820 ist ein Schreibfehler, er ist 1810 85-jährig gestorben – „und der Anna Elisabeth von Haffstein (gest. 1821, 23 Februar 83 Jahr) Tochter starb 1823, 12 Juni 58 Jahr."

12. Juni 1823 Katharinas Tod. Das ist keine zwei Wochen nach dem Besuch der schwedischen Königin in Lübeck. Sie starb mit 58 Jahren. War sie krank gewesen? Dann muss Johann Anton ja das Champagnerkelch-Erlebnis gehabt haben, während seine Frau zu Hause todkrank im Bett lag. Vielleicht ist das ein Grund, dass die Empfänge nicht bei ihm stattgefunden haben?






Bernadotte in Lübeck 1806

Lübeck ist über Jahrhunderte eine gut befestigte Stadt gewesen und nicht ein einziges Mal eingenommen worden. Selbst im Dreißigjährigen Krieg ist sie verschont geblieben. Das lag allerdings nicht nur an den guten Befestigungen mit den vier Toranlagen aus je drei hintereinander stehenden Toren, sondern auch an dem Geld, das die Kaufmannsstadt nötigenfalls immer aufbringen konnte, um sich freizukaufen, ähnlich wie auch Hamburg und Bremen. 1806 gelang das jedoch nicht mehr, als die Armee Napoleons anrückte. Daran war aber nicht die Armee Napoleons schuld oder eine mangelnde Bereitschaft Lübecks zu zahlen, sondern das hatten die preußischen Truppen unter Blücher zu verantworten. Und Johann Anton Grimm hat die Schlacht in den Straßen von Lübeck miterlebt.

Wie kam es dazu?

Im Oktober 1806 erlitten die Preußen eine desaströse Niederlage in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt in Thüringen. Ein Teil der geschlagenen Armee stand unter Generalleutnant von Blücher, dem Befehlshaber, der sieben Jahre später, 1813, nach der siegreichen „Völkerschlacht bei Leipzig“ zum Generalfeldmarschall ernannt wurde und als solcher dann 1815, zusammen mit dem Duke of Wellington, als der große Napoleon-Besieger von Waterloo gefeiert wurde.

1806 sah es aber noch ganz anders aus. Da war Blücher mit seinen geschlagenen Truppen auf der Flucht. Er versuchte, von Thüringen nach Ostpreußen zu entkommen, was ihm jedoch nicht gelang, weil ihm Franzosen dorthin den Weg versperrten. Er wurde nach Nordwesten abgedrängt und floh nach Lübeck, immer dicht gefolgt von großen Truppenteilen der französischen Armee. Napoleon selber hat sich an dieser Verfolgungsjagd nicht beteiligt, der war als Preußenbezwinger in Berlin einmarschiert. Drei seiner Marschälle waren es, die hinter Blüchers Truppenresten her waren, Murat, Soult und Bernadotte.

Blücher erzwang sich den Zugang zu Lübeck, dessen Senat vergeblich auf seinen Neutralitätsstatus pochte und tatenlos die preußische Besetzung geschehen lassen musste. Das wurde Blücher später oft zum Vorwurf gemacht. Denn durch dieses Manöver Blüchers verlief die französische Besetzung Lübecks überaus blutig – ganz anders als die Besetzung der beiden anderen norddeutschen Hansestädte Bremen und Hamburg, die den Franzosen wohlweislich ihre Tore freiwillig geöffnet hatten: Kein einziger Schuss war da gefallen. Aber dem „Haudegen Blücher" – so wurde er gern schon mal genannt – ist die ehrenvolle Verteidigung Preußens bis zum Letzten wichtiger gewesen als das Wohl der Menschen in Lübeck.

Blücher erzwang sich also den Zutritt zur Stadt und verschanzte sich. Die Stadt war gut befestigt und vor allem durch Trave und Wakenitz bestens geschützt, eigentlich auch an den Toren. Aber über die Tore versuchten die Franzosen am Morgen des 6. November in die Stadt einzudringen. Und nach etwa drei Stunden gelang es ihnen auch, nämlich durch das nördliche Burgtor.

Das Burgtor, noch heute ein eindrucksvolles und ansehnliches Gebäude, ist – ähnlich wie das Holstentor – das einzig übriggebliebene Tor einer einstigen großen Toranlage gewesen: Neben allerlei Schanzen und Türmen hatte es noch ein mittleres und ein äußeres Tor gegeben. 1806 gab es diese äußeren Tore nicht mehr, da erstreckte sich vor dem Burgtor nur noch ein weites Feld. Auf diesem Feld entschied sich die Schlacht. Den Wakenitz-Durchstich vor dem Burgtor, der heute die Altstadt zu einer Insel macht, gab es damals noch nicht, der wurde erst kurz vor 1900 mit dem Bau des Elbe-Lübeck-Kanals geschaffen. Die französischen Truppen konnten daher vom Norden her ohne Behinderung durch ein Gewässer bis zum Feld vor dem Burgtor heranrücken. Deswegen war gerade das Burgtor die Schwachstelle im Lübecker Verteidigungsring.

An dieser Schwachstelle hat der preußische Kommandant – es war nicht Blücher selber – zwei Fehler gemacht, die sich schließlich als schlachtentscheidend herausstellten. Er hat erstens Bastionen neben dem Tor unnötigerweise besetzen lassen, unnötigerweise deshalb, weil diese Bastionen gar nicht gestürmt werden konnten, denn sie waren vom Wasser bereits geschützt. Soldaten fehlten also an anderer, wichtigerer Stelle: Die Tore, Türme und Mauern blieben ohne ausreichende Bedeckung.

Und zweitens hat der Kommandant auf dem Feld vor dem Tor Infanterie aufstellen und kämpfen lassen, so dass die Artillerie, die von der Stadt und von den angrenzenden Bastionen aus auf die Franzosen schießen sollte, nicht abfeuern konnte, ohne ihre eigenen Leute zu treffen.

Diese Fehler hat der Kommandant auf der anderen Seite – es war Marschall Bernadotte – erkannt und ausgenutzt. Als die Preußen sich am Ende durch das Burgtor ins Innere Lübecks zurückzuziehen gezwungen sahen, drangen Franzosen mit ihnen ein. Und dann begann die Schlacht in den Straßen. Ein Gräuel, stelle ich mir vor, Hunderte, Tausende, nein, Zehntausende schreiende Männer schossen, prügelten, säbelten aufeinander ein, Blut, Schmerzgebrüll, ohrenbetäubender Lärm in den Gassen und Straßen. In einer Geschichte Lübecks aus dem Jahr 1908, die ich als Faksimile-Druck im Buddenbrookhaus entdeckt habe, liest sich das aus der Sicht eines Augenzeugen so: „Ein mörderlicher Kampf verbreitete sich nun in allen Straßen, es war ein wirkliches Morden, denn man kam sich so nahe, daß man sich das Gewehr auf die Brust setzen konnte.“ Was müssen die Bewohner empfunden haben, die Frauen, Kinder, Handwerker, Kaufleute! Welche unsägliche Angst müssen Johann Anton und seine Frau Katharina ausgestanden haben mit ihren sechs Kindern, der sechzehnjährigen Anna, Anton, vierzehn Jahre alt, meinem Urur Wilhelm, zwölf, dem siebenjährigen Dorchen, der kleinen, knapp vierjährigen Katharina. Und die noch nicht zweijährige Charlotte wird verständnislos in der sie umgebenden Panik geschrien haben. Der Älteste, achtzehn, war seit zwei Jahren in Riga bei den reichen Huickelhovenschen Großeltern. Er wird später mit Grauen von dieser menschengemachten Katastrophe gehört haben.

Als das Schlachten im Laufe des Tages vorüber war, hörte der Schrecken für die Lübecker noch lange nicht auf. Jetzt folgten die Plünderungen – vereinzelt auch Vergewaltigungen – durch die französischen Soldaten, die der Meinung waren, dass sie das Recht hätten über die Lübecker herzufallen, weil diese, im Widerspruch zu ihrer Neutralität, den Preußen allzu bereitwillig die Tore geöffnet hätten. Dem war keineswegs so gewesen, Blücher hatte sich den Zugang zur Stadt erzwungen. Aber selbst wenn dem so gewesen wäre, gibt es ein Recht auf Plünderungen? Selbst in damaliger Sicht gab es das nicht. Aber die drei Marschälle haben ihre wild gewordene Soldateska gewähren lassen. (Alan Palmer schreibt in seinem glaubwürdigen Buch über Bernadotte, dieser habe verzweifelt die Plünderungen zu verhindern versucht.) Von barbarischen Gewaltexzessen liest man, die zum Teil so schlimm gewesen seien, dass selbst erfahrene Krieger von „Schreckensszenen" geschrieben haben. Napoleon selber hat später wegen dieser Vorkommnisse von Berlin aus seine Anteilnahme ausgesprochen, „doch das waren nur schöne Worte", lese ich.

In der eben erwähnten Geschichte Lübecks von 1908 finde ich folgende Darstellung von einem, der die Plünderungen als Junge im Haus eines Nachbarn miterlebt hat:

"Die Züge von (französischer) Infanterie und Kavallerie konnten wegen großem Gedränge nicht fort und machten vor unserem Hause Halt, die lagerten sich auf den Straßen vor den Häusern umher. Da kamen fünf derselben an unsere Haustüre, die verschlossen war, und pochten heftig gegen diese, wir gingen hinunter, und da das Pochen nicht aufhörte, waren wir gezwungen zu öffnen. Die fünf drangen sogleich ins Haus und schlossen hinter sich die Türe. Sehr höflich erbaten sie für ihre ermatteten Offiziere, die sich vor dem Hause befanden, um Weißbrot und Wein. Beides ward ihnen sogleich reichlich gegeben. Man hoffte nun, diese unangenehmen Gäste wieder abziehen zu sehen, statt dessen lagerten sich diese bequem auf der Diele, legten Gewehre und Tornister beiseite und verzehrten selbst Brot und Wein. Der in Hast genossene Wein aber stieg ihnen sogleich in die Köpfe, beraubte ihnen die Vernunft, und nun fingen sie an zu wüten. Ihre Forderungen nach Essen, Trinken, Kleider, Geld usw. folgten schnell aufeinander und waren nicht mehr zu befriedigen. Wir leerten unsere Taschen, womit wir sie zu beruhigen glaubten, aber sie lachten über das wenige und droheten uns mit ihren Seitengewehren, wenn wir nicht sogleich mehr herschaffen würden, dabei machten sie Miene, die auf der Diele liegenden Packen mit feinen Stoffen zu öffnen. Um ihre Forderungen nach Geld zu befriedigen, mußte einer von uns in ein oberes Zimmer bei der Kasse gehen, sie aber wichen uns nicht von der Seite und wurde die Kasse in ihrer Gegenwart geöffnet, so war auch der ganze beträchtliche Inhalt nicht zu retten. Unter den fürchterlichsten Drohungen und Flüchen unserer Peiniger zögerten wir noch immer, zur Kasse zu gehen, da, aufs äußerste gedrängt und von einem der gräßlichen Menschen erfaßt, der ihm die Uhr aus der Tasche ziehen wollte, näherte sich Herr Behn der Haustüre, sprang auf die Straße, ergriff den Arm eines Offiziers, und zog ihn fast mit Gewalt ins Haus. Der Offizier machte den trunkenen Soldaten über ihr Verhalten die heftigsten Vorwürfe, zog den Degen und drohete, sie zum Hause hinauszutreiben. Einer aber von ihnen suchte sich hinter Kisten und Tonnen zu verbergen und die Treppe hinaufzuschleichen. Das gezogene Seitengewehr in der Hand, befand er sich schon auf dieser, da ward ihn Herr Behn gewahr, verfolgte und erreichte ihn, und warf den Betrunkenen die Treppe hinunter, hier empfing ihn der Offizier und trieb ihn vollends zum Hause hinaus. Der zurückgelassene Tornister ward ihm auf die Straße nachgeworfen. Mit dem wohlgemeinten Rate, die Türe zu verschließen und nicht zu öffnen, entfernte sich auch der Offizier wieder sogleich."

Auch in den „Buddenbrooks“ kommen die Plünderungen einmal zur Sprache. Da wird über die alte Konsulin, Antoinette, erzählt, dass sie als junge Frau bei der französischen Eroberung die Plünderung einer Miliz („an die zwanzig Mann hoch“) in ihrem Hause erlebt habe, während ihr Mann, Konsul Johann Buddenbrook, krank im Bett gelegen habe. Ein mutiger Freund habe den Anführer der Miliz, einen Sergeanten, gefragt, ob er die Plünderung mit seinem hohen Dienstgrad vereinbaren könne, worauf der Sergeant rot geworden sei und die silbernen Löffel, die er gerade in der Hand hielt, zurück in die Truhe geworfen habe mit den Worten: „Aber wer sagt Ihnen denn, dass ich etwas anderes mit diesen Dingen beabsichtigte als sie ein wenig zu betrachten?! Hübsche Sachen, das! Wenn einer oder der andere der Leute ein Stück als Souvenir mit sich nehmen sollte ...“ – „Nun“, heißt es weiter, „sie haben immerhin noch genug Souvenirs mit sich genommen, da half keine Berufung auf menschliche oder göttliche Gerechtigkeit … Sie kannten wohl keinen anderen Gott als diesen fürchterlichen kleinen Menschen ...“

In diesen Schilderungen sind die Betroffenen glimpflich davongekommen. Sie zeigen, dass Offiziere angehalten gewesen zu sein scheinen, Plünderungen zu unterbinden. Es muss aber auch ganz andere Szenen gegeben haben.

Nach zwei Tagen, am 8. November, konnte Bernadotte schließlich ein Plünderungsverbot durchsetzen. Danach kehrte allmählich Ruhe ein ... Ruhe! – mit ausgeraubten Häusern und über eintausend verwundeten Soldaten verteilt über die Hospitäler Lübecks, vor Schmerz schreiend und stöhnend und dahinsterbend.

Aber da war noch die Geschichte mit den Schweden, die später bei Bernadottes Wahl zum schwedischen König eine Rolle spielen sollte. Etwa 1.500 schwedische Soldaten waren in Lübeck, die nur zufällig zwischen die Fronten geraten waren. Diese Verbände waren als Verbündete Englands, und somit Feinde Frankreichs, im Herzogtum Lauenburg stationiert gewesen, Lauenburg, das zum Königreich Hannover gehörte, dieses wiederum in Personalunion verbunden mit England. Als die französischen Truppen hinter Blüchers Preußen her herangestürmt gekommen waren, hatten die Schweden in Lauenburg ihre Sachen gepackt und waren noch vor den Preußen in das nahe gelegene Lübeck geflohen, um von dort so schnell wie möglich auf „requirierten", also geklauten Schiffen über Travemünde nach Stralsund zu entkommen, das damals noch zu Schweden gehörte. Sie waren gegen den Willen des Lübecker Rates mit Gewalt in die Stadt eingedrungen, wie kurz danach Blüchers Preußen. In dieser Sache muss der schwedische Kommerzagent Johann Anton Grimm – Konsul ist er erst später geworden – eine diplomatische Rolle gehabt haben: Im Auftrag des schwedischen Königs soll er die schwedischen Kommandanten angehalten haben, den Lübecker Neutralitätsstatus zu respektieren und die Stadt zu umgehen, was diese in ihrer Panik vor den heranstürmenden Franzosen aber nicht zu befolgen vermochten: Sie drangen ein, schafften es dann jedoch nicht mehr bis Travemünde, denn schon kamen Blüchers 20.000 Preußen und verbarrikadierten sich in der Stadt, vor den Toren belagert von 60.000 Franzosen, diese Handvoll von 1.500 Schweden.

Was ist aus diesen Schweden nach den Kämpfen geworden? Da sie sich nicht mehr nach Travemünde hatten in Sicherheit bringen können, waren sie in französische Kriegsgefangenschaft geraten. Ihnen gegenüber jedoch hat sich Bernadotte überaus nobel verhalten. Er ließ den Oberkommandierenden, Graf Gustaf Mörner, in seinem Quartier in einem der vornehmsten Häuser Lübecks wohnen. Der – übrigens ein Vetter jenes Carl Otto Mörner, der Bernadotte vier Jahre später, im Sommer 1810, quasi im Alleingang zum Thronfolgerkandidaten machen sollte – dieser Mörner erinnerte sich später, dass er hochinteressante Gespräche mit dem französischen Marschall geführt habe, und dass der ihn einmal gefragt habe, ob es für Norwegen geographisch nicht viel natürlicher wäre zu Schweden zu gehören als zu Dänemark. So etwas ging einem schwedischen General runter wie warme Butter.

Außerdem lud Bernadotte die schwedischen Offiziere einmal zu sich ein zu einem Diner. Und schließlich ließ er alle 1.500 schwedischen Soldaten unbehelligt und ehrenvoll die Stadt verlassen. Das haben die Schweden ihm nie vergessen. Und das muss Johann Anton Grimm als schwedischer Handelsagent aus nächster Nähe mitbekommen haben. Hat ihn das in seinem Urteil über Bernadotte beeinflusst? Hat ihn dies Verhalten des französischen Besetzers leichter die Plünderungen vergessen lassen? Hat er ihm später mit dieser Erinnerung im Herzen umso lieber den Champagnerkelch angeboten? Und noch später der schwedischen Königin, Bernadottes Ehefrau?







Das Grabkreuz

Das Kreuz „Johann Anton Grimm Erben" gibt es nicht mehr. Es ist weg. Ich entsinne mich des Fotos, auf dem mein Großvater Reinhold mit einer Hand an einem Arm des alten, schwarzen gusseisernen Kreuzes steht, eines Kreuzes mit etwas blumenartig barockischen Ausformungen. Das muss Ende der Fünfzigerjahre gewesen sein. Wer hat dieses Foto? Ich finde es bei mir nicht.

Um zu diesem Burgtor-Friedhof, dem früheren „Allgemeinen Gottesacker“, zu gelangen, geht man durch das Burgtor hinaus auf die Travemünder Allee, eine großzügige breite, baumbestandene, ziemlich befahrene Straße, an der entlang wunderschöne alte Villen aus der Jahrhundertwende stehen. Man geht vielleicht zwanzig Minuten, bis man, auf der linken Straßenseite, zu dem südöstlichen Eingang des Friedhofs kommt.

Es gibt eine Wegskizze, die mein Vater, Tilemann, einmal angefertigt hat, die in seiner charakteristischen schwungvoll-eleganten Schrift zum Grabkreuz „Johann Anton Grimm Erben" führt: durch den „SO Eingang zum Burgtor-Friedhof (Allee)", über einen „gepflasterten Weg" in einer Rechts- und dann Linkskurve vorbei am Grabmal „Fam. Roth", einen „ungepflasterten Weg" kreuzend zwischen einem „Brunnen" (rechts) und einer „Birke" (links) hindurch zum „Grab Gertrud Kleiber, Paul Kleiber"; dahinter das Kreuz „J.A.Grimm Erben".

Dieser Skizze folge ich nun: durch den Eingang auf den gepflasterten Weg. Da ist er. Auf den Grabstein der Familie Rot zu. Voilà! Kurve nach rechts und wieder nach links. Genau wie auf der Skizze. Das sieht gut aus, die Hoffnung, das Kreuz zu finden, steigt. Ein ungepflasterter Weg kreuzt. Naja, der ist jetzt gepflastert. Rechts ein Brunnen. Hier. Und links daneben eine Birke. Tatsächlich! Ein alter, mächtiger Birkenstamm, efeuumrankt, versteckt sich im Gebüsch. Dazwischen hindurch zum Grabstein Gertrud und Paul Kleiber, und dahinter soll dann das Kreuz stehen. Ich kämpfe mich durch ziemlich dichtes Gestrüpp. Ich suche, biege Äste zur Seite, suche immer wieder dieselben Stellen ab. Nichts. In der näheren Umgebung Gräber jede Menge, aus den Siebzigerjahren, Sechzigerjahren. Aber kein großes, schwarzes gusseisernes Kreuz mit blumenartig barockischen Ausformungen.

Ich gehe zur Friedhofsverwaltung. „Johann Anton Grimm?", sagt der „Teamleiter" der – laut Visitenkarte – „Grünanlagenbewirtschaftung". „Sagt mir gar nichts. 1828 gestorben? Wir bewahren immer mal wieder alte Grabsteine auf. Die stehen dann um die Kapelle herum und den ganzen Friedhofs-Außenweg entlang, manchmal sehr versteckt hinter dichtem Buschwerk. Da müssen Sie mal herumgehen und suchen. Aber dokumentiert haben wir das nicht. Wenn Sie das Kreuz nicht finden, dann ist es irgendwann einmal auf dem Müll gelandet. Aber wissen tun wir darüber nichts."

Ich mache einen Spaziergang über den Außenweg einmal um den Friedhof herum. Es ist ein schöner Weg, und ich finde viele alte, teilweise völlig verwitterte Grabsteine. Aber das Kreuz unseres Johann Anton Grimm ist nicht dabei. Es ist wohl irgendwann in den knapp sechzig Jahren, seit wir es besucht haben, verschrottet worden.




Archiv 2

Heute habe ich mich wieder zu einem Besuch des Archivs der Hansestadt Lübeck neben dem Dom im Mühlendamm aufgemacht. Es ist ein Vorfrühlingstag im März, ich bin voller Hoffnung Weiteres herauszufinden. Den Weg kenne ich, ich gehe direkt zum Archiv, die Treppen unter Bäumen hinauf zum Eingang, in den Fahrstuhl, ohne hinzusehen weiß ich: 4. Stock. Im Lesesaal dieselbe stille Bibliotheksatmosphäre wie das erste Mal. Heute sitzen zwei Amerikanerinnen an einem Tisch und stöbern, offenbar Mutter und Tochter. Auf Ahnenforschungstrip in Europa?

Eine andere, ebenso hilfsbereite Bibliothekarin zeigt mir alles, was ich brauche: „Die Adressbücher stehen dort drüben in dem zweiten Regal an der Wand. Sie können sich bedienen. Aber es ist nicht jedes Jahr ein Band veröffentlicht worden.“ Ich frage: „In welchem Jahr ist das erste Adressbuch herausgekommen?“ – „1798.“ Schade, wo ich weiß, dass Johann Anton 1788 nach Lübeck gekommen ist, wenn nicht schon 1787.

Ein „Lübeckisches Addreß-Buch“ (erst ab 1834: „Adreß-Buch“ mit nur einem d) beinhaltet alle in Lübeck gemeldeten Bürger, alphabetisch geordnet mit Titel und Wohnadresse. Ich will wissen, wo mein Vorfahr in welchem Jahr gewohnt hat, zum Beispiel, wann er von der Johannisstraße in die Fleischhauerstraße umgezogen ist. Ich schlage die Adressenbücher auf, die es zwischen 1798 und 1838 gibt. Dies ist das Ergebnis meiner Suche (Ich zitiere wörtlich, was dort jeweils unter Johann Anton Grimm steht und füge kursiv meine Kommentare hinzu):

1798: eigene Handlung; Seifenfabrike; Commissions- und Speditionsgeschäfte; Breitenstraße Nr. 702 M.M.Q. (Maria-Magdalenen-Quartier, 702 ist eine durch das ganze Viertel durchgezählte Hausnummer. Seifenfabrike Plural? Ein Hinweis auf den Besitz mehrerer Seifensiedereien? Vor der Johannisstraße hat er also in der Breitenstraße, heute Breite Straße, gewohnt.)

1799: dito                                
                      
1801: dito      


1803: dito
     
(Vom Schonenfahrer-Aeltermann steht hier übrigens nichts, was er laut Wilhelm Grimms "Lebensskizzen" gewesen sein soll.)
1805: Königl. Schwed. Agent; eigene Handlung und so weiter dito. (1803 ist er schwedischer Handelsagent geworden.)

1807: Kaufmann; Königl. Schwed. Agent; Fischergrube MMQ Nr. 333 (zwischen 1805 und 1807 also in die Fischergrube umgezogen.)

1809: dito, aber: Johannisstraße JacQ. Nr. 11 (Jacobi-Quartier. Umzug in die Johannisstraße zwischen 1807 und 1809, genau 14. Juni 1807, siehe weiter unten)

1811: dito

1815: Kaufmann; Königl. Schwedischer Consul; JacQ. Nr. 68 (soeben zum Konsul ernannt. Straßenname fehlt, nur Haus Nr. 68, warum nicht 11? Weil laut einer Konkordanz von 1910 um 1812 herum – also in der Franzosenzeit – die Häuser anders nummeriert waren.)

1818: dito

1821: Kaufmann; Königl. Schwedischer und Norwegischer General-Consul; Johannisstraße JacQ. 11 (Jetzt, seit etwa 1820, wieder die alte Nummerierung. Seit 1820 Generalkonsul. Norwegen gehörte ab November 1814 in Personalunion zu Schweden.)

1824: dito

1826: dito, aber: Fleischhauerstraße 83 (zwischen 1824 und 1826 Umzug in die Fleischhauerstraße, genau 1824, siehe weiter unten)

1828: dito

1830: Grimm, Demois.; Breitenstraße JacQ. 779 (inzwischen ist Johann Anton gestorben, 12.4.1828. Demoiselle Grimm könnte die jüngste Tochter Charlotte gewesen sein. Die beiden anderen schon in Riga?)

1832: dito

1834: Grimm, Demois.; Breitenstraße MMQ 804 (ein paar Häuser weitergezogen, jetzt, wohl zur Untermiete, bei einer Familie Matz)

1836, 1838: Demoiselle Grimm fehlt, ein Indiz dafür, dass es tatsächlich Charlotte gewesen ist, denn sie ist 1835 gestorben. Vor 1830 wurde sie als Mitglied der Familie Johann Anton Grimm nicht extra aufgeführt.

Soweit die Adressenbücher.

Ich wende mich jetzt einem dicken Karteikasten zu (Nr. 112 „Greveman“ bis „Griver“), in dem alle Karteikarten gesammelt sind, die damals zur Familie Grimm angelegt worden sind, leider nicht ganz sauber alphabetisch geordnet, ich muss Karte für Karte durchgehen. Es gab in Lübeck noch erstaunlich viele andere Grimms. Dennoch finde ich viel über Johann Anton, meist die Angaben zu den Taufen der acht Kinder, und zwar jeweils eine Karte für Johann Anton, für Katharina und für jedes Kind. Auch den Tod der einjährigen Henriette am 25. Mai 1798 finde ich: „stirbt in der Burg“. In der Burg?
Die Burg – gemeint ist das in der Reformationszeit 1531 aufgelöste Burgkloster (Dominikanerkloster Maria Magdalena) im Norden der Stadt, wo auch das Burgtor steht – diese Burg war vor 1800, so erfahre ich auf Nachfrage, ein Armen- und Krankenhaus. Armenhaus für den Kaufmann und Konsul Grimm? War das Kind krank und wurde in dem mit dem Armenhaus verbundenen Hospital gepflegt? 1798, da gab es in der Burg keine Armen mehr, wie ich später lese, und auch das Krankenhaus stand bereits kurz vor der endgültigen Schließung. (1896 wurde der Gebäudekomplex zu einem Gericht umgebaut, heute ein Museum.)

Auf jeden Fall wurde das Kind Henriette in der Burgkirche bestattet, wie später auch die anderen in Lübeck gestorbenen Grimms, die Eltern Katharina (1823), Johann Anton (1828), und die Schwester Charlotte (1835). In Wilhelm Grimms „Lebensskizzen“ lese ich, dass alle in der „Burgkirche“ beerdigt wurden: „Als diese Kirche niedergerissen werden musste (1818), wurden im Jahre 1835 die Särge ... auf dem Jakobi Kirchhofe des im Jahre 1832 neu angelegten „allgemeinen Gottesackers“ in die Erde gebettet.“ Das ist der heutige Burgtor-Friedhof, auf dem jetzt nicht einmal mehr das gusseiserne Grabkreuz („J.A.Grimm Erben“) erhalten ist, geschweige denn das Grimmsche Erbgrab („Erbbegräbnis“).
Ich vermisse nur Ursula Anna, die ca. 1790 – die Angaben, die ich kenne, sind da widersprüchlich – in Riga geboren sein könnte.

Weiterhin finde ich auf einer Karteikarte zu dem Haus in der Johannisstraße folgende Notiz:

Grimm, Johann Anton
Kaufm.; Schwedischer g.Consul
1807, Juni 14, bezog er als Mieter: Johannisstr. 11
1824 wurde das Haus vk. Er zog dann in die
Fleischhauerstr. 83, wo er bis etwa 1830
nachzuweisen ist.

Also wohnte er vom 14. Juni 1807 bis 1824 in der Johannisstraße. Hat er selber das Haus verkauft? Oder hat er bis zum Schluss als Mieter darin gewohnt? Dass er überhaupt als Mieter dort eingezogen ist, wundert mich.

Nochmal zurück zu den Geburts- und Taufangaben: Über die Geburt und Taufe (1794) meines Ururgroßvaters Eduard Wilhelm Tielemann in Riga (nicht in Lübeck!) finde ich diese Abschrift eines von Vater Johann Anton verfassten Eintrags:

Grimm, Johann Anton 1794
Kauffmann Okt. 21
„Auf Verlangen und Consens des Herrn Pastor
Peter Hei rich Petersen, ist dieses Beygefügtes Zettel
dieses Kirchenbuch eingeschrieben“ ….
„Der Herr Grimm ist diesen Sommer mit seiner
Ehe-Frau zum Besuch nach Riga gereiset gewe=
sen, zur See hat sie sich nicht Begeben wollen,
und zu Lande hat sie nicht reißen können weil in
der umliegenden Gegend diesen Sommer Unruhen
ausgebrochen, sie also ihre Niederkunft (verte.)
N.Jak 7/6 S 176, 198 a V

Das ist nicht uninteressant. Zunächst aber: Beim Lesen, besser beim mühsamen Entziffern im Lesesaal weiß ich noch nicht, dass „verte“ umblättern heißt. Ich würde sonst nach der fehlenden Rückseite suchen. (Ich werde das bei einem dritten Archivbesuch nachholen in der Hoffnung, das Satzende zu finden.)

Mühsames Entziffern: Als ungeübten Leser der Kurrent-Schrift kostet es mich wieder allerhand Grübeln, bis ich bei dem Wort „Consens“ in dem ersten Buchstaben, der wie ein L aussieht – „Lachens“? „Lousens“? –, das C erkenne. „Auf Consens“, wieder so eine Amtsformel wie „Comparent“.

Über die grammatikalische Katastrophe „... ist dieses beigefügtes Zettel dieses Kirchenbuch eingeschrieben“ gehe ich hinweg. Fehlen Wörter? Nachlässige Abschrift? Altertümliches „das Zettel“? Aber selbst wenn, es müsste trotzdem „beigefügte“ heißen, nicht „beigefügtes“. Missinterpretiere ich, wenn ich lese: „... ist dieser beigefügte Zettel in das Kirchenbuch eingelegt“?

Verquere Grammatik, unvollständiger Text. Aber das Vorhandene ist schon schön genug. Er beantwortet – vorbehaltlich der Rückseite des Zettels – die Frage, warum das Kind nicht in Lübeck, sondern in Riga geboren wurde. Man war dort zu Besuch, natürlich bei den Huickelhovenschen Eltern der Frau. Auf einem schwankenden Schiff traute sich die hochschwangere Katharina nicht wieder zurück nach Lübeck, und mit der Post, oder welcher Kutsche auch immer, konnte sie nicht zurück, wegen Unruhen „in der umliegenden Gegend“, nämlich in der Nähe von Riga. Worum ging es bei diesen Unruhen?

Es ging um den Widerstand der Polen gegen die polnischen Teilungen. 1772, bei der sogenannten „ersten polnischen Teilung“, hatten sich Russland, Preußen und Österreich, in guter alter Raubrittermanier nach dem Recht des Stärkeren, Teile des ehemals großen Königreichs Polen-Litauen angeeignet. 1793, 21 Jahre später, folgte die „zweite polnische Teilung“, übrig blieb ein Rest-Polen. Und dagegen begehrten die Polen jetzt auf, nicht nur der nationalistische Adel, der sich seines Machtbereichs beraubt fühlte, sondern das gesamte Volk: Vorbild des Aufstands war die gerade erfolgte Französische Revolution.

Riga lag unmittelbar an der Grenze zu diesem Rest-Polen, und wenn man von dort nach Lübeck reisen wollte, musste man durch das Aufstandsgebiet hindurch.

Unter ihrem Anführer Tadeusz Kościuszko (ausgesprochen Tadäusch Koschtschuschko), nach dem der Aufstand benannt ist, schlug man sich brav über den Sommer 1794. Aber gegen die Übermacht dreier Großmächte, die sich ansonsten überhaupt nicht über den Weg trauten, sich bei der Aufteilung Polens aber schön einig waren, gegen diese Großmächte hatten die wackeren Polen keine Chance. Am 10. Oktober war der Kościuszko-Aufstand niedergeschlagen. Ergebnis: Komplette Auflösung Polens, die drei Räuber rissen sich jetzt auch noch den Rest unter den Nagel: Das Land Polen hörte auf zu existieren.

Dieser polnische Aufstand mit den Schlachten ist es, der in Johann Antons Zettel-Eintrag für das Kirchenbuch „Unruhen“ genannt wird und der verhinderte, dass die Familie rechtzeitig zur Geburt zurück in Lübeck sein konnte. Deswegen also wurde mein Ururgroßvater in Riga geboren und nicht in Lübeck, in dem Riga, dessen Bürgermeister er später von 1852 bis 1867 war. Gleich nach Ende des Aufstandes am 10. Oktober muss die Familie losgefahren sein, denn der Zettel, doch wohl in Lübeck für das Kirchenbuch verfasst, ist datiert auf den 21. Oktober, elf Tage später.




Drei Lübeck-Romane

Ida Boy-Ed: Ein königlicher Kaufmann, 1910

Ida Boy-Ed (geb. 1852 in Bergedorf, gest. 1928 in Travemünde) war eine Lübecker Schriftstellerin; sie hat über siebzig Bücher geschrieben, Gesellschaftsromane. Sie führte einen Salon ganz im klassischen Stil: Führende Literaten trafen sich in ihrem Hause, unter ihnen der Lübecker Thomas Mann, den sie nach seinen frühen, in Lübeck umstrittenen, Bucherfolgen – u.a. Buddenbrooks (1901), Tonio Kröger (1903) – unterstützte.

In dem Roman – er spielt um die Wende zum 20. Jahrhundert in Lübeck, es gibt schon Dampfschifffahrt, Eisenbahn, Telefon und Automobil – geht es um die hochproblematische Ehe des reichen Kaufmanns Jakob Bording und seiner Frau Therese Landskron, problematisch deshalb, weil, erstens, er kurz vor seinem Heiratsantrag ein sechsjähriges Verhältnis mit der Ehefrau eines Konkurrenten beendet hat, ohne seiner Frau auch nur ein Sterbenswörtchen von dieser Beziehung zu sagen, und weil, zweitens, sie zufällig später davon erfährt und ihrerseits ihm kein Sterbenswörtchen davon sagt: Man sprach über derlei Dinge nicht, litt stattdessen vor sich hin und ließ den Schwelbrand des Nichtgesagten die Ehe langsam von innen zerfressen. In diesem Fall: Offenes Ende, nicht ohne die Möglichkeit einer teilweisen Aussöhnung nach der Geburt eines Sohnes.

Ich habe den Roman gern gelesen – trotz der Längen, die er hat, vor allem bei den seiten- und aberseitenlangen Schilderungen des anfänglichen Eheglücks, was die Lesespannung erhöhen soll, denn wir wissen: Irgendwann wird sie die ihr durchaus bekannte Halskette der früheren Geliebten finden, die in einer Rubinglasschale in einem Schrank vergessen worden ist. Das hab ich dann überblättert, dafür andere Passagen interessiert gelesen, etwa die fortschreitenden Enttäuschungen, Verwirrungen, Hoffnungen, Verzweiflungen der beiden Eheleute.

Aber das ist es nicht, weswegen ich mich an das Buch gemacht habe, sondern natürlich die Darstellung des Lebens der Lübecker Kaufleute, auch wenn dies Leben sich gut drei Generationen später abspielt als mein Urururahn gewirkt hat, als die Senatoren noch Ratsherren hießen (bis 1848) und die Kontore noch Comptoirs. Aber die familiären Eifersüchteleien, auch der Ehefrauen untereinander, die Kungeleien, das Ehrgefühl, die vornehme Steifheit neben niederdeutscher Derbheit, „die spezifische Hanseatenkrankheit: den Patrizierwahnsinn, in welchem jede Familie sich einbildet, aristokratischer als alle anderen zu sein", das alles kommt hier, wenigstens im ersten Teil des Buches, sehr schön zum Ausdruck – wie übrigens nicht anders als in den „Buddenbrooks".




Ludwig Ewers: Die Großvaterstadt, 1926



Ludwig Ewers (1870 - 1946), in Lübeck als Sohn eines Kaufmanns geboren, war in erster Linie Zeitungsredakteur. Er war fast gleichalt mit Heinrich Mann und mit diesem über längere Zeit befreundet. In dem 1926 erschienenen Roman „Die Großvaterstadt" schildert er das Lübecker Kaufmannsmilieu der 1840er- und 1850erjahre, wie er es von seinem Vater und Großvater vermittelt bekommen hat, die wohl gut gehende Handelsfirmen geleitet hatten. Das Kaufmannsmilieu der 1840er- und 1850erjahre, das ist exakt die Buddenbrookzeit, und so kommt dieses Buch einfach nicht darum herum, mit den „Buddenbrooks“ verglichen zu werden, und es fällt dabei komplett durch: Es ist gähnend langweilig. Das weniger etwa wegen seiner Ereignisarmut. Dramatisches passiert zwar in der Tat nicht: Es geht um das Leben zweier junger sehr tüchtiger und sehr erfolgreicher Handelsmänner, Edelmenschen, ein bisschen so wie Old Shatterhand und Winnetou. Sie sind zudem gut national gesinnt, was in dieser Zeit wohl unumgänglich gewesen zu sein scheint. (In den „Buddenbrooks“ spielt das überhaupt keine Rolle.)

Aber die fehlende Dramatik ist es nicht, die den Roman langweilig macht, langweilig ist er wegen seines schwachen Stils. Wenn bei Thomas Mann die differenzierte, humorvoll-ironische Sprache einen solchen Spaß macht, kämpft man sich bei Ludwig Ewers durch eine schwerfällige Ausdrucksweise, oft gekünstelt altertümelnd oder poetisierend: „Kruths Mundlinie umgliss ein flackerndes Lächeln, seine Lippen umkräuselten Heiterkeit", oder: „Unter seinen Augenwölbungen hervor schoss er helle Blitze", oder der homerisch belesene Handelsmann nennt einen Kutscher allen Ernstes „würdiger Rosselenker". Typisch dies Gespräch:

"„Man sollte gar nicht heiraten!", polterte Griepenkerl. Sofort richtete Kruth sein Gesicht auf; beinahe schön war es in dem Glanz, der aus seinen Augen leuchtete: „Sage das nicht, mein Freund! Du darfst die Sehnsucht nach dem Höchsten nicht mit solchen Worten abtun. Ein Jahr, ein Tag der Liebesgemeinschaft ist mit einem ganzen Menschenleben nicht zu teuer bezahlt. Sie (die Frau, von der die beiden reden, die gerade ihren Ehemann verloren hat) besaß es doch einmal, was so köstlich ist! Und wonach mancher in bangem Sehnen vergebens fleht!" Vor der Leidenschaftlichkeit, mit der das gesprochen war, verstummten die beiden Fahrtgenossen vollends."

Humorloser Kitsch. Und wo das Buch humorvoll sein will, geht der Witz durch den zu umständlichen Stil verloren. 

Reaktionen, Gefühle, Gedanken, Wahrnehmungen sind immer übertrieben, undifferenziert: Gegrummelt wird nur finster, gelacht wird immer schallend. Gespräche verlaufen oft unnatürlich, willkürlich in die Richtung gebogen, die der Autor haben möchte. Und so geht das über mehr als 700 Seiten. Und zum Leidwesen des Lesers ist einer der beiden Protagonisten literarisch sehr gebildet: Es wimmelt nur so von Shakespeare-Zitaten und Homer-Bildern. Er lernt seine Braut kennen, indem die beiden sich mit aufeinander bezogenen Zitaten unterhalten, ausschließlich, über ein ganzes langes Gespräch.

Aber ich habe in dem Buch vieles über die Lebensumstände im Lübeck des 19. Jahrhunderts erfahren. Einiges wird in dem Roman sehr detailliert beschrieben, für den Handlungsverlauf sogar störend detailliert. Für mich ist das aber interessant, weil ich ja genau das suche: Wie sah Lübeck zu Zeiten Johann Anton Grimms aus? Da hat mir der Roman vieles gegeben, auch wenn unser Ahn schon 1828 gestorben ist und einer früheren Generation angehörte. Beispielsweise erfährt der Leser, als an einer Stelle die sogenannten Kollegien erwähnt werden, ganz genau, worum es dabei geht, wie viele und welche Kollegien es in Lübeck gab und wie sie entstanden sind. Das interessiert den Leser nicht, mich dagegen hat es sehr interessiert, weil ich weiß, dass Johann Anton einem dieser Kollegien angehört hat. An anderer Stelle wird der Leser, der eigentlich wissen möchte, wie die Handlung weitergeht, über viele Seiten durch die Marienkirche geführt wie in einem Reiseführer. Oder auch die geradezu museumsmäßige Beschreibung eines historischen Türklopfers, über die ein normaler Leser möglichst schnell hinwegliest, weil sie den Fortlauf der Handlung unterbricht – mich interessiert sie. Ich schreibe sie hier mal exemplarisch auf:

"Er führte ihn durch den nebligen Dezemberabend, durch mancherlei Straßen bis an die Ägidienkirche. Plötzlich machte er vor einer Haustür halt (Handlung wird abgestoppt): „Sieh hier, ein schmiedeeiserner Klopfer, der in den Zeiten der Hanse die federnde Hausglocke von heute ersetzte. Daneben am andern Türflügel ein fester Griff von ganz gleicher Form. Der Klopfer hängt beweglich in einer Angel und liegt mit seinem Kolben auf einem eisernen Amboss." Damit hob er den Klopfer ab, legte ihn aber sachte zurück auf das Widerlager: „Ein Schlag gäbe ein donnerndes Getöse (Bei Ewers kann ein Getöse nur donnernd sein) durch das Haus, und wir bekämen Streit, wollten wir es wecken. Die Klopfer sind alle im Ruhstand. Nur einer ist meines Wissens noch im Gebrauch. Dort drüben." Er führte Norrmann über den Kirchenplatz und stieg, ehe Fritz (das ist Norrmann) etwas einwenden konnte, eine Steintreppe hinauf, schwang den Klopfer aus blankem Messing und ließ ihn auf das Messinglager dröhnen, so dass Fritz erschrak, als der Widerhall dumpf im Innern des Hauses grollte. (Der Widerhall grollt, und das unbedingt dumpf.) Im nächsten Augenblick ... (und hier geht die Handlung weiter.)"

Ich werde das in meiner Beschreibung von Johann Anton Grimms Lübeck verwenden, und wenn ich schon nichts mit dem mittelalterlichen Türklopfer anfangen kann, dann wenigstens mit der federnden Hausglocke.

Und noch etwas Zweites in dem Buch hat mir geholfen, mich meinem Ururur zu nähern: Das Lübecker Plattdüütsch. Der Roman ist zwar Hochdeutsch geschrieben, aber viele Gespräche sind auf Platt. Und das ist ja ganz offensichtlich die vorwiegend gesprochene Sprache gewesen, auch die der vornehmeren Kaufmannsfamilien, deren Angehörige gern ins Platt fielen, vor allem in emotional aufgeladenen Situationen. Auch die Buddenbrooks sprechen Platt, wenn sie wütend oder ungeduldig oder sonstwie aufgeregt sind oder sich plötzlich über etwas freuen. Die vornehmen Kaufleute redeten allerdings gern auch Französisch, nach wie vor die Sprache der feinen Gesellschaft. Bei Gefühlsausbrüchen in vornehmeren Kreisen wurde dann Platt und Französisch vermischt. „Je, de Düwel ook, c'est la question, ma très chère demoiselle!" Mit diesen zornigen Worten der alten Konsulin an die Enkelin beginnen die „Buddenbrooks“.




Thomas Mann: Die Buddenbrooks, 1901

Wenn man sich mit dem Leben der Kaufleute im Lübeck des 19. Jahrhunderts beschäftigen möchte, dann kommt man an den „Buddenbrooks" (1901) nicht vorbei: ein Muss. Zwar beginnt die Handlung erst 1835 – und erstreckt sich über vierzig Jahre bis zum Tod von Thomas und Hanno 1875, übrigens Thomas Manns Geburtsjahr –, aber die Lebens- und Arbeitsatmosphäre der Kaufmannsfamilien dürfte sich seit den napoleonischen und nach-napoleonischen Zeiten, in denen unser Johann Anton schwedischer Konsul war, noch nicht wesentlich verändert haben, auch wenn wir davon ausgehen müssen, dass Thomas Mann in dem Roman seine Erlebnisse und Erfahrungen der 1880er- und frühen 1890erjahre verarbeitet hat. Ich denke, dass, da so viel Familienbiografisches in dem Buch steckt, die Schilderungen historisch stimmig sind. Zwar ist Thomas Manns Vater, das Vorbild Thomas Buddenbrooks, nicht wie dieser 1825, sondern 1840 geboren, aber beispielsweise wurde auch die Mannsche Firma – 1790 – von einem aus Rostock zugewanderten Kaufmann gegründet, als „Joh. Siegm. Mann, Commissions- und Speditionsgeschäfte". Und wie die Buddenbrooks waren die Manns niederländische Konsuln.

Der Roman vom „Verfall einer Familie", wie es im Untertitel heißt, eine Allegorie auf den Niedergang einer Epoche, ein zentrales Thema bei Thomas Mann, ebenso wie die Zerrissenheit zwischen kaufmännisch-nüchternem Realitätssinn und künstlerisch-verspielten Träumereien, wie sie etwa in dem Gegensatz Thomas-Christian, aber auch in Thomas selber zum Ausdruck kommen – ähnlich wie in der zwei Jahre später erschienenen Novelle „Tonio Kröger" –, das sind die Dinge, die mich weniger an dem Buch interessieren, so eindrucksvoll das auch zum Ausdruck kommt. Was mich viel mehr an der Lektüre reizt und auch diesmal wieder begeistert hat, sind die höchst anschaulichen, plastischen, lebensechten Darstellungen – und der ironische, freche Witz.

Allein schon die berühmte Szene von der „Revolutschon" 1848. Nicht die März-Aufstände sind hier übrigens gemeint, sondern Unruhen, die es in Lübeck im Oktober gegeben hat: Die Bürgerschaft hat mit großer Mehrheit einen Senatsvorschlag angenommen, dass das ständische Wahlrecht zugunsten eines allgemeinen Wahlrechts geändert werden solle, was etliche Handwerksgesellen auf die Straßen trieb, weil sie die Einführung der Gewerbefreiheit und damit das Ende der Zunftpflicht befürchteten, also eigentlich eine ganz rückwärtsgewandte Einstellung. Diese Gründe für die Unruhen spielen im Roman aber gar keine Rolle. Da geht es nur um die jungen Handwerksburschen, die sich lärmend und brüllend vor dem Haus versammeln, in dem die Bürgerschaft tagt. Die Abgeordneten sind wütend (aus dem alten Konsul Kröger kommt es „ganz tief heraus, kalt und schwer": „Die Canaille." Er möchte eigentlich seine Kalesche kommen lassen, um nach Hause zu fahren, was ja nun nicht geht), viele sind verängstigt, sie überlegen schon, ob sie über Dachluken fliehen sollen – was sie übrigens realiter tatsächlich getan haben. Da nimmt Konsul Johann Buddenbrook, ein allgemein recht beliebter Patrizier, die Sache in die Hand, geht vor die Tür und redet die unruhige Menge so an: „Lüd, wat is dat nu bloß für dumm Tüg, wat Ji da anstellt!" Die Menge beruhigt sich und hört zu: „Dat's Kunsel Buddenbrook! Holl din Mul, Krischan, hei kann höllschen fuchtig warn!" Und der sucht sich einen seiner eigenen Lagerarbeiter heraus („mit krummen Beinen, ... die Mütze in der Hand und den Mund voll Brot") und spricht ihn an: „Nu red' mal, Corl Smolt! Nu is' Tied! Ji heww hier den leewen langen Namiddag bröllt." Der stammelt kauend: „Dat's nu so 'n Saak ... öäwer ... Dat is nu so wied ... Wi maaken nu Revolutschon." – „Wat's dat för Undög, Smolt!", erwidert Buddenbrook und beendet ein kurzes sich anschließendes Gespräch mit der Frage: „Smolt, wat wull Ji nu eentlich! Nu seggen Sei dat mal!" Antwort: „Je, Herr Kunsel, ick seg man bloß: wie wull nu 'ne Republike, seg ick man bloß ..." Buddenbrook: „Öäwer du Döskopp ... Ji heww ja schon een." - „Je, Herr Kunsel, denn wull wi noch een." Natürlich wissen es die meisten Umstehenden besser, viele lachen. Das Ganze entspannt sich, und Buddenbrook sagt in die Menge: „Na Lüd, ick glöw, dat is nu dat Beste, wenn ihr Alle naa Hus gaht." Die Menge löst sich langsam auf. Und Buddenbrook hält Corl Smolt noch zurück: „Smolt, seg mal, hast du den Krögerschen Wagen nich seihn, de Kalesch' von Krögers vorm Burgtor?" - „Jewoll, Herr Kunsel! De is kamen." - „Schön; denn loop man fixing hin, Smolt, un seg tau Jochen, hei sall mal 'n beeten rannerkommen; sin Herr will naa Hus." - „Jewoll, Herr Kunsel!" „Und", so heißt es weiter, „indem er seine Mütze auf den Kopf warf und den Lederschirm ganz tief in die Augen zog, lief Corl Smolt mit breitspurigen, wiegenden Schritten die Straße hinunter." Das ist das Ende der „Revolutschon".

Oder diese Szene: Die mittlerweile 30-jährige Tony Buddenbrook leidet unter den regelmäßigen geistlichen Versammlungen mit frömmelnden Pastoren und Missionaren, die ihre Mutter abhält, welche nach dem Tod ihres Mannes plötzlich religiös geworden ist. Ein Missionar namens Jonathan, weit herumgekommen, „ein Mann mit großen, vorwurfsvollen Augen und betrübt herniederhängenden Wangen" tritt vor Tony hin und fordert sie mit trauriger Strenge zur Entscheidung der Frage auf, ob ihre gebrannten Stirnlocken sich eigentlich mit der wahren christlichen Demut vereinbaren ließen ... Ach! er hatte nicht mit Tonys spitzig sarkastischer Redegewandtheit gerechnet. Sie schwieg während einiger Augenblicke, und man sah, wie ihr Hirn arbeitete. Dann aber kam es: „Darf ich Sie bitten, mein Herr Pastor, sich um Ihre eigenen Locken zu kümmern?!" ... Und hinaus rauschte sie, indem sie die Schultern ein wenig emporzog, den Kopf zurückwarf und trotzdem das Kinn auf die Brust zu drücken suchte. – Und Pastor Jonathan besaß äußerst wenig Haupthaar, ja, sein Schädel war nackt zu nennen!

Personenbeschreibungen, immer voller kleiner Bosheiten: Lehrer sind nur „Kammgarnröcke", meist ungepflegt, Hosen zu kurz. (Erinnert mich an meine eigene Schülerzeit, in der ich Lehrer fast nur in abgetragenen grauen Anzügen auftreten sah, irgendwo immer ein Kreidefleck. Was habe ich selber als Lehrer immer meine Hände saubergerieben, wenn ich ein Stück Kreide aus der Hand gelegt habe!) Oder: „Friederike war mit den Jahren immer hagerer und spitziger geworden", und wenn sie etwas Frommes sage, etwa vom Wiedersehen im Jenseits, dann tue sie das, „wobei sie die Hände fest im Schoße zusammenlegte, die Augen niederschlug und mit ihrer Nase in die Luft stach."

Grobleben, ein Buddenbrookscher Speicherarbeiter, „an dessen magerer Nase zu jeder Jahreszeit beständig ein länglicher Tropfen hängt, ohne jemals hinunter zu fallen". Er kommt als Gratulant zu einer Taufe ins herrschaftliche Haus, „bringt Blumen und hält, während der Tropfen an seiner Nase balanciert, mit weinerlicher und salbungsvoller Stimme eine Ansprache", die nach längeren Ausführungen in der Quintessenz gipfelt: „... tau Moder müssen wi Alle warn, wi müssen all tau Moder warn, tau Moder ... tau Moder ...!" Wohlgemerkt eine Taufe. (Als ich übrigens diese Zeilen schreibe, putze ich mir zweimal kräftig die Nase.)

Köstlich auch die Szene, in der der Besuch des biederen, kleinbürgerlichen, direkt-offenen Münchner Hopfenhändlers Permaneder bei den großbürgerlichen, vornehmen, ss-teifen Buddenbrooks in deren Villa in Lübeck beschrieben wird. Das Hausmädchen kündigt ihn so an: „Je, Fru Kunsel, doar wier 'n Herr, öäwer hei red' nich dütsch un is ook goar tau snaksch." (gar zu sonderbar) „Herr Buddenbrook", sagt der statt „Herr Senator" oder mindestens „Herr Konsul", oder er sagt gar „Herr Nachbohr", wobei das Dienstpersonal vor Schreck zusammenzuckt und sich verfärbt.

Eigenartigerweise übrigens wird Lübeck auf allen knapp 800 Seiten nicht ein einziges Mal mit Namen genannt, es heißt immer nur „die Stadt", einmal die „Hafenstadt". Das ist umso erstaunlicher, als alles andere namentlich präzise erwähnt wird, die Umgebung wie Travemünde, Büchen, Hamburg, Holstein, Mecklenburg usw., auch die Trave, ja selbst die Straßen und Gebäude, die es alle gibt oder gab. Einerlei, es geht um Lübeck.


Post scriptum:

Für den plattdeutschen Dialekt lohnt sich die Lektüre von Fritz Reuter (1810 – 1874), mecklenburgisches Platt, zu dem auch das Lübecker Platt gehört. „Dörchläuchting“ (1866) und „Ut de Franzosentid“ (1859) sind die beiden Romane, die ich gelesen habe: Sehr amüsant, und auch für mich lesbar, der ich kein Platt spreche. Beide Romane spielen in der Zeit Johann Anton Grimms, wenn auch nicht in Lübeck, sondern weiter östlich im Mecklenburgischen. So wie für mich Ludwig Thoma bei der bairischen Mundart und bei der Darstellung des Lebens im oberbayerischen Schleching meines Opas Watscheder um 1900 hilfreich war, so war es Reuter beim Platt und bei der Darstellung des Lebens und der Sichtweisen in und nach der Zeit der napoleonischen Besetzung.








Lübeck 1814

Kurze Beschreibung der freien Hanse-Stadt Lübeck
mit besonderer Hinsicht auf ihre nützlichen Anstalten,
zunächst für Freunde und Reisende bestimmt,
nebst einem Plane der Stadt.
Lübeck, bei M. Michelsen. 1814

So lautet der zeitgemäß umständliche Titel eines Stadtführers aus dem Jahr 1814. Dieses Buch ist ein unverhoffter, einmaliger Fund, für mich absolut großartig, ein Juwel, beschreibt es doch die Stadt im Zustand und aus der Sicht des Jahres 1814, eines Jahres, in dem Johann Anton Grimm, damals 58-jährig, in Lübeck gelebt hat – Goethe wurde in dem Jahr 65 und schrieb an seinem „West-östlichen Divan", und Beethoven, 44 Jahre alt, erlebte im Februar die Uraufführung seiner 8. Symphonie. „Es ist der erste Versuch", so heißt es im Vorwort, „alle das Nützliche, dessen diese Stadt sich rühmen darf, einmal zusammen zu stellen. Man verzeihe es dem Patriotismus des Verfassers, wenn er wünscht und hierdurch zu befördern sucht, dass auch Auswärtige dieses Gute kennen und ehren." Und in der „Nachschrift" lesen wir, das Buch liefere „ein treues Gemälde der neuesten Einrichtung und Verfassung Lübecks", und der Autor schmeichele sich, dass es „auch für Einheimische nicht ohne mannigfaltiges Interesse seyn werde", also auch für Kaufmann Grimm. Hat der sich diesen Stadtführer gekauft, etwa in der Buchhandlung Michelsen, dem Verleger und – wie ich vermute – Verfasser, der ungenannt bleibt, in der Alfstraße 2?

In allen Einzelheiten wird in dem Buch „zunächst" (heute würden wir sagen „vor allem") „für Freunde und Reisende" die Stadt Lübeck beschrieben: die Stadtteile, die Straßen, die damals noch drei existierenden „Thöre" (heute sind es nur noch zwei), die Kirchen, die Umgebung, dann die „Anstalten" (Einrichtungen) wie Schulen (das bekannte Gymnasium Katharineum mit Listen sämtlicher Lehrer sowie Schülerzahlen der vergangenen Jahre), Krankenhäuser, Stifte, Poststationen („Posten"), Konsulate, Gasthäuser und viele mehr, weiter das Berufsleben, die zwölf „Collegien" (das waren die ständisch organisierten Berufsgruppen, Gilden), die alte, jetzt gerade wieder hergestellte Verfassung, und so weiter und so weiter, Stand: August 1814.

1814, das war das Jahr unmittelbar nach den Wirren des als Befreiung empfundenen Endes der siebenjährigen französischen Besatzung: Im März 1813 hatten sich die Franzosen, nach der verheerenden Niederlage gegen das Zarenreich („Krieg und Frieden"), aus Lübeck zurückgezogen. Doch schon sechs Wochen später waren die Dänen, die auf französischer Seite kämpften, in Lübeck einmarschiert in der Hoffnung, sich nach einem Endsieg Napoleons ganz Holstein mit Lübeck einverleiben zu können. Auch die Franzosen waren noch einmal wiedergekehrt, bis schließlich die schwedische Armee, als Vertreterin der alliierten Streitkräfte, im Dezember 1813 die Franzosen und Dänen endgültig aus Lübeck vertrieben hatte – die schwedische Armee unter Kronprinz Carl Johann, also unter niemand anderem als Jean Baptiste Bernadotte. Und genau das war das Kuriose daran: Lübeck wurde im Dezember 1813 von exakt demselben Befehlshaber befreit wie sieben Jahre zuvor besetzt: Im Dezember 1806 war Lübeck von französischen Truppen eingenommen worden – unter Marschall Bernadotte.

Dies alles war geschehen, während der Verfasser an dem Stadtführer schrieb. Das Buch steht auch sichtbar unter dem Eindruck dieses Kriegsgeschehens und der französischen Fremdherrschaft. Und diese Sicht muss auch die Sicht unseres Johann Anton gewesen sein. Er hat die gesamte Franzosenzeit über in Lübeck gelebt, und als Händler hat auch er unter den wirtschaftlichen Auswirkungen der Politik Napoleons gelitten, unter den Steuern und Abgaben, unter der Kontinentalsperre, der Wirtschaftsblockade gegen England. England war immer schon einer der wichtigsten Handelspartner der Stadt gewesen. Kein Wunder: Das Wirtschaftsleben Lübecks lag 1814 danieder, es fehlte das Geld, um die im Hafen vor sich hin rottenden Schiffe zu reparieren, und große Teile der Stadt waren kaputt. Aber voller Optimismus schreibt der Autor über den Handel: „Leider haben die Zeitumstände einen nachtheiligen Einfluss auf mehrere dieser Erwerbszweige geäussert. Doch leuchtet jetzt die freundliche Hoffnung einer neuen Thätigkeit." (S. 180)

Dieser historische Reiseführer aus der Zeit Johann Antons ist mir in den Schoß gefallen wie die Sterntaler dem armen Mädchen im Walde durch einfaches Aufhalten seines Hemdes: Ich habe nicht lange danach in Bibliotheken und Antiquariaten gesucht, sondern ich habe nichts anderes gemacht als im Internet den Namen „Johann Anton Grimm" zu googeln, und – klick! – innerhalb von Sekunden hatte ich das Buch vollständig vor mir auf dem Bildschirm, denn: Mein Ahnherr wird darin dreimal namentlich genannt. Die „Bayer. Staatsbibliothek" („Bibliotheca Regia Monacensis") hat uns Glücklichen des digitalen Cyberspace-Zeitalters den Gefallen getan, diesen Schatz ins Internet zu stellen.

Ich könnte das Buch antiquarisch erwerben – allerdings für nicht unter 140 Euro bei Amazon, ein Exemplar sogar für 280 Euro; bei anderen Anbietern habe ich es überhaupt nicht gefunden. 140 Euro, das ist nicht ohne, und ich bin wohl nicht bibliophil genug, um diesen Preis zu zahlen, nur weil darin dreimal der Name meines direkten Vorfahren steht. Und lesen kann ich es auch auf dem Computer – und auf dem Smartphone, bequem in der S-Bahn.

Viele Informationen über die Stadt meines Ahns habe ich diesem Buch entnommen, selbst Nebensächliches wie die Farben der Straßenschilder. Höchst detailliert die Beschreibungen. Hier einige Beispiele: Sämtliche Straßenzüge der Stadt – heute Altstadt – werden angegeben, in vollständigen Sätzen ausformuliert, so die „Fleischhauerstrasse, Joh.Q. (Johannisquartier), vom Marien-Kirchhofe Südseite, ostwärts nach der Wakenitz zu. Durch die Königstr. und Schlumacherst. (kein Druckfehler) wird sie, wie die ihr parallellaufenden Gassen, in die obere, mittlere und untere eingetheilt", oder die „Johannisstrasse, Joh. und Jac.Q., vom Marien-Kirchhofe bei der Kanzelei (im Rathaus) abwärts nach der Wakenitz zu.“

Die Johannisstraße ist so gut beschrieben, dass ich auf Grund dieser Beschreibung erkennen kann: Es handelt sich um die heutige Dr.-Julius-Leber-Straße. Den Namen Johannisstraße gibt es nicht mehr, die Straße wurde 1946 nach dem SPD-Politiker umbenannt, der im Januar 1945, noch kurz vor Kriegsende, im Zusammenhang mit dem gescheiterten Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 hingerichtet worden war.

Ich sagte, alle Straßen der Stadt sind in ihrem Verlauf beschrieben ... außer: „Einige andere Namen, z.B. der kleinen Twieten am Markte, anzuführen, verbietet die Anständigkeit." (S. 21) Diskreter Hinweis des Stadtführers für die „Mannslüüt“, wo gewisse „nützliche Anstalten“ zu finden waren.

Oder hier die wohlwollende, das Kapitel „Kirchen und merkwürdigste Gebäude" abschließende Darstellung des Gesamteindrucks des Stadtbildes:

"Auch die Bauart einiger Privathäuser zeichnet sich durch Eleganz und reinen neuern Geschmack aus. Im Ganzen sind alle Häuser durchaus hell, mit guten Treppen, geräumigen Dielen und Vorplätzen, welche häufig wie Zimmer gemalt und meublirt sind. Einige der ausgezeichnetsten Häuser findet man in der Breitenstrasse (Dr. Schetelig, erinnere ich), der Königstrasse, besonders in der Nähe der Jacobi Kirche, hinter der Kanzlei, in der Johannisstrasse, der Holsteinstrasse, auf der Parade (Senator von Evers), und an mehreren Plätzen. Ueberhaupt geben die geräumigen Gassen, die massiven Mauern, die hellen Farben der Häuser, ihre Bauart, (alle neuern, selbst in kleinern Strassen, haben platte Giebel, zum Theil mit Statuen oder Vasen geziert,) die hin und wieder gepflanzten Bäume, der Stadt ein freundliches und heiteres Ansehen. Auch sind die zum Theil grossen und gut angelegten Gärten, welche sich bei einigen Häusern, besonders in der Königstrasse, untern Johannisstrasse, Aegydienstrasse, der Parade u.s.w. befinden, keine geringe Annehmlichkeit. – Die ehemaligen, der Gesundheit sehr nachtheiligen, Kellerwohnungen verschwinden immer mehr und mehr, und die geringe Volksklasse wohnt meistens in den zahlreichen Gängen, die besonders in einigen Strassen sehr häufig sind, in andern gar nicht angetroffen werden. – Ihrer Bestimmung wegen für den Kaufmann sind die mehrsten Häuser hoch, mit vielen Böden zu Waaren, und meistens mit gewölbten Kellern versehen; manche haben Speicher in den Höfen, und fast die mehrsten eigne Hinterhäuser zu allerhand häuslichen Benutzungen (getrennt: Benuz-zungen)." (S. 71f.)

Historisch interessant zu lesen die Zerstörungen, vor allem außerhalb der Stadt und an den Mauer- und Schanzenanlagen. Zum Beispiel hier:

"Dort fließt die Delvenau, welche vermittelst 10 Schleusen bis Lauenburg die Schiffe führt. Sie ist für die innre Schiffahrt sehr wichtig (bis heute eine wichtige Binnenschiffverbindung zwischen Lübeck und Elbe, heute der Elbe-Lübeck-Kanal), aber 1813 durch Versenkungen ruinirt. Von der durch Frankreich verheissenen Verbesserung ist nichts geschehen, als einige Vermessungen."

Oder hier:

"Ausserhalb der Trave ist die Stadt von einem hohen, mit schönen Alleen und Anpflanzungen verzierten Walle umgeben, vom Mühlenthore (existiert heute nicht mehr) bis zum Burgthore, nahe am Holsteinthore (sic) mit doppelten Courtinen (Kurtinen, in heutiger Schreibweise, sind die Mauern zwischen zwei Bastionen; doppelte Kurtinen sind also doppelte Mauern). Doch seit 1806 (der Eroberung Lübecks durch die Franzosen unter Bernadotte) sind alle Befestigungen an den Thören, nebst verschiedenen Festungsthürmen und Thorgewölben weggenommen, und in bepflanzte Spaziergänge verwandelt (Lübeck sollte sich nicht noch einmal gegen die Franzosen verschanzen können; 1813 umgekehrt); ein Theil derselben sind unter den Kriegsunruhen 1813 besonders im November (Befreiung Lübecks durch schwedische Truppen, wieder Bernadotte) ganz abgehauen, andre sehr verwüstet; ein trauriges Andenken des Krieges. Auch wurden damals die steinernen Barrieren und Gitter niedergebrochen, und dafür grosse Schanzen, enge Brücken und Pallisadenthöre angelegt (Zwangsarbeit der Lübecker Bevölkerung), wodurch alles Freundliche unsrer Stadteingänge verschwand." (S. 3ff.)

Hier ein aufschlussreicher Absatz über die Einwohnerzahlen Lübecks in der Zeit nach den napoleonischen Kriegen:

"Die Anzahl der Einwohner wird sehr verschieden angegeben. Gaspari, Stein, Galletti schätzen sie auf 32,000 in der Stadt selbst, und mit deren Gebieten auf 45,000. Bei der französischen Zählung von 1811 wurden 25,526 Einwohner der Stadt angegeben. Der Wahrheit am nächsten kömmt wohl die Angabe: früherhin 30,000, späterhin 28,000, jetzt wohl 22-23,000, da viele Einwohner ihren Wohnort auf eine Zeitlang verlassen haben, und die Fremden (Franzosen?) weggezogen sind." (S.170)

Johann Anton hat seinen Wohnort nachweislich nicht „auf eine Zeitlang verlassen". Seine Söhne waren dagegen in Riga, im Russischen Reich.

Jetzt komme ich zu dem Abschnitt, der wichtig ist, was Johann Anton Grimm betrifft: zum Abschnitt über die Post. Damals gab es für dieses Wort den Plural „die Posten", und das mit gutem Grund: Wenn wir heute einen Brief oder ein Paket aufgeben möchten, egal wohin, dann gehen wir zur Post, geben unseren Brief oder unser Paket ab, bezahlen, und fertig. Vor zweihundert Jahren war das anders: Wenn man einen Brief oder ein Paket aufzugeben wünschte, dann musste man erst einmal darüber nachdenken, wohin der Brief oder das Paket sollte. Davon nämlich hing es ab, wohin man zu gehen hatte, um den Brief oder das Paket „expediren" zu lassen. Das wird hier im Buch sehr genau beschrieben:

"Für die Kaufmannschaft, so wie für alle, dienen auch die Posten, deren also hier sogleich Erwähnung geschehen kann.
Es giebt auch hier fahrende und reitende. Die meisten werden expedirt im Schütting in der Mengstrasse dem Schüsselbuden gerade gegen über, nemlich nach Hamburg, Eutin, Holstein, Dännemark, Pommern, Preussen, Schweden.
Nur eine fahrende Post nach Ratzeburg und ins Hannöversche, auch nach Hamburg, mit einem bedeckten Wagen, hat eine eigne Expedition, jetzt in der Königstrasse zwischen der Wahm- und Aegydienstrasse Joh. Qu. Nro. 739 (18) bei dem Postmeister Hr. Tidow.
Auch die reitende sogenannte kaiserliche oder Reichspost des Fürsten von Thurn und Taxis, welche Briefe durch ganz Deutschland u.s.w. ins südliche Europa mitnimmt, geht ab von dem Hause in der Königstrasse neben der Johannisstrasse
Jac. Qu. Nro. 549." (S. 151f.)

Dann wird die „Mecklenburgische fahrende und reitende Post" erwähnt, danach: „Eine ehemalige fahrende Stadtpost auf Hamburg, welche ihr Comtoir hinter dem Markte unter dem Rathause hatte, ist seit dem 1. Jun. 1814 wieder unter Direction des Hrn. Neeser eingerichtet." Und jetzt kommt's:

"Auch seit dem Sommer 1814 geht eine schwedische Postjacht wöchentlich Mittwochs von Travemünde nach Ystadt. Die Anmeldung geschieht bei dem Schwedischen Consul Hr. Grimm, Johannisstr., als Schwed. Post-Director." (S. 152)

Der besseren Übersicht halber werden die einzelnen Poststationen am Ende des Buches noch einmal aufgeführt in dem Abschnitt „Einige Notizen, besonders für Fremde." Da liest man dann auf Seite 238:

"Die Berliner reitende Post, mit Briefen nach Boitzenburg, ganz Preussen, Russland, Sachsen und Oesterreich geht ab: Dienstags und Freitags Mittags; kömmt an: Montags und Donnerstags Nachmittags. Im Schütting.

Die Schwedische Postjacht geht im Sommer wöchentlich Mittwochs von Travemünde nach Ystadt. – Postdirector Hr. Agent Grimm, Johannisstrasse.

Die fahrende Post nach Eutin geht ab: Dienstags ..." und so weiter.

Weiter oben findet man in demselben Abschnitt „Einige Notizen, besonders für Fremde" auch „Consuls und Agenten fremder Höfe". Und da liest man dann diesen Eintrag auf Seite 229:

"Königl. Schwedischer Consul, Hr. Johann Anton Grimm, mittlere Johannisstr."

Johann Anton Grimm war also als schwedischer Konsul auch schwedischer Postdirektor, zuständig für den Postverkehr nach Schweden. Und 1814 ging, so erfahren wir in dem Stadtführer, jeden Mittwoch eine Postyacht von Travemünde nach Ystad ab.

Ab 1815 fuhr die Yacht sogar zweimal die Woche, wie man aus folgender Notiz Johann Antons ersehen kann, die im Lübecker Archiv einzusehen ist, ein Originalpapier, ganz offenbar von ihm selber geschrieben mit seiner schwungvollen Unterschrift, ein vergilbendes Stück Papier, das ich nur mit weißen Schutzhandschuhen anfassen darf:

"Vom 1 Juny an werden, solange die Schiffahrt offen ist, Post=
jagden zweymal wöchentlich zwischen Ystadt, Travemünde
und Lübeck regelmäßig ankommen und abgehen.
Das Porto für die Briefe die mit denselben nach Schweden
und Norwegen abgesandt werden ist 18 ßC, nach Finnland
27 ßC Lübs für das Briefloth. Für diejenigen Briefe
aber die über Helsingborg („durch die dänischen Staaten“, wie es in einer Abschrift heißt, also auf dem Landweg) versandt werden sollen,
bleibt das Porto 1 Taler Species Banco für das Brief=
loth. Königl: Schwedisches Norwegisches Consulat
zu Lübeck d. 27 May. 1815
Joh: Anton Grimm"

Kleiner Exkurs zu den Einheiten: Lot war eine für Briefe damals verwendete Gewichteinheit und hatte in den vielen deutschen Ländern unterschiedliche Werte. In Lübeck entsprach das alte Brieflot heutigen 15,2 Gramm. Wahrscheinlich galt aber 1815 schon das neue Lot, und das entsprach heutigen fünfzig Gramm.

Ein fünfzig Gramm schwerer Brief nach Schweden kostete also 18 Lübische Schilling Courant, das sind in etwa 1,50 €. Interessant, denn zur Zeit kostet ein 50-Gramm-Brief der Deutschen Post nach Schweden ebenfalls genau 1,50 €.

Auf dem Landweg über Helsingborg waren für einen 50-Gramm-Brief drei Taler fällig, das waren 48 Schilling, in heutige Währung umgerechnet vielleicht knapp vier Euro, also deutlich mehr als mit der Yacht auf dem Seeweg.

Einen kleinen Einblick übrigens in die Arbeits- und Sorgenwelt des in schwedischen Diensten stehenden Postdirektors bekommt man bei der Lektüre dieses Schriftstücks, das ich ebenfalls im Stadtarchiv gefunden habe, in Johann Anton Grimms originaler, gestochen scharfer kalligraphischer Handschrift. Es handelt sich um ein Beschwerde-Schreiben an den Lübecker Senat (die vier Bürgermeister und sechzehn Ratsherren), in dem der Postdirektor sein Befremden darüber äußert, dass dem Buchdrucker Borchers untersagt worden sei – wohl vom Senat –, eine Anzeige in die Lübecker Zeitungen „einzurücken“, die für die Seepost nach Schweden wirbt. Vor der Beschwerde eine genaue Darstellung, warum die Schiffsverbindung nach Skandinavien für die Stadt von großer Bedeutung sei:

"Es ist unstreitig eine für die hiesige Stadt und das hiesige Post=
amt sehr einträgliche Sache, daß hieselbst königl. Schwedische Nor=
wegische Postjagden wöchentlich zweymal regelmäßig an=
kommen und abgehen und die Briefe und Paßagiere
zwischen Schweden und hier hin- und her bringen. Das
hiesige Post=amt erhält dadurch eine sehr bedeutende An=
zahl von Briefen zu expediren, welche sonst auf andere
Wegen befördert worden und die Stadt gewinnt hiedurch
und durch die Verzehrung der Paßagiere und Schiffs=
Equipage, ohne auf die andere Seite auch nur den aller=
mindesten Schaden zuhaben; dies und der Gewinn,
der durch schnellere und wichtigere Beförderung der
Briefe auf diesem Wege der Handlung erwächst, liegt
auch klar am Tage.
Von der königlichen Regierung ist mir dahero anbe=
fohlen worden, die Expeditionen dieser Post zu leiten,
und darüber die anliegende Bekanntmachung in den
öffentlichen Blättern einrücken zulaßen. Die In=
serierung dieser Bekanntmachung ist auch bereits
in den hamburgischen und andere öffentlichen
Zeitungen nicht verweigert worden, nur die dem
Buchdrucker

(neue Seite)
Buchdrucker Borchers Einrückung derselben
in den hiesigen Anzeigen, ist nach der Äußerung deßelben
zu meinem nicht geringen Befremden untersagt worden.
Da nun dies vielleicht aus Mißverständniß
geschehen, so ersuche ich Ew. Hochedlen Senat dem
Buchdrucker Borchers anzubefehlen, diese Bekannt=
machung in den hiesigen Anzeigen sogleich einzurücken
oder mir die Ursachen mitzutheilen, warum solches
nicht geschehen dürfe, damit ich der königl. Schwedisch=
Norwegischen Regierung hiervon die erforderliche
Anzeige ungesäumt machen könne.
Mit der vollkommensten Hochachtung habe ich
die Ehre zu beharren

Ew. Magnificenz und Wohlgebohrene!

Ergebenster
Joh. Anton Grimm

Lübeck d. 2 Juny 1815."

(Vollendetes Deutsch ist das nicht gerade.) Wie diese Sache ausging, habe ich leider nicht herausgefunden.
Neben seiner Tätigkeit als Speditionskaufmann und Postdirektor betrieb Johann Anton Grimm auch eine Seifenfabrik, jedenfalls bis zur französischen Besetzung, so steht es in Wihelm Grimms „Lebensskizzen“, so auch in den Lübeckischen Adress-Büchern, in denen seine Seifenherstellung von 1798 bis 1805 erwähnt ist.
Für das Jahr 1798 finde ich seinen Namen als Seifenproduzent auch an anderer Stelle, nämlich im
Fabriken- und Manufacturen-Addreß-Lexicon
von Teutschland und einigen angränzenden Ländern
oder
Verzeichniß der Fabrikanten und Manufacturisten dieser Länder,
der Waaren, die sie verfertigen, und welche Messen sie damit beziehen.
Nach den Waaren alphabetisch geordnet, und mit kurzen Erläuterungen
zur Kenntniß derselben begleitet.
Ein Kaufmännisches Comptoir-Buch.
Weimar,
zu haben im privil. Industrie-Comptoir.
1798.
Da liest man auf S. 229 unter dem Titel „Seife“:
"Seife, grüne, oder schwarze, oder Schmierseife, wird aus Rüböl, Fischthran, schlechten Talg und Aschlauge bereitet. Die Fabriken liefern diese Seife in Tonnen nach dem Gewichte, und zwar zu
… Lübeck: 1) Johann Anton Grimm. 2) Daniel Friedrich Lehmann. 3) Samuel Friedrich Maasch. 4) Hieronym. Johann Pohlmann. ..."
Johann Anton Grimm war 1798 also einer von vier Seifenherstellern in Lübeck. Im Stadtführer von 1814 lese ich:
"Die vorzüglichsten Fabriken sind … (es wird eine Reihe von Manufakturen genannt) ... fünf Seifensiedereien zu grüner und weisser Seife, wovon zwei ausserhalb des Burgthores liegen." (S. 177)
1814 gab es also sogar fünf Seifensiedereien. Mein Ahn gehörte da wohl nicht mehr zu den Betreibern.
Seifensiederei, das wird es wohl eher gewesen sein, was Johann Anton Grimm hatte, nicht das, was wir heute unter einer Fabrik verstehen. Von einer großen Seifenfabrik, wie es sie später in Lübeck durchaus gegeben hat, ist nirgends die Rede.
Seifensiedereien waren kleine Werkstätten. Auf zeitgenössischen Bildern sieht man große Fässer und Wannen, die über offenen Feuern oder Öfen dampfen und um die herum Männer in Schürzen stehen und mit langen Holzpaddeln im Seifensud rühren. Manche Wannen waren im Boden eingemauert und wurden vom Untergeschoss aus beheizt.
Seife wurde aus tierischem Unschlitt, Talg, Knochenfett, Schmalz hergestellt. Diese Fette wurden mit Pflanzenölen vermischt – damals wohl eher Rapsöl („Rüböl“) als die heute üblichen Kokos-, Palm- oder Olivenöle – und mit Wasserdampf aufgeheizt und geschmolzen. Dieser Sud wurde mit Pottasche und Waschsoda versetzt, und durch allerlei weitere chemische Prozesse entstand dann feste Seife, Schmierseife, parfümierte Seife, „grün und weiß, oder schwarz". Geschmolzene Tierfette ... es muss in diesen Werkstätten rechtschaffen gestunken haben!
Ich lese:
"Die beim Sieden erhaltene zähflüssige Emulsion, der Seifenleim, wird mit Kochsalz versetzt. Durch Aussalzen trennt sich die Emulsion in den aufschwimmenden Seifenkern, der die Natriumsalze der Fettsäuren enthält, und in Unterlauge, mit der überschüssigen Lauge, Glycerin und dem gelösten Kochsalz. Der Seifenkern wird durch Abscheidung von der Unterlauge getrennt und mit reichlich Wasser und etwas Lauge aufgekocht, um die restlichen Verunreinigungen herauszulösen. Erneute Aussalzung führt dann zur Kernseife. Das Produkt wird in Blöcken getrocknet, die Blöcke entweder zu Quadern aufgeschnitten oder grob gemahlen, das Mahlgut mit Farb-, Duft-, Füllstoffen angeteigt, auf Walzstühlen kalandriert und ausgewalzt. Die Bänder werden anschließend in einer Heißpresse stranggepresst oder extrudiert, und aus dem Strang werden Formen gestanzt und zu Seifen gepresst."
Verstand Johann Anton das? Kannte er das Verfahren? War er ein Experte? Ich vermute, er kannte zwar das Verfahren, war aber kein Experte. Er vertrieb die Seife als Händler, er war kein Handwerker. Warum er so eine Manufaktur aufgebaut oder übernommen hat? Ich denke, weil sie Geld einbrachte, ganz einfaches kaufmännisches Prinzip.





Archiv 3

Fortsetzung von dem Zettel, auf dem erklärt wird, warum Kind Eduard Wilhelm Tielemann, mein Ururgroßvater, in Riga geboren wurde und nicht in Lübeck.

Ich schlendere gemächlich unter hohen, alten Bäumen an der „Kanal-Trave“ entlang auf die Mühlenbrücke zu, wo früher das Mühlentor gestanden hat. Es ist frühlingsmild, leichter und beständiger Regen rauscht auf meinen Schirm, die Luft herrlich blüten- und erdgesättigt. Hinter der Brücke mache ich einen kleinen Umweg um den Mühlenteich, ich habe genug Zeit. Schließlich wende ich meine Schritte aber doch in Richtung Dom. Ich möchte heute noch einmal ins Archiv. Unter den Blüten der Bäume vor dem Gebäude springe ich gut gelaunt die Stufen zur Glastür hinauf.

Oben im Lesesaal, den Schirm habe ich draußen im Flur zum Trocknen aufgespannt, lasse ich mir von einer wieder anderen Bibliothekarin (oder Archivarin?) noch einmal den dicken Karteikasten (Nr. 112 „Greveman“ bis „Griver“) geben. Ich suche die Karteikarte vom 21. Oktober 1794, finde sie, hole sie heraus, lese wieder „verte“ – jetzt weiß ich, was es bedeutet – und drehe die Karte um. Da steht – und ich wiederhole hier die Vorderseite:

Vorderseite: Grimm Johann Anton 1794
Kauffmann Okt. 21

„Auf Verlangen und Consens des Herrn Pastor
Peter Hei rich Petersen, ist dieses Beygefügtes Zettel
dieses Kirchenbuch eingeschrieben“ ….
„Der Herr Grimm ist diesen Sommer mit seiner
Ehe-Frau zum Besuch nach Riga gereiset gewe=
sen, zur See hat sie sich nicht Begeben wollen,
und zu Lande hat sie nicht reißen können, weil in
der umliegenden Gegend diesen Sommer Unruhen
ausgebrochen, sie also ihre Niederkunft (verte,)
N. Jak 7/6 S 176, 198 a V

Rückseite: „.. in Riga gehalten.“
Dazu 1 Zettel: „Ich bitte meinen Sohn, der auf meine
Reise in Riga d.“ 18 September alten, und 29 Septem=
ber neuen Kalenders gebohren und den 29 September
alten, und 10 October neuen Kalenders getaufft, und
den Nahmen Ed. Wilh. Tielemann erhalten, im
Kirchenbuch einzuschreiben. Gevattern hat er in
allen 27 gehabt, wovon die Hauptgevattern ge=
wesen: der würklich Commercienrath H. B. T.
v. Hückelhoven [sein Großvater] Hr. Joh. Friedr. von
Hückelhoven und Hr. Burchard Johann Zuckerbecker
[seine Oncles] und seine Großtante, Frau Aelte=
sten Gerdrute Stuardt geb. Haffstein.“
Joh. Anton Grimm
Mutter Nahme ist: Catharina Grimm
geb. v. Hückelhoven.

27 Paten? Donnerwetter! War das üblich in Riga in reichen Kaufherrenfamilien? Sonst waren doch höchstens drei Paten der Normalfall. Aber die vier „Hauptgevattern“ sind ja vielleicht auch die üblichen Paten gewesen.

Grammatik und Rechtschreibung sind grauenvoll. Ich nehme an, der kleine Angestellte, der die Angaben Johann Antons nachlässig auf die Karteikarte schrieb, ist der Schuldige: „der auf meine Reise … gebohren“, „in allen“ statt „in allem“, auf der Vorderseite „dieses Beygefügtes Zettel“, „Hei rich“, Oktober mal mit k, mal mit c. „Nahme“, „gebohren“, „getaufft“, Kauffmann“ waren wohl gängige, zumindest mögliche Schreibweisen.

Ich fasse zusammen und hoffe, dass meine Interpretation so stimmt:

Am 21. Oktober 1794 – Datum oben rechts auf der Vorderseite – gibt der Vater – V unten rechts auf der Vorderseite – an, warum das Kind am 29. September (nach mitteleuropäisch gregorianischem Kalender und nicht russisch julianischem Kalender) in Riga geboren und am 10. Oktober ebendort getauft wurde mit Nennung der Hauptpaten und der Mutter. Er hat darum gebeten („auf Verlangen“), diese Angabe in ein Lübecker Kirchenbuch einfügen zu lassen, und das ist im Konsens mit Pastor Petersen geschehen. Oder hat der Pastor das verlangt?

Ein anderes Dokument:

Im „Bürger Eyd=Buch Ao. 1763 bis Ao. 1800“ – nur mit weißen Baumwollhandschuhen anzufassen – lese ich auf Seite 305 unter der Überschrift „Ao. 1789 d. 22 Mai“ (kalligraphische Handschrift) an zweiter Stelle von sieben an dem Tag: „Joh. Ant. Grimm ein Kaufmann“.

Bereits eine Woche davor, am 14. Mai desselben Jahres, so wird auf einer Karteikarte erwähnt, ist Johann Anton Grimm zum Bürger der Stadt Lübeck ernannt worden. Auf der Karte steht dieser Akteneintrag:

Grimm, Johann Anton
Kaufmann
1789 Mai 14 Bürger
Gebühr (fehlt)
Bürgen: Johann Christian Rohde
Johann Friederich Ulff
Bürg. Ann. B. 1633 ff. S. 103i

Gegen eine – unbekannte – Gebühr ist unser Ahn also am 14. Mai 1789 Bürger der Hansestadt geworden, ein oder zwei Jahre nach seinem Zuzug aus Riga. (Noch in einer Aktennotiz von 1788 finde ich ihn als „Kaufmann von Riga“.) Für diesen Akt zur Erlangung der Bürgerrechte brauchte man zwei Bürgen, hier die beiden Herren Rohde und Ulff. (Zweimal finde ich ihn übrigens später selber als Mitbürgen.) Der entsprechende Eid, den er geleistet hat, ist mit Datum vom 22. Mai 1789 zusammen mit sechs anderen in das Bürgereid-Buch eingetragen worden.

Zum Schluss lasse ich mir die Aktenübersicht der Schonenfahrer-Kompanie aushändigen, eine thematisch, leider nicht chronologisch, geordnete Sammlung aller erhaltenen Aktenvermerke dieser Kaufmannsgilde ab 1378. Für die Jahre 1788 bis 1828 finde ich alles mögliche über Maßnahmen, Geschäfte, Beschwerden, Rechtsstreitigkeiten, sogar über Aktivitäten mit Schweden und der schwedischen Post. Aber der Name Grimm taucht nicht ein einziges Mal darin auf. Wenn er also Mitglied der Schonenfahrer war und als solches regelmäßig den prachtvollen, stolzen Schütting an der Ecke Fünfhausen/Mengstraße betrat, dann geht das aus diesen Akten nicht hervor.

Und Akten der Lübecker Handelskammer, aus denen Wilhelm Grimm, wie er in seinen „Lebensskizzen“ schreibt, die Information hat, dass Johann Anton ein Schonenfahrer und sogar deren Ältermann war, solche Akten gibt es nicht, denn die Lübecker Handelskammer wurde 1853 ins Leben gerufen, existierte also erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts, jedenfalls unter diesem Namen. Welche Akten Wilhelm Grimm meint, in denen er das mit der Mitgliedschaft im Schonenfahrer-Kollegium hat, ist mir nicht klar.







Die Reederei

Johann Antons Sohn Eduard Wilhelm Tielemann, der Bürgermeister, gründete zusammen mit seinem Schwager John Helmsing 1836 in Riga die Reederei Helmsing & Grimm. Von dieser Reederei finde ich irgendwo im Internet, dass sie über hundert Jahre später, 1940, nach Danzig umzog und sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Hamburg niederließ. 1961 beging man ein 125-jähriges Jubiläum. Ob es da noch irgendeinen Helmsing oder Grimm in der Firmenleitung gab? Und heute? Gibt es die Reederei noch? Es wäre ja schon nicht uninteressant, die Geschichte dieses Unternehmens etwas genauer zu erfahren, auch wenn das mit Johann Anton direkt nichts zu tun hat.

Bei uns in Hamburg kennt man Gröninger. Gröninger ist ein beliebtes Restaurant, beliebt auch deswegen, weil es sein eigenes Bier braut. Ein schönes, neo-barockes Haus, leider an der brutal verkehrsdonnernden, die Altstadt zerschneidenden Ost-West-Straße, Ecke Brandstwiete, in unmittelbarer Nähe zum alten „Spiegel"-Gebäude; heutige Adresse: nicht mehr Ost-West-, sondern Willy-Brandt-Straße 47.

Man kennt Gröninger, man kennt aber nicht das Asia-Haus gleich nebenan, Willy-Brandt-Straße 49. Zu Unrecht: Das Asia-Haus ist ein gut erhaltener und gepflegter Bau aus der Jahrhundertwende mit einer feinen Jugendstil-Fassade. Man beachtet sie kaum, weil man in der Regel mit dem Auto auf der sechsspurigen Ost-West-Straße daran vorbeisaust.

Ich betrete ehrfurchtsvoll das Haus und gelange in eine weite, großzügige Eingangshalle, heller Lichthof, freundlich, gediegen, mit dem Charme des Alten: gelegentlich kleine Risse im dezent farbigen Jugendstil-Boden, typisch hamburgisch, nämlich unaufdringlich vornehm. (Englisches Understatement. Ist Hamburg englisch? No.) Nur zwei Firmen in dem fünfstöckigen Gebäude. Ein Bürohaus mit dieser alt-gediegenen, zurückhaltend vornehmen Ausstrahlung, was für Firmen können in so einem Hamburger Haus nur untergebracht sein? Reedereien.

Ich suche die Reederei Helmsing & Grimm GmbH & Co. Wenn man diesen Namen im Internet sucht, findet man ihn in mehreren Portalen angegeben als Reederei mit Sitz in der Willy-Brandt-Straße 49, 20457 Hamburg, Telefonnummer 337 435, Fax 321 330. Auf der meterhohen Übersichtstafel in der Eingangshalle sehe ich aber nur „MCS Germany GmbH" (Untergeschoss bis 2. Stock) und „F.H.Bertling Reederei GmbH" (3. bis 5. Obergeschoss), jedoch keine Helmsing & Grimm GmbH & Co. Gehört die vielleicht zu einer der beiden hier ansässigen Reedereien, vielleicht aufgekauft? Ich wähle auf dem Handy die Telefonnummer. Keine Antwort. Ich gehe dann durch die große Glastür zum Empfang der Reederei MSC Germany. Zwei überaus freundliche Rezeptionistinnen schütteln den Kopf. „Helmsing & Grimm? Das haben wir hier nie gehört. Aufgekauft? Davon wissen wir nichts." Die eine schaut gleich auf ihrem Computer-Monitor nach. „Tatsächlich", murmelt sie überrascht, „unsere Adresse." Die andere nimmt den Telefonhörer vor sich auf dem Tresen in die Hand und wählt die Nummer, die auch ich schon kenne. Sie schüttelt den Kopf. „Nimmt keiner ab." Ich solle doch mal oben bei der Reederei Bertling nachfragen, vielleicht wüssten die etwas.

Ich steige die breite Treppe am Lichthof entlang zum dritten Stock hinauf. Die Glastür dort ist verschlossen, dahinter sehe ich geschäftiges Treiben. Ein Mann kommt an die Tür. Seine Reaktion wie die der Empfangsdamen unten bei MCS Germany: Kopfschütteln, nie gehört, Bedauern. Ich bedanke und verabschiede mich, bin verwirrt. Ich war ja schon verwundert, dass die Reederei keine Website hat und auch keine E-Mail-Adresse. Sehr rätselhaft. Eine Briefkastenfirma ohne Briefkasten? Ich bin hier doch wohl nicht einem windigen Betrugsunternehmen auf der Spur? Stoff für einen Krimi: Ahnungsloser Familienforscher gerät zufällig in die Hände von weltweit agierenden Gangstern.

Ich nehme mir vor, die Telefonnummer noch mehrmals anzuwählen und auch mal auf den Anrufbeantworter zu sprechen. Wenn das nichts nützt, faxe ich. Was kann ich sonst tun? Das Handelsregister abfragen? Um was herauszufinden? Das, was ich ohnehin schon weiß: Danzig 1940, nach dem Krieg Hamburg? Oder glaube ich im Ernst, einen Herrn Helmsing oder gar einen Herrn Grimm anzutreffen? Wohl eher einen Paten.

Drei Monate später:

Nachdem ein freundlicher junger Mann mir bei der telefonischen Auskunft der Handelskammer Hamburg mitgeteilt hat, dass er in seinem System keine Reederei Helmsing & Grimm finden könne, weder eine existierende noch eine existiert habende, versuche ich es, so empfiehlt es mir der freundliche junge Mann, auf der Homepage der Handels- und Vereinsregisterauskunft der Freien und Hansestadt Hamburg. Dort lese ich dies:

Das Amtsgericht Hamburg bietet die Möglichkeit, Einsicht in das Handelsregister sowie das Genossenschafts-, Partnerschafts- und Vereinsregister zu nehmen. Sie erhalten authentische Daten aus dem amtlichen Register, da die Recherche auf den Echtdatenbestand zugreift.

Anmeldung: Zur Teilnahme an der Registerauskunft ist nach der Registrierung beim Hamburg-Service eine weitere Registrierung beim Amtsgericht Hamburg erforderlich. Die Nutzung der Registerauskunft ist gebührenpflichtig.

Lohnt sich das? Ich beschließe hiermit: Die Reederei Helmsing & Grimm gibt es nicht mehr.

(Viel später entdecke ich durch einen Zufall, dass "Helmsing & Grimm" einen Artikel bei Wikipedia hat.
Darin steht alles: Mitte 2011 Verkauf der letzten drei Schiffe, Streichung im Handelsregister im März 2012.)














Altstadtspaziergang

Heute ein Besuch der Altstadtinsel mit Führung. Ziel: Für die Szenarien in den folgenden Kapiteln die Atmosphäre erahnen, in der Johann Anton gelebt hat.

Jeden Sonnabend wird eine Führung angeboten, Treffpunkt elf Uhr vor dem Touristenbüro am Holstentor, acht Euro pro Person, keine Anmeldung nötig. Ich mache die Führung im März, nur Hamburg hat Schulferien, daher hoffe ich, dass die Teilnehmerzahl nicht groß ist, werde darin enttäuscht: Ein Pulk von sechzig, wenn nicht siebzig Menschen wälzt sich hinter dem älteren Herrn her, der sich redlich bemüht, gegen den uns umtosenden Straßenlärm am Holstentor anzusprechen.

Natürlich ausführliche Beschreibung des Tores, Wahrzeichen Lübecks, das Johann Anton sehr gut gekannt hat. Zu seiner Zeit gab es noch zusätzlich, von der Stadt aus gesehen gleich hinter diesem Trutz- und Repräsentationsbau, das „Krumme Tor“, das zweite von ursprünglich sogar drei hintereinander stehenden Holstentoren. Ich verzichte auf die touristenführerische Beschreibung. Dafür dies: Johann Anton erlebte noch Sperrstunden und die Gebühren („Taxen“), die zu entrichten waren, wenn man durch das Tor in die Stadt hineinwollte. Im Stadtführer von 1814 lese ich:

"Die Sperre beginnt jedesmal eine halbe Stunde vor dem eigentlichen Thorschlusse, im höchsten Sommer um 9½ Uhr, in den kürzesten Tagen um 4½, und dauert im Sommer bis 12 Uhr. Der Anfang und die Dauer ist am Thore auf einem Brette angeschrieben, und die Tabelle fürs ganze Jahr in den grössern Calendern abgedruckt.
Die Taxe ist verschieden, je später die Stunden sind, und vergrössert sich nach 10 und 11, im Winter nach 9 Uhr. So bezahlen
jeder Fussgänger . . . . . . . . . . 2, 3, 4 Schilling
Reuter . . . . . . . . . . . . . . 4, 6, 8 –
leere Wagen mit 2 Pferden . . 4, 6, 8 –
mit mehrern Pferden . . 8, 12, 16 –
Ein Fuhrwerk mit Personen
mit 2 Pferden . . . . . . . . . 8, 12, 16 –
mit 4 Pferden . . . . . . . . .16, 24, 32 –
jedes lose Pferd . . . . . . . . . . 1, – , 2 –"

Zwei bis vier Schilling für das Durchschreiten des Stadttores, dafür bekam man, so lese ich an anderer Stelle, ein halbes Pfund Butter oder zehn Eier oder ein Pfund Rindfleisch oder etwas weniger als ein Pfund Schweinefleisch, das damals teurer war als Rind. Oder – allerdings mit großem Vorbehalt – in heutiger Kaufkraft der damaligen Währung: Der Fußgänger bezahlte, je nach Uhrzeit, zwischen rund 1,50 € und 3 € für das Betreten des Weichbildes, ein Reiter zahlte zwischen 3 € und 6 €, und der Kutscher eines Vierspänners, auf dem gute Ware geladen war, musste zwischen 13 € und 25 € berappen, Geld, das ihm natürlich von dem Kaufherren, dem die Ware gehörte oder für den die Ware bestimmt war, erstattet wurde.

Wir folgen dem Führer hinüber zu den sechs Salzspeichern, den typischen Backsteinbauten mit den Treppengiebeln, selbstverständlich denkmalgeschützt, und wir erfahren, dass sie den Beginn des Lübecker Reichtums symbolisieren: Hier lagerte damals, im 13. und 14. Jahrhundert, das Salz aus Lüneburg, mit dem die in der Ostsee gefangenen Heringe haltbar gemacht und in alle Welt verkauft wurden.

Wir gehen die Obertrave entlang, noch auf der Seite gegenüber der Altstadt, vorbei an der vollbärtigen, dynamisch und fröhlich – Hut in der Hand – nach vorn weisenden Bronzefigur, die die meisten für Karl Marx halten, die aber in Wirklichkeit Johannes Brahms darstellt, nach dem das Brahms-Institut an der Musikhochschule benannt ist. Hinter einer Fußgängerbrücke über die Trave betreten wir schließlich die Altstadt. Blick in das Foyer der Musikhochschule: Frühere Eingangshalle, „Diele“ genannt, eines Kaufmannshauses. Man sieht schön in sieben, acht Metern Höhe die Luke, durch die die Waren an einem Eisenhaken auf den Dachspeicher gehievt wurden; unten war kein Platz für Säcke, Kisten, Fässer, Ballen.

Die Große Petersgrube hinauf. Repräsentative Häuserfassaden, hier lebten in der Blütezeit die ganz Reichen, um 1800 schon nicht mehr. Nirgends sehe ich die über die Bürgersteige bis an den Kantstein ragenden Haustürtreppen, die Ludwig Ewers erwähnt, denen man früher über die Fahrstraßen ausweichen musste, und keine gefährlichen Kellerluken auf den Gehwegen. Das hat das moderne Sicherheitsdenken abgeschafft. Dennoch bewegt sich die Besucherherde nur langsam über das Kopfsteinpflaster die Straße hinauf. Hier ist kein Verkehr, kein Fahrzeug wird durch uns gestört. Oben stoßen wir auf den Kolk, eine enge Gasse, links bergauf, rechts bergab.

Bergauf, bergab, das fällt auf an der Altstadt: Die aus Trave und Wakenitz gebildete Insel Lübeck – zu Johann Anton Grimms Zeiten noch eine Halbinsel – ist eine gewölbte Geesthöhe (Endmoränenhügel in einer Grundmoränenlandschaft), die sich relativ steil erhebt, die höchste Stelle im Zentrum am Rathausplatz.

Am oberen Ende der Großen Petersgrube bewegt sich der Trupp langsam rechts den Kolk hinab. Ich werde von der Gasse links angezogen und gehe hinauf, unterhalb der Petrikirche, will gleich wieder zurück zu meiner Gruppe. Links ab, steil bergab wieder Richtung Obertrave, sehe ich die noch engere Kleine Petersgrube. Ich gehe hinein, stiefele über das grobe Kopfsteinpflaster. Stille, nur meine Schritte sind zu hören, kein Auto, kein Fahrrad, kein Mensch. Nur ich in der baumlosen Gasse zwischen den Hauswänden, die mittelalterlichen Fassaden in gutem Zustand. Ich fühle mich wie in einem Museumsgang. Beschließe, dass der Protagonist meiner Szenarien hier in dieser „Twiete“ wohnen wird, am besten dort unten nahe der Obertrave, so dass er von dort ins Stadtzentrum die ganze Gasse bergauf gehen muss. Ich gehe nicht ganz hinunter, will zurück zur Führung, bleibe jedoch stehen vor einem Toreingang mit einer Spruchtafel darüber (19. Jahrhundert?): „Il n'est rose sans épine“. Mir fällt dabei ein, dass Rosen keine Dornen haben, sondern Stacheln, also eigentlich: keine Rose ohne Stachel. Ein paar Eingänge weiter entziffere ich:

Vhar (?) dine estinge (?) mit flit (Fleiß),
und truwe godt, De segenet alle tidt.
1587

Bedeutung? Wahre deine Dinge (?) mit Fleiß? Selbst die Fachabteilungen für Mittelniederdeutsch an den Instituten für Niederdeutsch der Unis Kiel und Hamburg, bei denen ich später nachfrage, können den Spruch nicht deuten, und auch nicht der Hamburger Mediävist. Ich vermute ein typisches Kaufmannsmotto: Den Fleißigen wird Gott segnen (und reich machen).

Ich gehe zurück zum Kolk und suche meine Gruppe, finde sie leicht, die Herdenwanderung ist sehr langsam. Der Führer kennt die Tafel mit dem Kaufmannsmotto nicht, weiß nur das, was er für seine Führungen gelernt hat. Marlesgrube (die Gassennamen auf -grube waren einstmals wirklich Abwassergruben zur Trave hin) wieder hinunter, links sehen wir die „Düstere Querstraße“, die sich weiter hinten fortsetzt in die „Lichte Querstraße“. Jetzt rechts in einen extrem schmalen Gang hinein, nur einzeln zu betreten, durch den Toreingang muss man sich bücken. Wir durchqueren kleine Innenhöfe mit Haustüren in hübschen, sauberen, hellen Häuschen, Wand an Wand gebaut.

Diese Nebengänge – so charakteristisch für Lübeck – waren ursprünglich die Gemüsegärten der Kaufleute. Selbstversorgung war das Übliche. Als dann später das Gemüse von auswärts in die Stadt gebracht und auf den Märkten verkauft wurde, verschwanden die Gärten, und die Kaufleute ließen für ihre Angestellten kleine Häuser bauen. Heute sind diese Seitengänge trotz ihrer Enge immer noch bewohnt, aber da die Häuser so klein sind, durchschnittlich 35 Quadratmeter Wohnfläche, sind es Alleinstehende, die darin leben, Studenten, kleine Büros sind darin, Ateliers, Töpferwerkstätten. Die meisten sind in tadellosem Zustand, teilweise eben Touristenattraktionen. Das waren sie zu Johann Anton Grimms Zeiten aber noch nicht.

Noch etliche weitere Gassen und Gässchen, viel Backstein und Treppengiebel, aber überraschenderweise doch nicht alles restauriert. Wir kommen auch an einigen vernachlässigten, gefährlich bröckelnden Hauswänden vorüber.

Schließlich, auf der Höhe des Geestrückens, der Rathausplatz: Hier vor uns die mittelalterlichen dunklen Rathauswände mit dem Stilbruch des weißen Renaissance-Anbaus, dort drüben, mächtig und beeindruckend, wunderschön, die beiden gotischen Backsteintürme der Marienkirche. Beides Anblicke, die meinem Ahn vollkommen vertraut waren.

Die Führung endet mit einer Rathausbegehung. Ich verzichte auf eine Beschreibung des Gebäudeinneren, denn als der Schonenfahrer-Ältermann Grimm im Rathaus als Bürgerschaftsvorsitzender agierte, sah es, mit wenigen Ausnahmen, ganz und gar anders aus als heute, nicht die Außenmauern, aber die Räume im Innern.

Nach der Rathausführung gehe ich, jetzt allein, hinüber zur Marienkirche. Ich versuche mir vorzustellen, wie die Kirche auf meinen Vorfahren gewirkt haben könnte. Sie war der Stolz der Stadt: Im ausgehenden Mittelalter die größte Kirche an der Ostsee, bis zur Fertigstellung des Kölner Doms (1880) die Kirche mit den höchsten Doppeltürmen der Welt (Altstadtführer). Alle Hansestädte hatten ihre Kirchen nach dem Modell Lübecks gebaut, dieser „Königin der Hanse".

Ich frage mich: Hat auch Johann Anton Grimm, der Nicht-Lübecker, Stolz empfunden beim Anblick dieser Kirche? Als Wismaraner wohl kaum. Aber mit Sicherheit war er so beeindruckt wie wir Heutigen. Ich denke mir: Wer in irgendeiner Hansestadt vor der zentralen Kirche stand, in Wismar oder Rostock oder Danzig vor der Marienkirche – viele Hansestädte haben sich auch den Lübecker Kirchennamen zum Vorbild genommen –, in Stralsund oder Greifswald vor der Nikolaikirche, in Riga vor der Petrikirche, der bewunderte die Architektur, aber sagte sich: Die Lübecker haben eine noch großartigere Kirche, die großartigste überhaupt. Mit diesem Gefühl der Bewunderung dürfte Johann Anton vor der Kirche gestanden haben, so wie ich jetzt. Vielleicht Stolz, dass er in der alten Hauptstadt der Hanse, die eine solche Kirche errichtet hatte, lebte und arbeitete.

Ein Müllwagen bremst zischend neben mir im Schüsselbuden (Straßenname, dort wurden im Mittelalter in Bretterbuden Schüsseln feilgeboten: Altstadtführerauskunft). Ich trete zur Seite, laut klappernd werden Mülleimer entleert. Eine Feuerwehrsirene schrillt vorbei, anfahrende Motoren an der Ampel, ein ungeduldiges BMW-Cabrio hupt wütend einen Motorroller an, Geschimpfe. Ich verlasse diese Kreuzung vor der Marienkirche und schlendere die Braunstraße hinunter zur Trave, hier nicht Ober-, sondern Untertrave. Riesige Baustelle bis zur Marienkirche hoch, Bagger knirschen brummend und krachend über Geröll. (Wie ich später erfahre, verwirklicht sich hier, im sogenannten Gründungsviertel zwischen Marienkirche und Unterer Trave, das städtebaulich richtungsweisende Projekt eines Wohn- und Geschäftsquartiers nach historischem Vorbild.) Die Sonne kommt heraus, blaue Flecken im Wolkenhimmel, weiße Kondensstreifen kreuz und quer in den Wolkenlöchern. Für uns ein gewohnter Anblick, unbekannt vor zweihundert Jahren.

Ich gehe zum Museumshafen und spaziere an der Kaimauer an der Trave entlang. Hier war Lübecks Hafen. Früher muss an dieser Stelle einiges los gewesen sein, hier wurden die Güter der Ostseewelt umgeschlagen. Sicher viel Lärm, anderer Lärm als jetzt, denke ich, andere Farben, andere Gerüche. Ich klappere die paar Segelkutter ab, die den Museumshafen ausmachen, Hinweisschilder vor den Kuttern: Name des Bootes, Baujahr, Herkunftswerft, Bauart, Typenname, Betakelung, Eigner, Länge, Höhe der Masten, und so weiter. Entlang dieser Schiffe braust der Lübecker Autoverkehr. Ich habe Schwierigkeiten, mir den Hafen von 1800 vorzustellen. Was sah Johann Anton, wenn er hier ging? Was hörte er? Was roch er? Was empfand er? Was übersah, überhörte er, weil es Gewohnheit war? Was stieß ihm auf? Was freute ihn, ärgerte ihn? So tief in die Zeit einzudringen wird mir in den Szenarien kaum gelingen.

Ich schreibe mir die Namen der Schiffe auf. Hatte ich mehr von dem Museumshafen erwartet? Was soll man sich unter einem Museumshafen vorstellen?

Jetzt in die Fleischhauerstraße. Nach einer Konkordanz im Stadtarchiv ist Haus Nummer 83 – wo Johann Anton die letzten Jahre seines Lebens gewohnt hat und gestorben ist – heute die Nummer 51. Ich ahne, dass das Haus nicht mehr existiert, sehe das schon von weitem bestätigt. Enttäuscht stehe ich vor einem langweiligen Klinkerhaus der Fünfzigerjahre, ordentlich, aber die typisch nüchterne, einfallslose Architektur der Nachkriegszeit. Ich fotografiere das Haus, weiß aber nicht recht warum. Immerhin, hier ist er täglich hin und her gegangen.

Parallel zur Fleischhauerstraße die Dr.-Julius-Leber-Straße, die bis 1946 Johannisstraße hieß. Nummer 25, vor zweihundert Jahren Johannisstraße 11. Ist dies das Haus, in dem Kaufmann Grimm von 1807 bis 1824 wohnte und sein „Comptoir“ hatte? Oder ist es erst später gebaut worden? Ein großer, zweistöckiger Bau, schmuddelig-weiß, klassizistisch (neo?), unter der Dachtraufe eine Reihe von Akanthusblättern im Wechsel mit kleinen Rosetten. Solche flachgiebligen klassizistischen Häuser sehe ich mehrfach in Lübeck, meist renoviert, sauber, schön, dieses dagegen ist ausgesprochen ungepflegt. Wenn man die Straße hinauf- oder hinabblickt, sieht man viele gut erhaltene Fassaden, ausgerechnet diese ist es nicht. Untergebracht in dem Haus ist das „Volkstheater Geisler“, laut Eigenwerbung „das Original im Herzen der Lübecker Altstadt“. Zur Zeit spielt „der Komödienerfolg aus Frankreich: Meine Braut, sein Vater und ich“, demnächst der Schwank „Der keusche Lebemann“, vor kurzem trat eine Lucy van Kuhl auf, die „exzellentes Klavierspiel mit kabarettistischem Gesang“ verband, bald gibt es „Michael Fitz: Liedermaching“.

Frage: Wann wurde das Haus erbaut? Kannte unser Ahn diese Fassade? Ich versuche die Eingangstür zum Theater zu öffnen. Verschlossen. Durch das Türglas sehe ich, alles ist dunkel. Ich suche die Fassade ab, ob irgendwo eine Jahreszahl zu sehen ist: Nichts, kein Wappen, keine Relieffigur, kein Sinnspruch, keine Jahreszahl, nichts. Wie kann ich herausbekommen, aus welcher Zeit das Haus stammt? Rufe ich Herrn Geisler an, den Betreiber des Theaters? Ich schreibe mir die Telefonnummer auf. Und sonst? Eine Behörde der Stadt Lübeck? Amt für Stadtentwicklung? Bauamt, historische Abteilung? Kulturamt? Denkmalschutz? Ich suche im Handy alle möglichen Ämter der Hansestadt durch.

Plötzlich geht die Theatertür auf. Ein etwas linkisch wirkender Mann mittleren Alters kommt heraus, hantiert ein wenig an den Plakaten herum. Er gehört offensichtlich zum Theater. Ich gehe auf ihn zu und spreche ihn an. Seine Reaktion deutlich desinteressiert, fast abweisend: Dort am Fassadenrand über dem Tor zu einem Nebengang stehe etwas geschrieben, da könne ich nachlesen. Er verschwindet wieder hinter der Tür und schließt sie fest zu. Ich finde eine verwitterte Tafel über dem Tor und lese mit Mühe etwas über den „Abzug des Wassers aus den Kellern in dieser Gasse und diesem Hause“ und „Anno MDCCXIV“. Hat das Haus schon 1714 hier gestanden? Unwahrscheinlich, dann wäre es nicht so klassizistisch.

Jetzt wähle ich die Zentralnummer der Hansestadt Lübeck: 0451 122 0. Eine sachlich-nüchterne Frauenstimme stellt mich zum „Amt für Archäologie und Denkmalpflege“ durch. Ich warte. Dann meldet sich eine Frau, schätzungsweise zwischen vierzig und fünfzig (Man kann an der Stimme ein Alter erkennen), noch sachlich-nüchterner, sogar ungeduldig: „Ja?“ Ich bin zumindest an der richtigen Stelle, und auf meine Frage sagt die Frau, die offenbar gerade mit etwas Wichtigerem beschäftigt ist, sie schaue schnell mal nach. Immerhin. Ich warte, sehr gespannt. Dann, überraschend schnell: „Dr.-Julius-Leber-Straße 25, gebaut Ende des 18. Jahrhunderts.“

Mein Herz macht einen Sprung. Ende des 18. Jahrhunderts? Dann ist es Johann Antons Haus! Er ist am 14. Juni 1807 als Mieter hier eingezogen. Da war das Gebäude gerade zehn oder zwanzig Jahre alt.

Der kleine Finger wurde mir gereicht, jetzt will ich den ganzen Arm und frage gleich nach: „Ist nur die Fassade aus dem 18. Jahrhundert oder auch das Innere?“ Das könne sie mir jetzt nicht sagen, höre ich. Wo ich das in Erfahrung bringen könne, will ich wissen. Da sei ich schon richtig im Amt für Denkmalpflege, genauere Informationen seien aber nicht möglich, werde ich beschieden, wofür ich das denn bräuchte. Ich erkläre mein bescheidenes Anliegen und erfahre: „Nein, nein, solche Anfragen sind wir hier nicht in der Lage zu bearbeiten, dafür haben wir keine Zeit, wir haben anderes zu tun. Ende 18. Jahrhundert, das muss Ihnen reichen.“

Hätte ich dreist, statt von meinem kleinen Ahneninteresse zu sprechen, sagen sollen, ich wolle das historische Gebäude käuflich erwerben und den ursprünglichen Zustand wiederherstellen? Ich hätte gern gewusst, welche Auflagen mir das Amt mache und ob ich mit einer fachlichen und finanziellen Unterstützung für die Restaurierung rechnen könne? Dazu bin ich zu ehrlich, zu naiv. Macht nichts. Ich weiß jetzt: Mindestens diese Fassade, sicher in besserem Zustand, kannte er, mein Urururgroßvater.

Und wie sieht das Innere aus? Ich müsste einmal in das Haus hinein. Aber wie? Warten bis zur Öffnung der Abendkasse? Da bin ich längst wieder in Hamburg. Und in die oberen Stockwerke wird mich der so desinteressierte Herr Geisler ohnehin nicht lassen.

Aber auch das ist nicht schlimm. Ich vermute sowieso, dass im Hausinneren nichts erhalten ist, da wird in zweihundert Jahren viel umgebaut worden sein. Wie so ein Kaufmannshaus innen aussah, das kann ich auch anderweitig erfahren. Begnüge ich mich damit: Die Fassade war Johann Anton Grimm vertraut, er wohnte siebzehn Jahre in dem Haus.

Ich gehe jetzt die Dr.-Julius-Leber-Straße wieder zurück, vorbei an einem türkischen Gemüseladen, an einem Kiosk, wahrscheinlich auch türkisch. Dann ein Treffpunkt-Café mit arabischer Schrift auf der Schaufensterscheibe, mehrere Büro-Eingänge, der Bürgersteig stellenweise uneben, schadhaft, Schmutz auf dem Boden, leere Zigarettenschachteln. Langsam fährt ein Lieferwagen die enge Straße mit dem Kopfsteinpflaster an mir vorbei, biegt ab in die Königstraße. Ich gehe weiter bergauf zur Breiten Straße und von da rechts zu dem Abschnitt, in dem die Geschäfte sind, Karstadt, H & M, Nordsee, Back-Factory, Commerzbank, Deichmann, jede Menge Boutiquen, Fußgängerzone, Einkaufspassage. Ich fühle mich abgestoßen, kein einziges Altstadthaus, vom prächtigen Bau des Dr. Schetelig, in dem Prinzessin Josefina genächtigt hat, keine Spur mehr. Ich könnte mich hier auch in Hannover befinden, oder in Ingolstadt, oder in Castrop-Rauxel.

Weiter die Breite Straße hinunter auf der Suche nach dem Haus Nummer 32. Dort, damals Breitenstraße 702, ist Johann Antons erste Wohnung belegt, dort hat er bis ca. 1806/07 gewohnt, mindestens ab 1798, wenn nicht seit seinem Zuzug aus Riga 1787/88. Ich finde einen typischen Bau aus der Wende zum 20. Jahrhundert, Stuckverzierungen an der Fassade. Das ist nicht das Haus meines Ahns.

Weiter in die Fischergrube, wo er kurze Zeit gewohnt hat, bevor er 1807 in die Johannisstraße gezogen ist. Ich suche jetzt die Hausnummer 50, früher 333. Diesmal treffe ich auf eine schlichte, schmucklose Fassade, aber gepflegt. Ob so das Haus vor zweihundert Jahren ausgesehen hat, bezweifle ich. Aber das Gebäude selber, das sich hinter der Fassade verbirgt, das könnte in seinem Grundbestand durchaus aus der Zeit meines Ahns sein. Eine alte Frau, die gerade die Tür öffnet, um einen auf dem Bürgersteig stehenden Mülleimer in die Hausdiele zu ziehen, spreche ich an. Auf meine Frage, ob sie mir etwas über das Alter des Hauses sagen könne, antwortet sie: „Nein, ich weiß es nicht. Mein Mann sagt immer, drei- bis vierhundert Jahre.“ Ob ihr Mann da recht hat?

Ich schlendere noch ein bisschen weiter, um das Altstadt-Flair zu genießen, und komme durch Straßen wie die Engelsgrube, Engelswisch, Ellerbrook, Schwönekenquerstraße, Böttcherstraße, Hüxstraße, Depenau, Dankwartsgrube, Hartengrube, Effengrube, Alfstraße, Mengstraße (die berühmte mit dem Buddenbrookhaus), Beckergrube, und die vielen schmalen Seitengänge, die vor sechshundert Jahren Gemüsegärten waren: Garbereiter-Gang, Zerrahns Gang, Bäcker-Gang, Grüner Gang, Sievers Thorweg, Lüngreens Gang, und so weiter.

Viel ist erhalten aus der Zeit, nach der ich suche, viel ist in gutem Zustand, aber einiges auch marode, einiges verloren. Die Altstadt – dieser Eindruck meines Besuches bleibt hängen – hat vernachlässigte und unansehnliche Ecken, aber es gibt viele, viele Stellen, Häuser, Gassen, Kirchen, Plätze, Durchgänge, Türme, die schön, alt, gepflegt sind und bei denen ich mir vorstellen kann, dass der schwedisch-norwegische Generalkonsul und Postdirektor sie vor zweihundert Jahren genau so gesehen, genau so durchschritten hat.










Szenarien

Nachdem ich bisher in diesen Aufzeichnungen Material zusammentragen konnte über meinen Ahn und über das Lübeck von vor zweihundert Jahren, möchte ich jetzt mit Hilfe dieses Materials kleine Szenarien entwerfen. In diesen Szenarien habe ich vor, Geschichten zu erzählen, kurze historische Geschichten, und zwar die Geschichten von Besuchen in Lübeck am Anfang des 19. Jahrhunderts, natürlich beim schwedischen Konsul und Postdirektor Herrn Grimm in der Johannisstraße Nr. 11. Das werden Geschichten mit kaum besonderen Handlungen sein, es wird Gänge geben durch die Straßen und Gassen Lübecks, einen Blick hier, einen Eindruck dort, Ausrufe und Satzfetzen werden aufgeschnappt. Ein paar Gespräche werden geführt. Das ist nichts Dramatisches, nur eben das, was man so erlebt, wenn man mit einem Anliegen zu jemandem geht … jedenfalls ahnt der spazierende Besucher nichts Dramatisches.

Diese Geschichten werden, wie gesagt, Szenarien sein. Ein Szenario beschreibt eigentlich Zukünftiges, ich werde Vergangenes schildern. Aber es werden eben Szenarien sein, historische Szenarien, keine historischen Erzählungen. Das historische Szenario hat gegenüber der historischen Erzählung einen großen Vorteil: Das Szenario behauptet nichts, es stellt nur vor. Die historische Erzählung – und das gilt für jeden Roman über historische Personen und Ereignisse – tut so, als hätte sich alles so abgespielt, wie es erzählt wird. Das kann natürlich nicht sein, und Autor wie Leser wissen das auch. Das heißt aber für den Leser: Er weiß nie, was in der Erzählung historisch ist und was ausgedacht. Den historisch interessierten Leser ärgert das, denn wie gut die Geschichte recherchiert ist, weiß er nicht. Und was der Autor sich ausgedacht hat, interessiert ihn nicht.

Das historische Szenario dagegen tut keineswegs so, als wäre alles Erzählte historisch. Das Szenario stellt nur Möglichkeiten vor. Das Szenario unterbricht Handlungsabläufe, es reflektiert, es erklärt die Gedankengänge des Autors, es legt offen, woher der Autor sein Wissen, seine Vermutungen hat, es spricht Zweifel aus, gibt Alternativen an, usw. Das Szenario lädt den Leser also ein, den Gedankengängen des Autors zu folgen, oder aber ihnen auch nicht zu folgen, sie anzuzweifeln, eigene Vermutungen anzustellen, sein eigenes Wissen einzubringen, schließlich vielleicht sogar den Handlungsverlauf anders zu gestalten.

Ich habe diese Form der historischen Schilderung nicht erfunden. Ich wünschte, ich hätte es, sie ist fantastisch. Diese Darstellungsform stammt von Dieter Kühn, zumindest kenne ich sie von ihm. Dieter Kühn ist der letztes Jahr im Alter von achtzig Jahren verstorbene Schriftsteller, der eine Biografie Wolframs von Eschenbach geschrieben hat, die ich mit größtem Interesse gelesen habe, eben auch wegen dieser Szenarien, die darin verwendet werden.

Mache ich mich jetzt also an den Entwurf: Ich brauche dafür zunächst einen Protagonisten, einen Besucher Lübecks. Das werde nicht ich selber sein, ich lebe am Anfang des 21. Jahrhunderts, nicht am Anfang des 19. Jahrhunderts. Aber natürlich soll es eine Identifikationsfigur sein, die meiner modernen Sicht der Dinge möglichst nahe kommt, sagen wir ein aufgeklärter Rationalist mit einer gewissen Bildung.

Ich wähle eine männliche Person, wie ich es bin. Er ist kein Lübecker, denn er muss, wie ich, neugierig sein auf das Unbekannte in Lübeck. Ich lasse ihn aus irgendeiner Stadt Deutschlands kommen, wo nicht Plattdeutsch gesprochen wird, das er nur wenig versteht, so wenig wie ich. Er spricht Hochdeutsch, hat eine gewisse Bildung – warum nicht Akademiker, Lehrer? Möglichst viel Identifikationsschnittmenge. Ich lasse ihn einen Lateinlehrer sein, einen promovierten Altphilologen. (Warum unbedingt promovierter Altphilologe, der ich nicht bin? Das hat einen Grund. Dazu gleich.)

Er ist noch jung, anders als ich, etwa Mitte dreißig, ein Collaborator, um diesen Begriff aus dem 19. Jahrhundert anwenden zu können, Collaborator, „Hilfslehrer“, der dem Rektor einer Schule hilft. Heute würden wir sagen Studienrat. Bartfreies, jugendliches Gesicht, dunkelblondes, halblanges, leicht über die Ohren fallendes Haar, etwas gewellt, Schlupflid-Augen. (So sehe ich mich auf alten Fotos.)

Wie nenne ich ihn? Ich suche einen für die Zeit typischen Namen und stelle schnell fest, dass es das nicht gibt: Namen damals und heute unterscheiden sich nicht. Zufällig lese ich von einem Georg Wilhelm Benrath aus Kassel. Benrath ein geeigneter Name? Assoziation Studienrat? Rath mit th? Besser: Der Name lässt an die Benrather Linie denken, die west-östlich verlaufende Dialektgrenze, an der die von Süden kommende „Zweite Germanische Lautverschiebung" stehengeblieben ist, die ober-niederdeutsche Dialektgrenze, die Grenze zwischen ich-ik, das-dat, Apfel-Appel, machen-maken. Kassel liegt knapp südlich dieser Linie auf der oberdeutschen Seite. Mein Protagonist versteht das Niederdeutsche schlecht: Das passt. Nenne ich ihn also Benrath*. Als promovierter Altphilologe ist er Dr. phil. Benrath, Collaborator Dr. Benrath aus Kassel. 

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* Ich wusste nicht, dass es eine - aus dem Odenwald gebürtige -  Lübecker Filmemacherin gibt mit Namen Katja Benrath (Abi 1999 am Katharineum), die jetzt gerade mit ihrem Kurzfilm "Watu Wote - All Of Us" fast einen Oscar erhalten hätte.                          März 2018
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Jetzt fehlen noch die Anlässe, die Herrn Dr. Benrath nach Lübeck bringen. Ich erfinde dies: Junglehrer Benrath aus Kassel arbeitet als Collaborator an einer Hamburger Schule, gern am Johanneum**. Er hat vor, nach Schweden zu gehen, nach Stockholm, wo ihm eine 

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** Das jetzige Gymnasium Johanneum in Winterhude gibt es seit 1529, stand damals allerdings noch als "Latinsche Schole" im Gebäude des vormaligen St. Johannis-Klosters - daher der Name -, an der Stelle, wo heute der Rathausmarkt ist. Sie war "Gelehrtenschule" als Vorbereitung auf ein Universitätsstudium - entspricht dem heutigen Gymnasium - und "Bürgerschule" - aus der später die Realschule hervorging -, letzteres für wohlhabende Kaufmannssöhne als Vorbereitung auf eine Berufsausbildung. Ganz ähnlich übrigens das Katharineum in Lübeck, 1531 gegründet, wie das Johanneum ebenfalls von Johannes Bugenhagen.
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Stelle als Professor an einem Pädagogischen Institut angeboten worden ist. (Dies Anton Joachim Grimm abgeguckt, Sohn Johann Antons, der „Professor der lateinischen Sprache am Pädagogischen Hauptinstitute“ (Wilhelm Grimms „Lebensskizzen“) in St. Petersburg war. Deshalb habe ich Benrath zum promovierten Altphilologen gemacht.) Professor, also ein beruflicher Aufstieg. Von Hamburg aus muss er mindestens zweimal nach Lübeck fahren, um die Reise nach Stockholm vorzubereiten, z.B. muss er die Überfahrt buchen, eventuell dabei auch schon mal das eine oder andere Paket vorausschicken.

Wo kommt Collaborator Benrath in Lübeck unter? Ich fantasiere: Bei einer alten Stecknitzfahrerwitwe, die Zimmer in ihrem geräumigen Haus in der Kleinen Petersgrube an Durchreisende vermietet. Kleine Petersgrube, die Gasse habe ich mir bei meinem Lübeck-Spaziergang ausgesucht.

Ich muss Stecknitzfahrer erklären: Die Stecknitz ist das Flüsschen, das, aus der Gegend von Mölln kommend, bei Lübeck in die Trave mündet. Über die Stecknitz, weiter südlich die Delvenau, ging ein wichtiger Binnenschiffweg von Lübeck zur Elbe, also weiter nach Hamburg oder Lüneburg. Ausgebaut wurde dieser Weg später zum Stecknitzkanal, heute Elbe-Lübeck-Kanal. Über die Stecknitz ging der für Lübeck ursprünglich so wichtige Salztransport aus Lüneburg. Mit dem Lüneburger Salz ist Lübeck im Mittelalter überhaupt erst reich geworden. Nicht so sehr für den Weiterverkauf hatten die Händler das „weiße Gold“ gebraucht, sondern zum Haltbarmachen der Heringe, die die Lübecker in den skandinavischen Küstengewässern (vor dem schwedischen Schonen, dem norwegischen Bergen) gefangen und bis nach Nowgorod und Brügge verkauft hatten. Die großen Salzspeicher neben dem Holstentor zeugen noch heute von diesem Ausgangspunkt des lübischen Aufstiegs zur führenden Hansestadt im Mittelalter.

Die Stecknitzfahrer nun waren die Leute, die in ihren flachen Prahmen – so nannte man ihre Boote –, angetrieben durch Segel, durch Treideln oder Staken, diesen Transport durchführten. Ursprünglich die Knechte der reichen Lübecker Salzhändler, wurden sie später zu den stolzen Mitgliedern einer eigenen Handwerkszunft. Ihr Zunfthaus – heute ein Gebäude neueren Datums – stand an der Obertrave, nicht weit von der Stelle, wo ich das Haus der Stecknitzfahrerwitwe ansiedele.

Soweit also die Ausgangssituation meiner kleinen Geschichten. Jetzt zum ersten Szenario:

Für mein erstes Szenario frage ich mich: Wann lasse ich es stattfinden? Es könnte eigentlich jederzeit sein zwischen 1787/88 und 1828, den vierzig Jahren, in denen Johann Anton in Lübeck lebte. Ich wähle aber zwischen zwei konkreten Jahren aus, in denen ich ihn ausdrücklich erwähnt finde: 1814, das Jahr, in dem der Stadtführer erschienen ist, oder 1823, das Jahr von Johann Antons Notiz über die Visite der schwedischen Königin und der Kronprinzessin „meinen lieben Kindern zur Nachricht". Diese Notiz wendet sich letztlich auch an mich, auch ich bin sein Kind, weit entfernt, gewiss, aber doch seinen Namen tragender direkter Nachkomme. In der Notiz fühle ich mich ihm näher, ich ziehe also das Jahr 1823 vor. Ist es doch auch das Jahr, in dem er ziemlich genau mein jetziges Alter hatte, Mitte sechzig.

Mag sein, dass es bis zu diesem Jahr schon einige kleine Veränderungen seit 1814 gegeben hat, dem Erscheinungsjahr des Stadtführers, aus dem ich mir etliche Informationen für das Szenario nehmen werde. Aber ich will diesbezüglich großzügig sein, schließlich werde ich auch Informationen aus Romanen verwenden, die weit nach Johann Antons Tod spielen.

Der erste Besuch wird also an einem Tag im Jahr 1823 sein. Ich möchte ihn nach dem Empfang der Königin stattfinden lassen, denn darauf soll Bezug genommen werden. Aber nicht im Juni, ist doch Katharina, Johann Antons Frau, meine Urururgroßmutter, am 12. Juni gestorben, keine zwei Wochen nach der königlichen Durchreise. Die Trauerstimmung würde mir das Szenario unnötig erschweren. Ich lasse den Besucher also etwas später erscheinen, sagen wir im September. Es muss noch im Sommer sein, da die Postyacht nach Ystad, gemäß Stadtführer, nur im Sommer abgeht, und die Post nach Schweden soll in dem Szenario eine Rolle spielen. Es sollte demnach auch ein Mittwoch sein, dem einen der beiden Tage der Post nach Ystad. (Den anderen kenne ich nicht.)

Wie finde ich einen Mittwoch im September 1823? Ich suche einen immerwährenden Kalender im Internet, und ich finde einen unter www.hillschmidt.de. „Die Tabelle", lese ich dort, „ist dem Salvatorkalender der katholischen Ordensgesellschaft Societas Divini Salvatoris in der Schweiz entnommen." Dort finde ich mit wenigen Klicks den 24. September 1823 als einen Mittwoch.

Jetzt kleide ich Benrath noch ein. Ich gehe dafür von Bildern der Zeit aus, die es in Hülle und Fülle gibt - Mode des Biedermeier: Er trägt unter einem hellen Sommermantel – damals hätte man den wohl Paletot genannt – eine karierte Hose, schwarze Stiefel, ein farbiges, sagen wir grünes Jackett über einer Weste, an welcher, aus einem Taschenschlitz heraus, eine silberne Uhrkette baumelt (nicht golden, dafür ist er noch zu jung) mit einigen Berlocken daran, Uhrkettenanhängern, die damals bei jungen Männern beliebt waren. Ein schalartiges Tuch um den Hals, auf dem Kopf ein heller Filz-Zylinder, die neue Bürgermode. Über der Schulter hängt eine Ledertasche. (Sagte man Tasche? Hieß es nicht Felleisen? Bei Fritz Reuter finde ich "Mantelsack" und Plattdeutsch "Fellisen", letzteres übrigens nicht "Fell-Eisen", wenn auch so volksetymologisch von den Damaligen empfunden und ausgesprochen, sondern von Französisch "valise" (Koffer), also eigentlich zusammengezogen auszusprechen und auf der zweiten Silbe betont: Felleisen.) In der Tasche birgt er nicht unerhebliche Barschaften zum Bezahlen der Schiffsreise, und er hat einen Gehstock. Die Erscheinung dieses Mannes ist nicht ohne eine gewisse bürgerliche Eleganz, jedenfalls durchaus gepflegt – anders als die Lehrer in den „Buddenbrooks“.










Das Paket

Collaborator Dr. Benrath ist nun in Lübeck. Vor einigen Tagen ist er mit der kaiserlichen Thurn-und-Taxisschen Postkutsche gekommen, um seine Schiffspassage, die er für das kommende Jahr plant, zu buchen, zumindest vorzubereiten und nötigenfalls anzuzahlen. Dazu nimmt er sich vor, den dänischen Konsul in der Mengstraße aufzusuchen, denn jemand hat ihm in Hamburg gesagt, dass man zunächst ein Schiff nach Kopenhagen nehmen müsse, bevor man weiter nach Schweden segeln könne. In Hamburg hat er sich extra Lübecker Courant-Mark besorgt, um seine Vorhaben in Lübeck problemlos bezahlen zu können. Gestern, schon in Lübeck, hat er einige Zeitschriften und Bücher erworben, die ein Verwandter in Stockholm bei ihm bestellt hat, andere, die er für sich selber nach Stockholm vorausschicken möchte. Er hat die Bücher in der Buchhandlung Michelsen in der Alfstraße 2 (Nro. 426 des Quartiers) gekauft, einer Straße entlang des Rathausmarkts, in einer Buchhandlung, „wo vorzüglich Vollständigkeit, Schnelligkeit der Besorgung und Eleganz jeden Besuchenden befriedigen werden", wie es auf Seite 142 des Lübecker Stadtführers von 1814 heißt, ... des Stadtführers, der von eben jenem M. Michelsen verlegt wurde. Natürlich ist Benrath im Besitz dieses Stadtführers, aus dem er auch die Adresse des dänischen Konsuls Herrn Platzmann in der Mengstraße Nr. 5 kennt.

Es ist der Morgen des 24. September 1823, ein eher kühler Spätsommertag, ein leichter Wind geht durch die Stadt, über den Himmel ziehen weiße Wolken. Der junge Collaborator steht vor dem Hause seiner Wirtin in der Kleinen Petersgrube unweit der Obertrave und verabschiedet sich von ihr. Er ist ausgehbereit, trägt Paletot und Hut, in der rechten Hand einen einfachen Spazierstock. Über der linken Schulter hängt eine Ledertasche gut gefüllt mit Geldmünzen, und unter dem linken Arm hält er ein großes zusammengeschnürtes Paket. Menschen eilen an den beiden durch die Gasse vorüber. Laute Stimmen dringen aus einem gegenüberliegenden Haus. Irgendwo schreit ein Kind. Die Luft ist noch frisch, ein leichter, angenehmer Zug geht durch die Straße, erst im Laufe des Vormittags wird sich das Quartier mit den Gerüchen von Holzfeuern und Essen füllen.

Wohin wollen Sie denn Ihre Post expedieren lassen?", fragt die ältere Frau und bemüht sich um ein verständliches Hochdeutsch. (Im frühen 19. Jahrhundert wurde bereits gesiezt, nicht mehr „geihrt“.) „Das sind Zeitschriften und Bücher für einen schwedischen Kollegen in Stockholm", antwortet Benrath. 

Die Wirtin, eine Witwe Hansen, will gerade etwas sagen, als mit hart auf dem Kopfsteinpflaster aufschlagenden Hufen und knarrenden, eisenbeschlagenen Rädern ein Pferdefuhrwerk von der Obertrave in die enge Gasse einbiegt, in der die beiden stehen. Mit lautem Krachen ratscht ein Hinterrad an dem Prellstein an der Hausecke entlang. Benrath wendet sich nach dem Lärm um und tritt dann zusammen mit seiner Wirtin in den schmalen Hauseingang, um Karren und Pferd, am Zügel geführt von einem vierschrötigen Mann in grober Kleidung, vorbeizulassen. Er trägt eine abgeschabte Schirmmütze auf dem Kopf. Auch die anderen Passanten springen an die Seite. 

„Gaudn Dach, Weetfru Hansen", ruft der Pferdeführer im Vorbeigehen in die Haustür hinein. „Och Barthel", erwidert Witwe Hansen, „ik heff di je nich kennt. Wo geiht't?" – „Gaut, Weetfru Hansen, 't geiht gaut." – „Neihm di in Acht, Barthel, treck dien Schpannwark suutje! Dei Twieten dor baben is heil in'n Dutt." – „Ik weit, uns' Schtraatn sün in'n Moors. Jü, olln Krübbenbieter!" Und schon stiefelt er weiter die Gasse hinauf, das Pferd mit dem rasselnden Fuhrwerk hinter sich herziehend. Witwe Hansen lacht.

Benrath tritt wieder aus dem Haus. „Ich wohne ja schon einige Zeit in Hamburg", sagt er zu der Frau. „Aber Ihre Sprache lerne ich einfach nicht. Was haben Sie dem Pferdeführer nachgerufen?" – „Ach nur, dass er sein Fuhrwerk sachte ziehen soll, da oben („baben“) in der Straße („Twiete“, Gasse) ist das Pflaster ganz kaputt („heil in'n Dutt“)." – „Und was hat er geantwortet?“ – „Er hat gesagt, er weiß Bescheid. Er hat sich nur etwas grob ausgedrückt.“ „In'n Moors“ heißt „im Arsch“. Das sagt sie aber nicht. Sie sagt nur schulterzuckend: „Fuhrlüütschpraak ("-schprork"), Kutschersprache.“ - "Und was heißt: Jü, olln Krübbenbieter?" Frau Hansen erklärt lachend: "Hü, alter Krippenbeißer. So nennt der Kutscher sein Pferd, das nur mürrisch am Krippenholz nagt statt ordentlich zu fressen. Im Scherz natürlich."

Sie deutet wieder auf das Paket unter Benraths Arm. „Nach Schweden soll das? Es gibt so viele Posten hier in Lübeck. Wissen Sie, zu welcher Post Sie gehen müssen?" – „Mir wurde der dänische Konsul Platzmann in der Mengstraße genannt. Man sagte mir in Hamburg, die Post nach Schweden gehe über Kopenhagen." - "Das war früher, Herr Collaborator. Wir haben heute eine direkte Post nach Schweden. In der Mengstraße befindet sich das Lübische Posthaus, unsere größte Post. Da gibt es eine reitende und eine fahrende Post nach Schweden. Die reitende ist natürlich schneller. Aber ich weiß nicht, ob die Ihr großes Paket expedieren wird. Oder Sie müssen sehr viel für die Expedition zahlen." - "Das Lübische Posthaus?", fragt Benrath. "Ja", antwortet die Frau, "der Schütting, wo oben die Schonenfahrergilde tagt. Unten im Parterre ist die Post. Das werden Sie nicht verfehlen."

"Schütting?" Benrath kennt den Begriff Schütting nicht. „Ein Schütting ist ein Versammlungshaus“, lasse ich die Frau erklären, „und zwar für die Versammlungen der Kaufmannsgilden.“ Benrath möchte wissen, woher dies seltsame Wort kommt. Ich weiß nicht, ob ich einer Stecknitzfahrersfrau im frühen 19. Jahrhundert soviel etymologisches Wortwissen zutrauen kann, die Prahmfahrer auf der Stecknitz zählten zu den „weniger gebildeten Classen", wie ich lese. Daher füge ich für sie ein: Der Begriff stammt aus einem in der Hafenstadt Bergen gesprochenen norwegischen Dialekt („skotting“, später „kjøttstuene“, Bedeutung: „Speisesaal“, wo man „kjøtt“ („schött“) isst, „Fleisch“ – erinnert an die schwedischen Hackbällchen „köttbullar“, ausgesprochen „Schöttbüllar“). Der Schütting war am Anfang des Ostseehandels im Mittelalter der Saal, in dem reisende Händler zu essen bekamen. Später hatte jede Gilde einen eigenen Speisesaal für ihre Mitglieder. In Lübeck gab es mehrere Schüttinge, aber wenn von dem Schütting die Rede war, dann meinte man den Schütting der Schonenfahrer in der Mengstraße 18, Ecke Schüsselbuden und Fünfhausen. Das war ein ansehnlicher klassizistischer Bau mit einem großen Portal und hohen Bogenfenstern im Erdgeschoss, hinter denen die Lübische Post untergebracht war, deswegen, weil das Schonenfahrer-Kollegium für die Verwaltung dieser Post zuständig war. Heute steht das Haus nicht mehr, heute ist dort ein modernes, langweiliges Polizeigebäude. Im Jahr 1900 wurde dort die neugotische Kaiserliche Post gebaut, ein wuchtiger Gigant, weniger langweilig zwar mit seinen Zinnen, Spitzen, Spitzchen, Giebeln und Giebelchen, dafür aber noch hässlicher als die heutige Polizeiwache. (Von beiden nicht mehr existierenden Häusern gibt es Bilder.)

Benrath greift sich das nicht gerade leichte Bücherpaket fest unter den Arm, rückt seinen hellen Zylinder zurecht und kontrolliert, ob die Ledertasche mit dem vielen Geld für die Schiffspassage fest verschlossen ist. „Achten Sie gut auf Ihr Felleisen“, mahnt ihn Witwe Hansen. Aber er ahnt kein Ungemach und macht sich guter Dinge auf den Weg durch die enge gepflasterte Gasse, die ziemlich steil bergauf führt, in die Richtung, in die auch der Karren gefahren ist. Die Häuser, an denen er entlangschreitet, indem er mit seinem Stock heiter auf das Pflaster klopft, sind vor langem deutlich herrschaftlich gewesen, aber jetzt heruntergekommen. (Inzwischen für den Tourismus wieder gut restauriert.) Die Menschen, die ihm begegnen, tragen einfache Kleidung. Es sind arme Leute, die hier wohnen, jedenfalls in den Seitengängen, die von der Kleinen Petersgrube abgehen, „geringere Volksklassen", liest man. Er geht die Gasse hinauf und gelangt zu den Stellen, an denen die Bepflasterung „heil in'n Dutt" ist, zwischen den Steinen Schlamm und Modder. Benrath bleibt stehen und schaut, bedauernd den Kopf schüttelnd, auf die schadhaften Stellen. Eigentlich sind Lübecks Straßen sauber, denkt er, die Stadtreinigung funktioniert gut. Aber da die Instandhaltung der Straßen Aufgabe der Anlieger ist, das weiß er, sind die Stellen vor den Häusern der minderbemittelten Bewohner in miserablem Zustand. Er überlegt, wie er den Schlamm umgehen kann. Die Leute, die an ihm vorübergehen, springen mit dem resignierten Lachen des Gewohnten durch die pflasterlosen Löcher. Ein älterer Mann kommt ihm entgegen, deutet mit dem Kopf auf die Schlammlöcher und ruft ihm zu: „Schiet, wat? De Lüüt hefft holl Ebb in'n Büüdl", und geht weiter. Hohle Ebbe im Geldbeutel?, rät Benrath, und er macht sich seinerseits wieder auf den Weg, wobei er unbeholfen um den Modder herum balanciert. Er nimmt das ihm immer schwerer werdende Paket unter den anderen Arm. Beim Springen achtet er darauf, dass sich seine Ledertasche mit dem Geld nicht öffnet und all die in ein Tuch gewickelten Markstücke auf das Straßenpflaster fallen.

Er kommt schließlich oben zur Petrikirche, biegt links ab in den Kolk und steigt immer noch aufwärts über grobes Pflaster und durch Straßenlöcher. Weiter geht er durch die breitere Holstenstraße – links unten sieht er das große Holstentor stehen –, über den Kohlmarkt, dann durch den Schüsselbuden und Fünfhausen (Straßenname, benannt nach einer Familie Vifhusen, der mal das umliegende Gelände gehört hat). Viel Betrieb auf der Straße, viele Kinder, junge Frauen mit Körben und „Büüdln" auf dem Kopf, auch Bettler, alte Frauen, die sich schwerfällig um die Pflasterlöcher mühen, Pferdekarren, einige zu Fuß geführt von Männern, die vor sich hin fluchen („Dat ischje man kein Schtraat, dat is'n olln Schietkaul!“), einige vom Bock aus gelenkt, eine mattgelbe Postkutsche, dann ein Planwagen, der Stückgut aus dem Umland in die Stadt führt, „der schwer ausschreitende Fuhrmann im blauen Kittel neben den großen Pferden mit klirrenden Aufzäumungen, den gedankenvoll mitlaufenden Wolfspitz fast an seinen Hacken“, lese ich bei Ida Boy-Ed.

Am Ende gelangt er zur großen, imposanten doppeltürmigen Marienkirche, und dahinter zur Mengstraße. Gleich an der Ecke schön und erhaben das klassizistische Gebäude mit dem Namen Schütting. Er schaut kurz hoch in den Giebel des Hauses zum Wappen der Schonenfahrer-Gilde, drei goldene Fische übereinander in einem Kreis mit Goldrand. Aber dann denkt er an sein Anliegen und tritt durch das gewölbte Portal auf den Fliesenboden der weiten, lichtdurchfluteten, in dem Stimmengewirr laut hallenden Diele (Ludwig Ewers). Vor den Schaltern tummeln sich Menschen, Kunden mit Briefen in den Händen, Postangestellte, Paketträger. Man begrüßt sich, unterhält sich, ruft, lacht, fragt, hilft sich, einer schlägt einem Bekannten lachend auf den Oberarm, an einem Schalter schimpft jemand. Benrath geht an einen der frei stehenden Tische gleich neben dem Eingang und stellt das Paket darauf ab. Unsicher wendet er sich dann an einen älteren Herrn in einem schwarzen Paletot, von dem er meint, er wisse hier Bescheid. Der erkennt augenblicklich den Fremden und fordert ihn eilfertig auf, ihm an den Schalter zu folgen, der die schwedische Post abfertigt. Benrath nimmt das Paket wieder unter den Arm und geht mit dem Mann mit. Lübeck ist bekannt für seine freundlichen Bewohner, denkt Benrath, das hat er schon in Hamburg gehört. Die Hamburger sind da unwirscher, haben weniger Zeit, eine sehr beschäftigte Stadt.

Der junge Angestellte am Schalter wirft einen Blick auf das Paket, das Benrath auf den Tresen gelegt hat, und sagt: „Nach Stockholm?" Benrath nickt und fragt: „Mit den Reitern ist das wohl zu teuer?" Der junge Mann sieht ihn an und fragt zurück: „Haben Sie es denn eilig?" Benrath antwortet ihm, dass er nicht so viel bezahlen könne, dass er aber eine rasche Expedition schon gern sähe. Der Angestellte stützt sich auf den Tresen, beugt sich zu Benrath vor und raunt ihm zu: „Ich gebe Ihnen einen Rat. Nehmen Sie das Paket wieder mit und gehen damit in die Johannisstraße zum schwedischen Konsul. Heute ist Mittwoch. Jeden Mittwoch legt die Postyacht nach Ystad ab. Das geht schneller als mit den Reitern, und es ist nicht so teuer. Johannisstraße Nummer elf, der schwedische Konsul. Wenn Sie sich beeilen, geht Ihr Paket noch mit der heutigen Yacht weg." Die beiden letzten Wörter klingen in Benraths Ohren wie „Jächt wech".

Also zum schwedischen Konsul. Benrath begibt sich wieder an einen der Tische am Eingang, um das Paket noch einmal abzustellen. Er legt seine Ledertasche daneben, öffnet sie, knotet das Tuch auf, in dem er die vielen Münzen aufbewahrt, und wirft einen Blick hinein: Ist noch alles da? Überflüssig, warum sollte etwas fehlen? Es ist die nervöse Angst des Reisenden in der Fremde, der ungewohnt viel Geld bei sich hat.

Wenn der Collaborator Post nach Schweden aufgeben und wenn er eine Schiffspassage nach Schweden anzahlen will, dann muss er in der Tat eine ganze Menge Geldstücke mit sich herumtragen. Ich habe leider nirgends finden können, was so eine Seereise von Lübeck nach Stockholm gekostet hat. Ich vergleiche mit Preisen für Postkutschen-Touren, vergleiche auch mit dem, was heute ein Flug von Hamburg nach Stockholm mit der Lufthansa oder der SAS kostet, nämlich zweihundert bis dreihundert Euro mindestens, wage eine spekulative Schätzung und setze einen Preis von dreißig lübischen Mark Courant fest für eine Fahrt von Travemünde über Kopenhagen nach Stockholm. Das müsste jetzt in Verhältnis gesetzt werden zu Benraths Einkommen. Da ich ebensowenig herausgefunden habe, wieviel ein Junglehrer in dieser Zeit am Hamburger Johanneum verdient hat, muss ich mich auch hier mit einer spekulativen Schätzung begnügen. Die Spekulation soll aber nicht aufs Geratewohl erfolgen.

Daher dieser Exkurs: Im Archiv der Hansestadt Lübeck finde ich das Buch „Währung, Preisentwicklung und Kaufkraft des Geldes in Schleswig-Holstein von 1226 – 1864“, 1952 erschienen, geschrieben von einem Prof. Dr. Emil Waschinski. In diesem Buch versuche ich herauszubekommen, wieviel das Lübecker und das Hamburger Geld um 1800 wert waren, wieviel die Menschen damals verdienten, wie hoch die Lebenshaltungskosten waren. Zwar beschränkt sich das Buch auf das dänisch verwaltete Land, wozu weder Hamburg noch Lübeck gehörten. Auch weist der Autor immer wieder darauf hin, dass es im Einzelnen erhebliche Unterschiede gegeben habe: Ein Gutshofangestellter konnte in einem Dorf völlig anders entlohnt werden als in einem anderen Dorf, Bezahlung hing von der Willkür des Gutsherrn ab; Gehälter schwankten von Jahr zu Jahr; und ebenso schwankte der Geldwert: Was etwa 1813, nach den Kriegskatastrophen, teuer war, ist 1823 billig gewesen. Dennoch ist einiges Interessantes zu erfahren. Hier mein Ergebnis:

Ein Handwerksgeselle konnte eine fünfköpfige Familie mit einem Tageslohn von sechzehn Schilling – das ist eine Mark – mit Ach und Krach ernähren. Nach heutiger Währung wäre das ein Monatslohn von weniger als vierhundert Euro. „Einem Meister“, zitiere ich aus dem Buch, „fiel es weniger schwer, seine Familie durchzubringen.“ Lehrer werden nicht sehr viel mehr verdient haben. Ich lese in dem Buch, dass die „Schulmeister“ in den Dörfern schlechte Gehälter bezogen, teilweise „weniger als ein Schweinehirt“. Schulerziehung erfuhr keine hohe Anerkennung. Das dürfte in den „Gelehrtenschulen“ in den Städten etwas anders gewesen sein. Aber auch dort waren die Gehälter wohl eher bescheiden. Sicher erwartete den Collaborator in Stockholm als Professor ein höherer Verdienst.

Ich verdoppele den kärglichen Handwerkerlohn und lasse Benrath, den Collaborator am Johanneum in Hamburg, täglich zwei Mark verdienen, im Monat also sechzig gute Mark Courant, Hamburger und Lübecker Währung weitgehend gleichwertig. Wie gesagt, spekulativ. Aber immerhin: Von einem "Hilfslehrer" (= Collaborator) in einer Realschule im mecklenburgischen Güstrow um 1850 (es geht um den Dichter John Brinckmann) lese ich, dass er ein Jahresgehalt von 316 Talern und 32 Schillingen bezog, also 950 Mark. Das wäre ein Tagesverdienst von etwa 2 Mark und 10 Schillingen gewesen. (16 Schilling = 1 Mark)

Nach diesen Schätzungen würde meinen Protagonisten die Schiffspassage an seinen neuen Wirkungsort mit dreißig Mark ein halbes Monatsgehalt kosten. Wenn ein heutiger Junglehrer netto zweitausend Euro verdient, müsste er dementsprechend tausend Euro für einen Flug von Hamburg nach Stockholm bezahlen. Ein satter Preis. Oder anders herum: Bei einem Flugpreis Hamburg-Stockholm von dreihundert Euro würde der „Hilfslehrer“ sechshundert Euro im Monat verdienen. Aber dennoch glaube ich, dass die Relation stimmt. Reisen im jetzigen Zeitalter des Tourismus ist verhältnismäßig billiger als damals. Trotzdem kann ich wohl davon ausgehen, dass sich Collaborator Benrath einmal so eine Reise leisten kann, zumal es um einen beruflichen Aufstieg geht.

Zurück zur Posthalle im Lübecker Schütting: Während Benrath das Tuch öffnet, um sein Geld zu begutachten, passiert es leider, er ist ungeschickt: Versehentlich fallen mehrere Silbermünzen klingelnd auf den Tisch, einige der wertvollen schweren Courant-Taler und Doppelmark-Stücke kollern über den Boden. Hastig sammelt er alles wieder ein, wirft es zurück in das Tuch, bindet es flüchtig zusammen und steckt es in die Tasche. Er schaut sich um: Hat ihn jemand dabei beobachtet? Und ob, das Münzengeklingele hat Aufmerksamkeit erregt, überall blicken neugierige Augen zu ihm hin. Auf diese Weise sind schon Menschen ihrer Barschaften beraubt, deswegen sogar umgebracht worden, denkt Benrath, rafft die Tasche an sich und verlässt eilig das Postgebäude.

Hier muss ich anfügen, dass genau dies einem der baltischen Grimms widerfahren ist. August Grimm, das jüngste von elf Kindern des Rigaer Bürgermeisters, hat nach Astrachan an der Wolga geheiratet, nahe dem Kaspischen Meer – „die erste und hoffentlich auch die letzte (evangelisch-orthodoxe) Mischehe eines Grimm!“, schrieb in seinen „Lebensskizzen“ Wilhelm Grimm, der ältere Bruder, ein felsenfester lutherischer Pastor. In Astrachan ist August Grimm ein wohlhabender Kaufmann geworden. Bei einer Fahrt auf einem Wolga-Dampfer am 23. März 1891 machte dieser Kaufmann Grimm einen leichtsinnigen Fehler: Er öffnete am Buffet des großen Speisesaales „in Gegenwart mehrerer anderer Personen“ das „Taschenbuch“, in dem er eine Menge Geld aufbewahrte. Auf dem Weg in seine Kajüte wurde er „überfallen, beraubt und vom Deck des Dampfers in den Strom, auf dem viel Eis trieb, gestürzt“, so steht es in den „Lebensskizzen“. Das überlebte unser baltischer Verwandter nicht. Wenn ich also Benrath besorgt um das Geld in seiner Ledertasche sein lasse, so tue ich das nicht von ungefähr.

Ich nutze die Unterbrechung auch für diese Anmerkung: Dass die Post nach Schweden per Schiff billiger gewesen ist als über Land, das habe ich im Lübecker Stadtarchiv gelesen und schon in einem der vorigen Kapitel erwähnt („Lübeck 1814“). Was für Briefe galt, muss auch für Pakete gegolten haben. Und schneller war sie natürlich ohnehin.

Auch sonst habe ich nicht viel in dem bisherigen Szenario erfunden, die Gründe für die kaputte Straßenbepflasterung nicht, das „sich regende" Treiben in der Post auch nicht, das lese ich bei Ludwig Ewers. Ebenso beruht die Schilderung der Straßenszenen auf Gelesenem, und auch, dass die Lübecker damals im Gegensatz zu den Großstadt-Hamburgern als freundlich galten, ist keine Erfindung von mir.

Gehen wir jetzt vom Schütting in die Johannisstraße, wo Benrath das Bücherpaket beim schwedischen Konsul – er ist seit drei Jahren Generalkonsul, aber das wird der Postangestellte nicht wissen – aufgeben will. Dabei hat er eine interessante Begegnung, die ihm jedoch nicht nur angenehm sein wird. Als er zur Kreuzung Mengstraße/Breitenstraße gelangt, hinter der als Fortsetzung der Mengstraße die Johannisstraße beginnt, schaut er sich nach den Straßentafeln um, da er sich über den Verlauf der Johannisstraße unsicher ist. Nach einigem Suchen findet er ein schwarzes Schild, auf dem in weißer Schrift der Straßenname zu lesen ist. Benrath denkt etwas verwundert: Sind die Namenstafeln der Straßen nicht weiß mit schwarzer Schrift? Er meint, das eben so in der Mengstraße gesehen zu haben.

In diesem Moment wird er angesprochen: „Kann ich Ihnen behilflich sein?“ Benrath schaut sich um. Ein junger Mann mit blondem Schnurrbart steht vor ihm, selbstbewusster, höflicher Gesichtsausdruck. Er trägt eine blaue Uniformjacke, hält einen schwarzen Tschako unter dem Arm, an der Seite einen langen Degen. So wenig Benrath ein Militär ist, so erkennt er doch in dem jungen Mann, der ihn so höflich anspricht, einen Dragoner-Sergeanten. (Dragoner waren Reitersoldaten.) „Ich suchte die Johannisstraße. Hier ist sie wohl.“ – „Ja“, sagt der Dragoner, „dies ist sie. Sie haben das an der Tafel da oben an dem Haus gesehen?“ – „Ich habe die Tafel gerade gefunden, ja. Sagen Sie, sind die Straßentafeln hier in Lübeck nicht weiß?“ – „Hier nicht“, antwortet der junge Dragoner ruhig, „nur im nördlichen Teil der Stadt. Hier, wo der Süden beginnt, im Johannis-Quartier, sind sie schwarz. Den Unsinn haben wir dem Franzosen zu verdanken. Der hatte Lübeck willkürlich in ein nördliches und ein südliches Canton eingeteilt, Jacobi- und Maria-Magdalenen-Quartier Nord, weiße Tafeln, Johannis- und Marien-Quartier Süd, schwarze Tafeln.“ – „Aha“, entgegnet Benrath. „Sie sind von hier?“ – „Nein, ich komme aus Pommern. Ich gehöre der Hanseatischen Brigade an, die hier in der Nähe stationiert ist. Darf ich mich vorstellen? Freiherr von Rönnstein.“ Dabei schlägt er leicht die Hacken zusammen und verbeugt sich. „Dr. Benrath, Collaborator in Hamburg“, stellt Benrath sich seinerseits vor und zieht dabei seinen hellen Hut mit der Hand, in der er den Stock hält. „Ich stamme aus Kassel.“ – „Das hört man, mit Verlaub, an Ihrer Sprache, dass Sie kein Norddeutscher sind. Aber deutsch ist deutsch, meinen Sie nicht auch?“ Benrath murmelt: „Natürlich.“ – „Collaborator? Doktor? Lehrer? Soso.“ Liegt in diesem „Soso“ versteckte Geringschätzung? „Wohin möchten Sie denn, Herr Dr. Benrath?“ – „Ich suche den schwedischen Konsul. Dies Paket nach Stockholm möchte ich bei ihm aufgeben. Er wohnt hier in der Johannisstraße.“ – „Ah, Herr Generalkonsul Grimm“, ruft der junge Freiherr aus, „den kenne ich. Ich führe Sie gern zu ihm. Hier die Johannisstraße hinab, es ist nicht weit, dort unten hinter der Königstraße auf der linken Seite. Die Hausnummer weiß ich nicht. Kommen Sie.“ Die Straßen führen jetzt vom Stadtzentrum aus zur anderen Seite wieder bergab.

Benrath freut sich über die freundliche Hilfe des Dragoners, der jetzt in den großen, knallenden Schritten seiner langschaftigen Reitstiefel neben ihm her schreitet. Dabei liegt die rechte Hand lässig auf dem Griff seines Degens, damit der ihn nicht beim Gehen stört. (Säbel werden Dragoner erst ab den 1840erjahren tragen.) Seinen schwarzen Tschako hält er weiter unter dem linken Arm. Trotz des zuvorkommenden, betont höflichen Verhaltens stößt Benrath ein unangenehm stolzer, ja harter Zug im Antlitz seines Führers auf, der in eigenartigem Gegensatz zum Benehmen steht.

Lübeck ist gerade dabei, sich wirtschaftlich wieder aufzurichten“, konversiert Freiherr von Rönnstein, während sie gehen und kaum nebeneinander auf dem zu engen Trottoir Platz haben. Immer wieder müssen sie den „behäbigen“ (Ewers) Granittreppen ausweichen, die von den vielen Hauseingängen bis an die Bordsteine vorspringen. „Allenthalben werden die Comptoirs wieder eingerichtet, Schiffe repariert. Geben Sie acht!“ Wieder müssen die beiden über den Rinnstein hinweg auf den Fahrdamm treten, um nicht in eine der geöffneten Kellerluken mit den steilen Kellertreppen hinabzustürzen. „Lästig diese Luken, wenn die Lattengitter nicht darauf liegen“, schilt der Dragoner und führt dann das angefangene Thema fort: „Man kann es der Kaufmannschaft nur wünschen, dass sie sich von der französischen Plage rasch erholt. Die Wirtschaft hat unter dem Franzosen arg gelitten.“ Benraths Begleiter schüttelt verärgert den Kopf. „Die Juden, die der Franzos' in die Stadt gelassen hat, sind wir ja, Gott sei gedankt, wieder los. Vorsicht!“ Er fasst Benrath sanft am Arm und zieht ihn auf das Straßenpflaster, fast wäre er sonst mit einem entgegenkommenden Ehepaar an einer Kellerluke zusammengestoßen. Man entschuldigt sich höflich, weicht einander aus, lässt der Dame den Vortritt und geht weiter. „Jetzt wohnen sie wieder nur noch draußen in Moisling, die Juden“, fährt von Rönnstein fort. „Die Revolutionsfranzosen haben ihnen ein Leben in Lübeck gestattet. Emanzipation! Eine Schande war das! Judengeschmeiß! Schandgezücht! Aber die aufrechten Lübecker haben die Emanzipation wieder aufgehoben. Französische Demokraten!“

Das Wort „Demokraten“ klang in damaligen Ohren wie heute „Terroristen“, erst recht, wenn es mit der Verachtung hervorgestoßen wurde wie soeben vom Freiherrn von Rönnstein. „Wir Deutschen müssen uns endlich zusammentun, um uns in Zukunft vor solchen Überfällen zu schützen.“ Er lässt Benrath an einer erneuten Hauseingangstreppe den Vortritt vom Bürgersteig auf die Straße. „Wir werden einmal eine große Nation. Meinen Sie nicht auch, Herr Collaborator?“

Um sich nicht auf eine lästige – und möglicherweise gefährliche – Disputation einlassen zu müssen, sagt Benrath nur lakonisch: „Gewiss. Aber ich bin eher unpolitisch.“ – „So“, erwidert Rönnstein, „na denn. Immerhin geht es jetzt endlich wieder bergauf mit Lübeck. Als der Franzos' hier hauste, war es vorbei mit dem alten Hanseatenreichtum. Die Kontinentalsperre, wissen Sie! Und erst die Abgaben, mit denen der Lübecker „chicanirt ward“ (so schrieb man das). Halunken-Franzosen! Sie gehören alle an den Baum gehängt!“ Der Dragoner scheint die Nöte der lübischen Kaufleute zu kennen. „Wenn nur die dänische Kanaille nicht wäre. Damals hatten wir die französische Plage, heute die dänische.“

Kurze Erläuterung: Die Antipathie der Lübecker gegen die Dänen war schon sehr alt. Seit Jahrhunderten hatten die dänischen Herrscher immer wieder Schleswig und Holstein bis an die Elbe unter ihre Hoheit gebracht, und das blieb so bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Lübeck selbst war nie eingenommen worden. Aber die Stadt hatte sich seit eh und je von dänischem Gebiet umzingelt gesehen. Und auch jetzt wieder meinten die Lübecker, einer gegen sie gerichteten Wirtschaftspolitik Dänemarks ausgesetzt zu sein, die aber wohl eher eine Kiel-freundliche Politik war – das dänische Kiel, neuer Konkurrent Lübecks an der Ostsee. Die überraschende, kurze dänische Besetzung im Sommer 1813, als sich die Franzosen nach der Niederlage in Russland vorübergehend zurückgezogen hatten, verstärkte noch den Widerwillen, den von Rönnstein hier zum Ausdruck bringt.

In allen Landwegen“, wettert der Sergeant weiter, „behindert der Däne die Stadt, zum Beispiel der Handelsweg nach Hamburg: Statt des direkten kurzen Weges über Ahrensburg und Wandsbek müssen die Lübecker den weiten Umweg der Strecke Kiel-Hamburg nehmen, weil die besser ausgebaut ist.“ Ein kaltes, trockenes „Dänenkanaille!“ wirft er noch hinterher.

Dänenkanaille“, „Halunken-Franzosen, alle an den Baum gehängt“, „Judengeschmeiß“, „Schandgezücht“, das ist nicht Benraths Vokabular. Er kennt es allzu gut. Aber er selber, freiheitlich erzogen, in aufgeklärterem Geist, denkt da anders. Auch er fühlt national, auch er träumt von der allseits ersehnten Einheit der Deutschen. Aber den Hass auf die Franzosen, auf die Juden, den hat er nicht, und den Dänenhass kennt der Kasseler gar nicht.

Glücklicherweise kommen die beiden vor dem Haus an, über dessen Eingang eine Elf steht.

Exkurs zu der Hausnummerierung: In den Adressenbüchern im Archiv findet man Hausnummern bis in die Neunhunderter. Das sind natürlich keine straßenweise gezählten Nummern, sondern die Häuser wurden in den Quartieren, also Stadtvierteln, durchnummeriert. Das hatten die Franzosen eingeführt. Über den Hauseingängen, so lese ich im Stadtführer von 1814, standen immer zwei Nummern: groß jeweils die Straßenhausnummer, und klein darunter die Quartierhausnummer. In der Johannisstraße entfiel das, weil die Nummerierung des Johannisquartiers in ebendieser Straße begann, Straßen- und Quartiersnummer waren also gleich, in diesem Fall: elf.

Wir sind da“, sagt der junge Dragoner. „Hier ist es. Hier wohnt Generalkonsul Grimm, übrigens ein Ehrenmann, ein guter Deutscher. Er hat sich in aufrechtem Mut gegen den Franzosen behauptet.“

Benrath sieht sich vor einem größeren, modern klassizistischen weißen Haus, das Eingangstor weit geöffnet, ein geschäftiges Hinein und Heraus, vor allem junge Arbeitsburschen, laut redend, Plattdeutsch, Benrath versteht kein Wort. Freiherr von Rönnstein verabschiedet sich in aller Form, verbeugt sich kurz, tritt zwei Schritte zurück, verbeugt sich noch einmal, lächelt Benrath kühl zu, dreht sich dann um und geht die Johannisstraße wieder zurück hinauf. Ein unangenehmer Mensch, denkt Benrath, unangenehm bei all seiner Höflichkeit.

Als Benrath langsam durch den Toreingang geht, Stock neben dem Paket unter den linken Arm geklemmt, mit der Rechten zu früh unsicher den Hut abnehmend, merkt er nicht, dass in seinem Rücken, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, ein Mann steht, der ihm seit geraumer Zeit gefolgt ist und jetzt herüberstarrt und beobachtet, wie er die Straße verlässt und das Gebäude betritt.









Im Kontor

Das Grimmsche Kaufmannshaus und schwedische Generalkonsulat war ein damals moderner, weißer, in der Sonne strahlender klassizistischer Bau mit einem – im Gegensatz zu den Stufengiebeln der traditionellen Backsteinhäuser – „platten Giebel“, eines der Häuser in Lübeck, die mit ihren „hellen Farben … der Stadt ein freundliches und heiteres Ansehen“ verliehen, wie der Stadtführer von 1814 sagt. Es war vor der französischen Besetzung errichtet worden, in einer Zeit, in der es Lübeck wirtschaftlich gut ging.

Wie so ein Kaufmannshaus innen aussah, das kann man auf den verschiedensten Bilddarstellungen sehen, man kann es in schriftlichen Schilderungen nachlesen, vor allem bei Ludwig Ewers. Man kann sich aber auch einen ungefähren Eindruck verschaffen, zumindest von der Diele, in der die Waren ein- und ausgeladen wurden, wenn man in das Foyer der Musikhochschule an der Obertrave hineingeht, Eingang Große Petersgrube. Dort sieht man, wo das Kontor war, heute die Hochschul-Rezeption, wie um den Innenhof die Treppen in die oberen Etagen führten, und oben in der Decke die Luke, durch die die Waren hochgezogen wurden, um auf dem Speicherboden gelagert zu werden. Mit diesen Bildern und Schilderungen und Eindrücken im Kopf setze ich jetzt das Szenario fort.

Im großen, feuchten Vorraum – verstreut liegen Lumpen und Ketten und andere Eisenteile herum, es riecht nach Pferd, nach Stroh, nach schmutzigen Hanfsäcken, auf dem Boden Pferdeäpfel, überall Fliegen – in diesem Vorraum, der Diele, geht Benrath von hinten an einen geöffneten Planwagen voller grauer Getreidesäcke heran. Zwei Pferde, die wohl gerade erst den Wagen hereingezogen haben, stehen noch angeschirrt vorn an der Deichsel, Benrath sieht, am Wagen vorbei, wie sie mit ihren Schweifen vergeblich gegen die Fliegenschwärme hin und her schlagen. Sie tragen jedes einen Strohsack um den Kopf und fressen schnaubend. Oben auf dem Wagen ist Betrieb: Laut redend stehen darauf zwei Männer und hängen die Wagenladung Sack für Sack an einen großen Eisenhaken, der die Säcke über ein langes Seil nach oben durch eine Deckenluke zieht, vielleicht sechs, sieben Meter hoch. Aus dem Dachspeicher oben hört man das Rufen und Lachen der Arbeiter, die die Säcke vom Haken nehmen und irgendwo verstauen. Quietschend wird dann das Seil mit dem dicken Haken wieder herabgelassen. Einer der beiden Männer unten auf dem Wagen hängt gleich den nächsten Sack an, während der andere vom Wagenrand Säcke in die Mitte der Ladefläche schleppt, damit sie von dort sofort aufgehängt werden können.

Dabei lässt wohl der Schleppende einen Sack unvorsichtig auf den Fuß des anderen fallen, so dass der aufschreit und seinen Kollegen anschnauzt: „Mann, Siemßen, pass doch upp, Schietkerl. Du büst doch'n groten Döösbarthel büst du ja, 'n ganz groten!“ Und den „Döösbarthel“ schleudert er so wütend heraus, dass es klingt wie „Döösbaddl“. „Holl du man dien Muul“, keift der andere zurück. Worauf der erste wieder: „Dat schall ik gor nich. Ik schall di seggn, dat du'n Schietkerl büst.“ Abschließender Fluch: „Ik lat di insteken (verhaften), du Aas!“ Und weiter geht die Arbeit. (So eine ähnliche Auseinandersetzung finde ich bei Ludwig Ewers.)

Benrath wird von einem vor sich hin grummelnden alten Mann von hinten angestoßen. Er schaut sich um und tritt zur Seite. Es scheint der Kutscher des Planwagens zu sein, denn der geht geradewegs zu den beiden Pferden. „Deit mi leed“, brummelt er und dreht sich kaum zum Angestoßenen um, der ihm da im Weg stand.

Gleich rechts hinter dem Toreingang findet Benrath das Kontor: Durch große Fensterscheiben hindurch sieht er einen hellen Raum, in dem mehrere junge Männer an Tischen stehen und schreiben. Gerade will er auf die Tür zu diesem Kontorraum zugehen um anzuklopfen, als er von einem Mann angesprochen wird, der soeben aus einer anderen Tür in die Diele getreten ist. „Kann ich etwas für Sie tun?“ Benrath sieht sich einem groß gewachsenen Mann gegenüber, jung, noch keine dreißig. Ein freundliches, waches Antlitz schaut ihn an. „Dr. Benrath ist mein Name. Ich suche den Konsul. Ich möchte gern dies Paket mit dem Schiff nach Schweden senden. Bin ich hier richtig?“ Der Mann, dessen Wesen alert und geschäftig wirkt, tritt auf ihn zu und sagt: „Geben Sie das Paket mir. Mein Name ist Nölting. Ich bin der Vize-Konsul. Ich kann mich Ihrer annehmen. Folgen Sie mir hier ins Comptoir. Der Prinzipal wird aber auch gleich erscheinen.“

Christian Adolph Nölting (1794 – 1856), Stellvertreter Johann Anton Grimms und nach dessen Tod sein Nachfolger als schwedischer Konsul, stammte aus einer arrivierten Lübecker Kaufmannsfamilie (Vater Ratsherr und Bürgermeister) und war später ein angesehener Kunstförderer, Theodor Storm, Emanuel Geibel und andere Kulturgrößen der Zeit verkehrten in seinem Haus. Das ist wohl der Grund, dass man über ihn heute mehr erfahren kann als über Johann Anton Grimm. Sogar eine Daguerreotypie aus dem Jahre 1848 von dem 54-Jährigen habe ich bei Wikipedia gefunden, das eben dieses alerte Gesicht zeigt. Schade, dass es nicht wenigstens ein gemaltes Porträt Johann Antons gibt.

Dieser Vize-Konsul Nölting ist bei Benraths Besuch erst 29 Jahre alt. Mit dem Paket unter dem Arm, das er Benrath gerade abgenommen hat, öffnet er forsch die Tür zum Kontor und betritt vor Benrath den Raum. Durch mehrere Fenster zur Straße hin strahlt helles Sonnenlicht herein, und auch von den Dielenfenstern her, durch die hindurch man zum Planwagen hinaussehen kann, fällt Licht ein. Zwei brusthohe Doppelpulte und zwei niedrigere Tische stehen im Raum verteilt. Sie sind überquellend mit Aktenbergen bedeckt. Auf jedem Pult eine „Moderateurlampe“. (Das waren zu der Zeit übliche, aus Frankreich eingeführte Petroleumlampen mit einem Regler, modérateur.) Vier junge Männer, wohl ein Kommis und drei noch fast knabenhafte Lehrlinge, die ihre fünfjährige Kaufmannsausbildung hier machen, stehen (stehen!) an den Pulten und schreiben eifrig auf Zetteln, Papieren, Aktenfolianten. Sie wirken, als ob sie gerade lachend miteinander geredet hätten. Blitzschnell wenden sie sich nämlich ihren Papieren zu, als der Vize-Prinzipal den Raum betritt.

Einer der Lehrlinge legt bei Benraths Eintreten augenblicklich seine Schreibfeder auf das Pult, eilt an die Wand, die voller mit Aktenordnern gefüllter Regale und mehrerer Landkarten ist, und holt von dort einen Stuhl, den er wortlos dem Besucher hinstellt. Benrath bedankt sich und nimmt Platz, Hut auf dem Schoß. Der junge Vize-Prinzipal setzt sich an seinen Tisch. Er sitzt, steht nicht. So sieht Benrath auch gleich, wo der Platz des Prinzipals ist: Am größten Tisch, davor ein Stuhl mit Armlehnen.

Wenn Sie möchten, dass Ihr Paket noch heute abgeht, dann müssen wir uns beeilen“, sagt Nölting. Das Paket wird von einem der Lehrlinge gewogen, ein anderer bringt Unterlagen, der Vize-Konsul schreibt, rechnet, nennt Benrath den Preis für die „Expedition“, Benrath holt das nötige Geld aus seiner Ledertasche und bezahlt.

Genau in diesem Augenblick öffnet sich mit einem leisen Knarren eine Hintertür zum Kontor, und herein tritt ein älterer Herr mit einem gepflegten vollen Knebelbart und weißem, schütterem, streng zurückgekämmtem Haar in einer etwas abgetragenen grauen Joppe. Er wirft nebenhin einen Plattdeutsch gesprochenen Satz zum Kommis, der daraufhin aufsteht und zur Dielentür hinausgeht, um den Auftrag, den er da offenbar gerade erhalten hat, auszuführen. Dann geht der Alte langsam um die Tische herum zu seinem Armlehnenstuhl und setzt sich: Der Prinzipal, Generalkonsul Grimm. Er verneigt sich ernst gegenüber dem Kunden und murmelt: „Mien Vize ümdeit sük all üm Sei?“ - „Verzeihung“, sagt Benrath verlegen lächelnd, „ich bin nicht von hier. Ich spreche Ihre Sprache nicht.“ - „Oh“, erwidert der alte Mann freundlich, „ich habe nur gefragt, ob mein Stellvertreter sich schon um Sie kümmert.“

Ich könnte jetzt den alten Mann, er ist 67 – genau mein Alter –, detailliert beschreiben und charakterisieren. In einem Roman müsste ich das. Ich würde es auch am liebsten fantasiereich machen. Im Szenario aber scheue ich davor zurück, geht es hier doch darum, wie er wirklich aussah und wie er wirklich war. Und wie gesagt: Es gibt weder Aufzeichnungen über ihn noch ein Porträt. Wir wissen nichts.

Ich überlege Folgendes: Er wird als Konsul und Kaufmann ein beschäftigter Mensch gewesen sein, energisch. Er hatte sicher seine Prinzipien, hatte Ehrgefühl (damals üblich), war wahrscheinlich streng gegenüber seinen Kindern und seinen Angestellten. Das muss man ja auch aus dem schließen, was wir von seinem Sohn in Riga wissen.

Dagegen lässt mich dies „Meinen lieben Kindern“ in seiner Notiz über den Besuch der Königin an einen freundlichen Herrn denken. Altersfreundlich? Nachlassende Kraft? Er verließ (verkaufte?) das Kontor in der Johannisstraße immerhin schon im folgenden Jahr, vermutlich um sich zur Ruhe zu setzen, und er starb bereits fünf Jahre später. Seine Frau war seit drei Monaten tot. Hat ihn das mitgenommen? Die drei älteren seiner sechs überlebenden Kinder, nämlich die drei Söhne, waren weit weg in Riga. Fühlte er sich einsam? War er enttäuscht, dass keiner seiner Söhne, in Riga so erfolgreich aufstrebend, sein Unternehmen in Lübeck übernahm?

Ich konstruiere, zugegeben spekulativ: So wie die alte Konsulin Bethsy Buddenbrook nach dem Tod ihres Mannes religiös geworden ist, so hält sich auch der alt und einsam werdende Generalkonsul plötzlich verstärkt an die Religion, sucht einen letzten Halt. Ich lasse auf seinem Schreibtisch im Kontor eine Bibel liegen.

In diesem Zusammenhang zitiere ich aus Wilhelm Grimms „Lebensskizzen“:

"Es ist bekannt, welch einen gewaltigen Umschlag das napoleonische Joch bei den damals lebenden Deutschen (und namentlich Norddeutschen) bewirkte. War der größere Teil der Deutschen vorher in Materialismus und Eigendünkel versunken gewesen, nun in der schweren Leidensszeit erwachten sie zu einem neuen Leben in christlichem Geiste und christlicher Hoffnung."

So sehr diese Sätze etwas über ihren Autor sagen, so sehr kann man sich doch tatsächlich fragen: Ist Johann Anton vielleicht ebenso schon in der Franzosenzeit religiös geworden?

Sprach er Französisch, die Sprache der feinen Gesellschaft? Er stammte nicht aus der feinen Gesellschaft, sein Vater war Pastor in Wismar gewesen. Wenn er Französisch sprach, dann wohl kein sehr gutes. Sicher sprach er Platt, wenn man wohl auch davon ausgehen darf, dass in seiner Familie Hochdeutsch gesprochen wurde, denn seine Frau war Baltin gewesen. Die Sprache der Kinder untereinander wird Platt gewesen sein. Möglicherweise konnte Johann Anton Schwedisch, eine ohnehin schon häufiger unter lübischen Kaufleuten verstandene Sprache, erst recht wohl beim diplomatischen Vertreter Schwedens zu erwarten. Englisch spielte in der Ostsee-Stadt Lübeck, ganz anders als im Atlantikhafen Hamburg, keine so große Rolle. (In einer Aktennotiz im städtischen Archiv finde ich übrigens den Hinweis, dass „ab 1806“ die englische Sprache in Briefen nach England verboten war. Das hatte allerdings politische Gründe und war eine ziemlich alberne Maßnahme Napoleons. Wird 1815 wieder aufgehoben worden sein.)

Er wird Zahnlücken gehabt haben, nichts Ungewöhnliches damals. Es gab Zahnersatz, aber der war unerschwinglich teuer. Konnte er sich den leisten? Vielleicht Gold zwischen den Backenzähnen? Weißes, schütteres, streng zurückgekämmtes Haar und einen gepflegten, vollen Knebelbart habe ich ihm verpasst, gegen die Regeln des Szenarios. Das habe ich von einem Foto seines Enkels Wilhelm Grimm, meines Urgroßvaters, des Verfassers der Grimmschen „Lebensskizzen“. Der blickt ernst aus schweren Augenlidern in die Kamera. Unwillkürlich ist das das Bild, das ich von Johann Anton habe. Er sah nicht so aus, aber so sehe ich ihn. Und so lasse ich ihn Benrath heute am Mittwoch, dem 24. September 1823, sehen.

Das Geschäft mit dem Paket wird mit dem Vize-Konsul rasch abgewickelt. Der empfiehlt sich kurz darauf, indem er sich höflich vor dem besuchenden Kunden verneigt. „Beehren Sie uns wieder. Ich muss mich um eine neue Fuhre kümmern.“ Benrath erhebt sich leicht vom Stuhl. „Ich bitte Sie, Herr Nölting, Sie haben sicher gut zu tun.“ – „Oh ja, wir Kaufleute müssen laufen. Kooplüüt – Looplüüt.“ Er wirft den Arbeitern bereits im Hinausgehen in die Diele Anweisungen zu. (Im Plattdeutschen sagt man: „up dei Dääl“, beim Hinausgehen auf die Diele.)

Der alte Prinzipal lacht, zeigt dabei ein oder zwei Zahnlücken. „Die Jungen sollen laufen. Als ich jung war, bin ich auch gelaufen. Darf ich Ihnen einen Liqueur anbieten? Einen Kümmel? Einen Absinth?“ Zwischen ihm und Benrath kommt es zum Gespräch, ich lasse sie Sympathie zueinander entwickeln.

Ob der Konsul, fragt der junge Besucher, den dänischen Konsul Herrn Platzmann in der Mengstraße kenne, er wolle bei ihm eine Schiffspassage nach Kopenhagen buchen. „Nach Kopenhagen?“, fragt Grimm. „Da sind Sie bei Herrn Platzmann richtig.“ – „Eigentlich möchte ich nach Stockholm“, sagt Benrath. Wenn er nach Stockholm wolle, antwortet Grimm, könne er die Passage auch bei ihm bekommen. Er brauche nicht über Kopenhagen zu fahren, sondern könne eine der schwedischen Postyachten nach Ystad nehmen und dann von dort weiter nach Stockholm segeln. „Für wann planen Sie denn Ihre Reise?“ Benrath meint, es sei für ihn am günstigsten, wenn er im kommenden Sommer reisen könne. „Nächstes Jahr?“, ruft der Konsul aus und erklärt, dass er dann ja mit dem neuen Dampfer nach Kopenhagen fahren könne. Ein Reeder sei nämlich gerade dabei, die Lizenz für die Einrichtung einer regelmäßigen Dampferlinie von Lübeck nach Kopenhagen zu beantragen. Es sei doch sicher eine schöne Erfahrung, die neueste Technik kennenzulernen. Ob er schon mit dem Travedampfer gefahren sei. So ein Dampfsegler mit großen Schaufelrädern an den Seiten werde auch auf der Linie nach Kopenhagen eingesetzt werden, nur größer natürlich. Er könne dann mit einem anderen Schiff nach Stockholm weiterreisen. Diese Passage könne er auch bei ihm im schwedischen Konsulat buchen.

Es gebe aber, fährt der Alte fort, so schöne Segelschiffe in Lübeck (Er spricht es Niederdeutsch „Lübeek“ aus). Wenn er wolle, könne er nachher, sobald die Pakete für die Yacht auf den Wagen geladen seien, zusammen mit ihm zum Hafen gehen, zum Verladekai. Er habe mit dem „Yachtkaptain“, er verbessert sich sofort: „Yachtkapitän“, er habe mit dem Yachtkapitän etwas zu besprechen. Dann könne er ihm die Lübecker Schiffe erklären.

Ob die Geschäfte gut gingen, will Benrath wissen. „Inzwischen wieder“, entgegnet Grimm. „In der Franzosenzeit haben wir schon sehr gelitten. Wir haben viele Verluste gehabt. Ich habe mal eine Seifensiederei betrieben. Die musste ich zumachen, sie brachte nichts mehr ein, die Konkurrenz aus Frankreich war zu groß.“ – „Wie war das möglich?“, fragt Benrath, und der Kaufmann antwortet: „Als wir 1811 zusammen mit Hamburg und Bremen Teil des Kaiserreichs Frankreich wurden als „Département des Bouches de l'Elbe“, da hofften wir, zollfrei nach Paris liefern zu können. Aber wir wurden von Napoleon bitter enttäuscht, denn wir mussten hohe Zölle auf unsere Lieferungen nach Paris zahlen, während wir dagegen gezwungen wurden, bei uns französische Waren zollfrei einzuführen. Gegen die Konkurrenz kamen wir nicht an. Und nach England durften wir ohnehin nicht exportieren. Das hat meine Seifensiederei nicht überlebt.“

Ich zitiere aus Wilhelm Grimms „Lebensskizzen“:

"Im „Gaedickens Fabriken- und Manufakturlexikon“ finden sich für das Jahr 1798 für Lübeck 72 Fabrik-Firmen verzeichnet, doch wird diesbezüglich bemerkt: „Mit wenigen Ausnahmen stellten diese sämtlichen Fabriken in der französischen Zeit (1806 – 1813) ihren Betrieb ein.“ Auch Grimm sah sich genötigt, das zu tun."

Da ich wenig über Seifensiedereien in Lübeck um 1800 erfahren habe und auch über die Seifensiederei an sich nur finde, dass sie zur Zeit eine Liebhaberei ist, eine grüne Bio-Mode, leicht von jedermann in der Küche durchzuführen, bin ich froh, für das Jahr 1823 darauf verzichten zu können, Benrath Grimms Seifenwerkstatt besuchen zu lassen. Ich müsste zu sehr meine Fantasie spielen lassen, könnte keine Informationen über Seifensiedereien um 1800 einbringen, unpassend für ein Szenario.

Grimm äußert sich ähnlich negativ über die Franzosen und Dänen wie vorhin der junge Freiherr aus Pommern, wenn auch verbal zurückhaltender, „dat Takeltüüch (Takelzeug), de Franzosen“, ist das Äußerste, was er sagt. Gerade auf die Franzosen ist er gar nicht gut zu sprechen, zu sehr habe er unter ihnen gelitten, sagt er. (Noch heute hört man bei Altstadtführungen, die Franzosen hätten in Lübeck „gehaust wie die Vandalen“.) Er spricht die Hausdurchsuchung von vor zehn Jahren, am 24. Juni 1813, an. In Wilhelm Grimms „Lebensskizzen“ wird kein Grund für die „Haussuchung“ angegeben. Mündliche Überlieferung in meiner Familie: Sie habe etwas mit von den Franzosen verordneten Schanzenarbeiten zu tun.

Folgendes entdecke ich in einer Geschichte Lübecks: Nach der Rückkehr der Franzosen im Sommer 1813 – sie hatten sich nach der Niederlage gegen Russland kurz zurückgezogen – sei dies gekommen:

"Bürgerentwaffnung, Strafkontribution, Einquartierung und Zwangsrequisition – das waren die Stichworte für das Geschehen in den nächsten sechs Monaten. Freilich hatte die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Stadt bereits so stark gelitten, dass trotz mehrfacher Geiselnahme noch nicht einmal der sechste Teil der auf 6 Millionen Franc festgelegten Kriegssteuer aufgebracht werden konnte. So wurden denn die Reallasten entsprechend erhöht, das heißt: Wer keine finanziellen oder materiellen Leistungen erbringen konnte, wurde noch häufiger als andere zum Schanzdienst herangezogen. Auf den Wällen der Stadt sollen damals täglich 300 bis 500, zuletzt sogar über 2.000 Einwohner an der Wiederherstellung der Festungsanlagen gearbeitet haben. Ein zweites Mal wollten die Franzosen die Stadt nicht kampflos aufgeben: Die Alleen vor den Toren wurden niedergehauen, vor dem Mühlentor 3, vor dem Burgtor 4 Gartenhäuser rasiert, die Wallallee und die schönen Bäume, die die Wälle an den Seiten bis unten herunter zierten, wurden von den dänischen Soldaten mutwilligerweise niedergehauen und verkauft, rings um die Stadt wurde die Gegend eine Wüstenei. Die Brücken wurden durchbrochen, die Einwohner nahe den Toren mussten ihre Häuser räumen, Furcht und Bangigkeit ergriff bei diesen Vorkehrungen die Gemüter."

Schanzenarbeiten: Hat Johann Anton Grimm sich geweigert, an den Zwangsarbeiten teilzunehmen? War er nicht in der Lage zu Kompensationszahlungen? Kurz, auch bei ihm müssen Franzosen wie Dänen ein Gefühl abgrundtiefer Ablehnung zurückgelassen haben. Entsprechend positiv lasse ich ihn über Bernadotte reden, den Kommandeur der schwedischen Truppen, die schließlich die Franzosen verjagt haben: Der sei von allen mit lautem Jubel als Befreier empfangen worden. („Jubelnd wurde er vom Volke begrüßt, um so begeisterter, da er der Stadt sofort ihre Selbständigkeit zusicherte“, lese ich in einer anderen Geschichte Lübecks.)

Aber Bernadotte sei doch auch der französische Eroberer 1806 gewesen, bemerkt Benrath. „Da war er noch Franzos'“, sagt Grimm verschmitzt, „als Schwede hat er uns befreit.“ – „Und die Plünderungen 1806?“ – „Das waren die gemeinen Soldaten. Bernadotte wollte das nicht.“ – „Bernadotte wollte das nicht? Warum ist er dann nicht eingeschritten?“ – „Er hat es versucht. Aber die beiden anderen Marschälle, es waren Soult und Murat, waren gleichgültig. Sie ließen die Soldaten gewähren. Bernadotte hat verzweifelt gegen die Plünderungen angekämpft. Das hat er mir selber gesagt. Wenn er Offiziere zum Eingreifen angehalten hat, haben sie seine Befehle nur halbherzig befolgt, und wenn er das Stadtviertel verließ, ging es wieder weiter. Zwei Tage lang ist er vergeblich gegen die Plünderungen vorgegangen. Erst am dritten Tag hat er für Ruhe sorgen können. Aber da ist schon zuviel passiert. Das hat mir der Kronprinz – damals war er noch Kronprinz – persönlich erzählt.“

Ich wage es, Bernadotte mit Johann Anton gesprochen haben zu lassen. Ich halte das für sehr gut möglich. Nach der Rückeroberung Lübecks im Dezember 1813 beispielsweise, oder als Bernadotte im Mai 1814 von den Siegesfeiern aus Paris zurückkam – am 26. Mai bestieg er in Travemünde eine Fregatte nach Stockholm –, da kann er, etwa während eines Empfanges seines Lübecker Konsuls, sich ohne weiteres mit ihm unterhalten haben – nachdem er einen tüchtigen Schluck Champagner aus einem prachtvollen Glaskelch genommen hat.

Überhaupt die Schweden“, fährt Grimm in seinem Gespräch mit Benrath fort. Und aus tiefster Seele, aber auch als schwedischer Konsul, lasse ich ihn das Hohelied auf Schweden und die lübisch-schwedische Freundschaft singen: Schon Gustav Adolf habe seinerzeit für die Vernichtung des katholischen Irrglaubens hier im Norden gesorgt, und Gustav Wasa sei von einem Lübecker Kaufmann mit Geld ausgestattet worden, damit er seine verlorengegangene Macht in Stockholm habe zurückholen können. Allein die Erzfeindschaft mit Dänemark habe Schweden zu Verbündeten und Freunden Lübecks gemacht – auch wenn es vor hundert Jahren einmal Kriege zwischen den Hansestädten und Schweden gegeben habe.

Von der Diele her dringt Lärm, Hufeschlagen, Rufe des Kutschers, Eisenknirschen der Wagenräder auf Steinfliesen. Benrath sieht durch die Fenster zur Diele, wie der inzwischen leere Wagen von den beiden Pferden zum Hintereingang hinausgezogen wird. „Im Hinterhof werden die Tiere abgeschirrt“, erklärt Grimm. „Sie kommen dort in den Stall, und der Wagen bleibt erstmal im Hofe. Auf der Deel muss Platz gemacht werden, da kommt gleich ein neuer Wagen herein.“

Benrath spricht Grimm auf seinen Begleiter an, den Freiherrn von Rönnstein: „Sie kennen ihn?“ – „Den kenne ich. Ein ehrenwerter junger Mann.“ – „Er spricht arg gegen alles Nicht-Deutsche, vor allem gegen die Juden.“ – „Nun ja, ein wenig hitzköpfig, das ist er wohl. Seine Meinungen sind oft übertrieben, Deutschtümler, er ist eben ein Freiherr aus Pommern. Ich glaube, er war vor sechs Jahren bei dem Studentenfest auf der Wartburg dabei, wo sie Bücher verbrannt und geschworen haben, alles Fremde in Sprache, Kleidung, Sitten und Bräuchen zu vermeiden. Zwar ein junger Hitzkopf, aber er hat nicht immer unrecht.“ – „Richten denn die Juden Schaden an in der Stadt?“ – „Ach, die Juden aus Moisling. Nein, nein, sie richten keinen Schaden an. Sie haben nur eben den Herrgott auf dem Gewissen. Die Bürgerrechte, die sie von den Franzosen erhalten hatten, sind ihnen ohnehin wieder abgesprochen worden. Hier in Lübeck dürfen sie nicht leben. Warum lassen sie sich nicht taufen?“

Ich gehe davon aus, dass mein Ahn so antisemitisch gedacht hat wie viele. Man war gegen das Judentum aus religiösen Gründen („Jesusschänder“), und viele hassten die Wucherer, die Kredithaie: „Wat uns de Franzosen laten hewwen, dat nemen uns de Juden“, sagt einer in Fritz Reuters „Ut de Franzosentid“. Aber man machte gern gute Geschäfte mit ihnen, Kaufmann blieb Kaufmann.

Ein Lehrling kommt herein und sagt zu seinem Prinzipal: „Herr Kunsel, de Waagn is klaarmaakt.“ (In Benraths Ohren: „Worgn is klorrmorkt.“) Grimm erwidert ein kurzes: „Is gaut, Jung. Ik kümm ruut.“ Er blickt mit seinem ernsten Ausdruck zu Benrath. „Begleiten Sie mich zu den Verladekais? Ich werde Ihnen unsere schönen Schiffe zeigen.“ – „Gern“, antwortet der Collaborator. Bevor der Alte sich jedoch erhebt, greift er zur Bibel, die neben ihm auf dem Tisch liegt. Ohne langes Blättern schlägt er sie auf und liest:

"De endige handt wert herschen, De averst träch ys, de wert tyns möthen geven. Sorge im herten, krencket, averst ein fründlick wort vorfrowet. De rechtverdige hefft ydt beter, den syn negeste, Averst der Godtlosen wech vorvöret se. Eynem unendigen geret syn handel nicht, Averst ein endich minsche, wert ryke. Up dem wege der gerechtigkeit, ys dat levent. Und up dem gebänten styge, ys nen dödt."

Amen. Aus den Sprüchen Salomonis. Haben Sie verstanden?“ Benrath schüttelt den Kopf. Der Konsul sagt: „Das ist altes Niederdeutsch. Ich habe hier die Lübecker Bibel von 1533, die Bugenhagenbibel. Mein wahrer Schatz. Sind Sie ein guter Christ?“ – „Schon“, sagt Benrath. Grimm schaut noch einmal in die Bibel. „Hören Sie zu, ich übersetze für Sie: Die fleißige Hand wird herrschen, die aber träge ist, die wird Zins müssen geben. Also Frondienst leisten“, erklärt Grimm aufblickend und fährt fort: „Sorge im Herzen macht krank, aber ein freundliches Wort erfreut. Der Rechtfertige hat es besser denn sein Nächster, als sein Nachbar.“ Grimm schaut wieder kurz zu Benrath. „Aber der Gottlosen Weg verführt sie. Einem Unfleißigen gerät sein Handel nicht. Aber ein fleißiger Mensch wird reich. Auf dem Wege der Gerechtigkeit ist das Leben, und auf der gebahnten Stiege ist kein Tod. Das bedeutet, auf dem vom Herrgott geebneten Weg in den Himmel ist das ewige Leben. Amen.“ Grimm legt die Inkunabel beiseite und erhebt sich. Er sagt: „Der Fleißige wird herrschen im Reiche Gottes. Das sagt unser Herr.“ – „Et pecunia abundabit“, denkt ergänzend der Lateiner Benrath. Der Protestantismus, das ideologische Rüstzeug der niederländischen und englischen und hansischen Großhändler.

Im Hinausgehen ruft der Generalkonsul, jetzt im Umhang, Hut auf dem Kopf und Stock in der Hand, seinem Vize zu, der in der Diele mit Männern verhandelt: „Ik gah tau dei Yacht.“ – „Is gaut“, antwortet der. In dem Moment kommt mit viel Getöse ein weiterer Planwagen durch das Tor in den Vorhof gefahren. „Brrr!“, hört man den Pferdeführer laut rufen. Grimm und Benrath weichen aus und treten dann hinaus auf die Straße, gefolgt von einem gerade sechzehnjährigen Lehrling, der einen Handwagen voll gefüllt mit Paketen, Säcken, zusammengeschnürten Briefsendungen und Beuteln aller Art, alles Post für Ystad, hinter sich her klappernd und ratternd über das grobe Kopfsteinpflaster zieht. Benraths Blick wird kurz angezogen von einem auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehenden, in Grau gekleideten jungen Mann, der auffällig unruhig und finster aus einem blassen Gesicht zu ihm herüberstarrt. Aber nur halb bewusst nimmt er das Gesicht wahr, denn im Fortgehen ist er ganz ins Gespräch mit dem alten Konsul vertieft.

Ich lasse in meinem Szenario die Post nach Ystad direkt von Lübeck abgehen, obwohl es in dem Stadtführer von 1814 heißt, die Postyacht fahre in Travemünde los. Ich mache das, weil mich eine Fahrt nach Travemünde zu sehr von Lübeck entfernen würde. Eine solche Fahrt wäre ja reizvoll mit dem Dampfsegelboot. Das kenne ich aber nicht, ich müsste zuviel fantasieren. So möchte ich das Szenario-Geschehen doch lieber in dem berühmten Hafen von Lübeck beenden. Warum soll die Yacht heute nicht ausnahmsweise in Lübeck in der Untertrave festgemacht haben?

Die beiden gehen, gefolgt von dem ratternden Karren, die Johannisstraße hinauf, müssen immer wieder anhalten und sich an entgegenkommenden Wagen und Pferdefuhrwerken vorbeizwängen. Vor dem offenen Tor zu einer Schmiedewerkstatt, aus dem lautes Eisengehämmer dringt, stehen zwei junge Handwerksgesellen und rauchen kurze Holzpfeifen. Eine alte Frau schimpft: „Dei jung'n Mannslüüt smöökt up dei Schtraat jüst so as wenn sei nix tau daun hefft“ (Mecklenburgisch), und geht kopfschüttelnd vorüber. Am Rathaus und an der Marienkirche vorbei, hinter ihnen der klappernde Postwagen, geht es weiter durch die Mengstraße wieder hinab zur Untertrave. Dort stoßen sie direkt zu den Kaimauern. Benrath sieht sich plötzlich mitten im Hafen bei den Schiffen, die in einer unübersehbar langen Reihe bis weit hinten hinter der Travebiegung am Kai festgemacht liegen, kleinere Ein- und Zweimaster, aber auch einige größere Dreimaster. Lautes, geschäftiges Treiben überall, Wagen und Karren fahren herum, werden beladen, entladen, Schnauben der Pferde, Rufe der Schauerleute, Segeltaue schlagen an die schwankenden, knarrenden Mastbäume, über denen Möwen schweben, Wellen klatschen, Tauben picken auf dem teils gepflasterten, teils schlammigen Boden, flattern auf, oft Pferdemist, flachgetreten, sieht aus, als wären die Kopfsteine mit dem Mist ausgefugt. Von einem Haufen schmutziger Säcke, die an einer Hauswand gestapelt liegen, wird unwirsch ein Hund verscheucht, schwere Schritte auf den hölzernen Decks, würzige und faulige Gerüche vermischt mit der Witterung von Wasser, Holz und Kalfater-Teer. Etwas abseits uriniert ein Arbeiter an eine Backsteinmauer. Drüben von der gegenüberliegenden Seite der Trave das Hämmern und Klopfen auf den Werften und Docks der Lastadie (ausgesprochen: „Lastadi“, Betonung auf der letzten Silbe). Aus einem der Schiffe am Kai wird ein toter Fisch ins Hafengewässer geworfen, ein Schwarm Möwen stürzt sich laut kreischend und zankend darauf. Das alles ist es, was Benrath, der Lehrer aus dem Süden Deutschlands, wahrnimmt.

Wenn man sich mit den verschiedenen Segelschiffstypen beschäftigt, die im 18. Jahrhundert durch die Ostsee gefahren sind, dann wird einem klar, eine wie lange Entwicklung da schon stattgefunden hatte: Die Zahl der Betakelungsarten und Rumpftypen ist Legion, für den Laien vollkommen verwirrend. Verwirrt ist auch der Binnenländer Benrath, als er an der Lübecker Kaimauer entlanggeht und sich die Schiffe zeigen und erklären lässt, die all die verschiedenen Frachten und Güter durch die Meere transportieren, Eisen, Wein, Bier, Salz, Tuche, Blech, Alaun, Zucker, Glas, Tabak, Hopfen, Juchtenleder, Talg, Segeltuch, Wachs, Flachs, Seife, Kaffee, Essig, Öl, Kork, Pflaumen, Südfrüchte, Papier, Terpentin, Grünspan, Getreide, Holz – von Stockholm nach Reval, von London über Kopenhagen nach Helsingfors, von Lübeck nach Riga, von Nowgorod über Brügge nach Bordeaux, von Liverpool nach Bergen und von dort nach St. Petersburg. Da liegen die zweimastigen Briggs und Schoner, Toppsegelschoner wie Gaffelschoner, die Brigantinen und Galeassen und Holke und Schoner-Briggs und die alten holländischen Kraweele. Die Frachtsegler haben Fockmasten, Großmasten, Besanmasten, und die Betakelung besteht aus Schratsegeln und Rahsegeln, Schratsegel sind Gaffelsegel, Stagsegel, Hochsegel, Lateinersegel, Sprietsegel, da sind die Focksegel an den Fockmasten, Besansegel an den Besanmasten, Toppsegel, Rahsegel, Bramsegel, Marssegel an den Großmasten. Die kleinen Museumsschiffe, die heute, Autolärm im Hintergrund, im Museumshafen vor sich hin dümpeln, heißen Gertrud, Verwisseling, Die Zwillinge von Kappeln, Johanne, Mathilde, Krik Vig, Ellen, Hansine, Krista Rud, Rikke … Hießen so auch damals die Schiffe?

Die großen Dreimast-Barke und Vollschiffe kommen meist nicht die Trave herauf bis Lübeck, die machen zum Löschen und Aufnehmen der Ladung in Travemünde fest.“ Herr Grimm, der Hochseehändler (Reeder?), kennt sich aus, aber nicht nur, weil er ein Hochseehändler ist. Alle Lübecker kennen sich da aus, das gehört zum Leben der alten Hansestadt an der Ostsee, jeder Hafenstadt an der Ostsee. Schon der zehnjährige Wismarer Pastorenjung wird das alles gekannt haben, 1766.

Die Schiffe fahren nicht nur Güter in die Welt“, erklärt Grimm, „sie bringen auch Güter aus aller Welt hierher. Sie werden nie ein unbeladenes Schiff die Trave herauffahren sehen.“ – „Verlorener Verdienst?“, fragt Benrath. Grimms Antwort: „Das zwar auch. Aber der wahre Grund ist: Die Schiffe sind zu leicht ohne Ladung, der Wind würde sie zu sehr hierhin und dorthin ans Ufer treiben. So haben die Lübecker den Rotspon entdeckt.“ – „Rotspon?“ – „Kennen Sie den Lübecker Rotwein nicht? Spon, vom Holzspan der Weinfässer. Auch im Mittelalter mussten die Schiffe, wenn sie keine Waren brachten, Ballast tragen, um nach Lübeck hereinzusegeln, so auch die Schiffe aus Frankreich. Damals war französischer Rotwein nichts wert, und man brachte die Rotwein-Fässer aus Bordeaux als reinen Ballast hierher und lagerte sie unbeachtet irgendwo, so lange, bis der Wein seine Reife erhielt. Da merkten die Menschen irgendwann zufällig, dass der alt gewordene Wein besonders gut war. Und dann fingen die Kaufleute an, mit diesem Bordeaux zu handeln: So sind wir auf den Rotspon gekommen. Heute eine teure Ware.“ (Ein Touristenführer-Dööntje)

Die beiden Männer müssen einem Träger ausweichen, der sie, einen riesigen Sack auf der Schulter, mit schnellen, kurzen Schritten, ächzend unter seiner Last, fast angerempelt hätte. Er flucht zwischen den Zähnen über das Hindernis und stampft weiter zu einem Speicher, wo der Sack hin soll. „Wir sind wohl im Weg“, sagt Benrath schüchtern, und der Konsul lacht: „Ja, ja, hier wird fixing gearbeitet. Dat mutt sin. Sehen Sie einmal dort.“ 

Er zeigt auf einen ziemlich großen Zweimaster, der gerade hereingesegelt kommt. „Das ist eine Schnau. Wissen Sie, was eine Schnau ist?“ 

Benrath hat das Wort noch nie gehört. 

„Schnauen haben keinen Gaffelbaum“, erklärt Grimm fachmännisch. „Sehen Sie dort am Großmast?“ Er schaut Benrath an. „Der Großmast ist der hintere Mast, der größere.“ – „Achso“, macht Benrath nur. Sie sind stehengeblieben, und auch der Lehrling mit dem Handwagen muss warten. Grimm redet leidenschaftlich weiter: „Wenn Sie genau hinkucken, dann können Sie erkennen, dass das Vorderliek des Gaffelsegels nicht direkt am Mast befestigt ist. Das Segel hängt an der dünnen Spiere da. Kann man gut sehen. So können die Männer an Bord das Segel schneller rauf- und runterziehen. Manchmal knoten sie das Gaffelsegel auch mit einer Reihleine an das Jackstag.“ – Er sagt das ganz Lübeckisch: „Yäcksstääk“ – „Und kucken Sie mal an der Großrah, da ist ein separates Segel. Das haben nur die Schnauen, Briggs haben das nicht.“ Grimm geht völlig auf bei dem Anblick des Schiffes, das gerade halst und dann mit Tauen an die Kaimauer gezogen wird. 

Benrath versteht nichts.

Sie gehen weiter, müssen über einen Stapel Eisenketten steigen, der Lehrling macht einen großen Bogen um den Kettenhaufen über das grobe, durchlöcherte Pflaster, Säcke fallen herab, er hält an, hebt sie, vor sich hinschimpfend, wieder auf, weiter geht’s. Sie hören aus dem ohnehin schon lauten Stimmengewirr heraus einen Arbeiter einem anderen zuschreien: „Treck de kodde Lien doruut, Kuddl!“ Woraus Kurtel die kurze Leine herausziehen soll, bekommen sie nicht mit. Da macht der alte Konsul seinen Begleiter auf ein anderes Segelschiff aufmerksam, das am Kai festgemacht liegt, auch einen Zweimaster, aber einen ziemlich kleinen. „Unsere Postyacht“, sagt er und erklärt: „Zweimastiger Gaffelschoner, Großmast und Besanmast, Gaffelbetakelung mit Stagsegel, Rundgattboot, eine Galeote, Rumpftyp aus Holland, Küstenfrachtschiff“, und so weiter.

Eine schwedische Postyacht war nicht viel größer als eine heutige Segelyacht. (Auf dem Foto von so einer Postyacht lese ich die Maße: 15 Meter lang, 5 Meter breit, der Großmast 18 Meter hoch.) Die Boote waren weniger schnittig als die Segelboote, die wir heute so kennen, für unser Auge eher klobig, breit, und natürlich nicht aus weiß lackiertem Kunststoff, sondern aus einfachen Holzplanken. Galeoten hießen diese Boote, wie ich lese. Das sind sogenannte Rundgattboote, Boote mit rundem Heck. (Im Duden steht falsch: mit spitzem Heck. Überhaupt sind Duden wie Wahrig bei solchen Fachbegriffen reichlich ungenau, stelle ich fest, wertlos. Besser schon Wikipedia, aber auch das nur zum ersten Informieren. Man muss schon die Fach-Websites (und -bücher) durchblättern, um Details zu erfahren. Und auch dort immer mal Widersprüchliches: Auch die Fachleute sind sich nicht immer einig.)

Damals galt so eine Yacht als schnell und wegen ihres geringen Tiefgangs als überall einsetzbar, auch und gerade in den engen Schärengewässern Schwedens. Die Besatzungen bestanden in der Regel aus sechs Mann. Eine Tour von Travemünde nach Ystad, an der Südküste Schonens gelegen, Luftlinie gut zweihundert Kilometer entfernt, dürfte in einem Tag zu schaffen gewesen sein, bei ungünstiger Witterung vielleicht in zwei Tagen.

Ich lasse den Konsul mit dem Kapitän der Yacht reden und gleichzeitig den Lehrling mit zwei Leuten der Yachtbesatzung die Postladung vom Karren in das Boot tragen und dort verstauen, während Benrath unbeteiligt beiseite steht und das in den Ladebewegungen schaukelnde Gefährt betrachtet. Das Szenario ist damit eigentlich am Ende. Der Kasseler Besucher soll nur noch in seine Pension gehen, wo ihm Witwe Hansen ein Mittagessen angeboten hat, Brathering mit Hirseklößen.

Bevor er sich von Generalkonsul Grimm verabschieden kann, nimmt er wieder dieses blasse, auffällig unruhig und finster zu ihm starrende Gesicht wahr, diesmal aber plötzlich sehr bewusst, denn blitzartig erinnert er sich, es vor dem Haus in der Johannisstraße gesehen zu haben. Er erschrickt, unwillkürlich zieht er seine Ledertasche mit dem Geld an sich, umgreift sie fester. Er wendet sich hastig an den Generalkonsul und fragt ihn, ob der den jungen Mann in der grauen Kleidung kenne. Grimm dreht sich um und schaut in die Richtung, die Benrath ihm zeigt. „Welchen Mann?“, fragt er. Benrath sieht hin. Der Mann ist fort. Viele andere Männer gehen an der Stelle umher, arbeiten, reden, rufen sich Worte zu, gestikulieren. Aber der junge Mann ist verschwunden. So sehr Benraths Blicke auch den Platz entlang der Kaimauer absuchen, er ist nirgends mehr zu sehen.

Auf dem Weg zurück in die Kleine Petersgrube schaut Benrath sich noch mehrmals um. Folgt ihm der junge Mann in Grau? Nein. Nichts. Da müsse er sich etwas eingebildet haben, beruhigt er sich, lässt die Tasche wieder lockerer von der Schulter hängen und tappt entspannt mit dem Stock auf den Boden.

Und doch, als er in der Kleinen Petersgrube die „federnde Hausglocke“ (Ewers) zieht und im Innern des Hauses das Läuten hört, als „Weetfru Hansen“ ihm die Tür öffnet und er im Hineingehen noch einmal zurückschaut … da sieht er den Mann drüben auf der anderen Straßenseite stehen. Erneut fährt er zusammen, springt in die schmale Diele des Hauses. „Was ist Ihnen, Herr Doktor?“, fragt die alte Frau erstaunt. Benrath stößt hervor: „Kennen Sie den jungen Mann, der dort drüben steht?“ Die Frau öffnet noch einmal die Tür und sieht hinaus. „Ein junger Mann? Wo ist ein junger Mann?“, fragt sie.

Er ist wieder verschwunden.






In der Dööns

Ein guter Monat ist vergangen, der Herbst fast schon vorüber, Bäume und Sträucher haben das meiste Laub verloren, nur noch wenige gelbe und braune Blätter hängen an Ästen und Zweigen. Collaborator Dr. Benrath ist wieder nach Lübeck gekommen und marschiert heute, an einem Sonntag, es ist Anfang November, erneut die Kleine Petersgrube hinauf. Er hat den Mann in Grau mit dem unruhigen, finsteren Blick im blassen Gesicht, der es auf sein Geld abgesehen hatte, keineswegs vergessen, hält daher seine Ledertasche fest unterm Arm und geht schnellen Schrittes, um den Inhalt der Tasche, es ist wieder viel Geld darin, so rasch wie möglich loszuwerden.

Er hat einen Brief nach Hamburg gesandt bekommen vom Vizekonsul Nölting: Die Karten für die Dampferpassage im Sommer des kommenden Jahres lägen im Kontor Grimm für ihn bereit, er könne jederzeit kommen, um sie zu bezahlen und in Empfang zu nehmen. Jederzeit, hieß es ausdrücklich in dem Schreiben, auch gern an einem Sonntagvormittag. So hat er sich in Hamburg wieder Lübecker Geld besorgt und sich dann gestern nochmals mit der Thurn-und-Taxisschen Postkutsche für, sagen wir, zwei Mark und acht Schilling (vielleicht dreißig Euro) auf den Weg gemacht, um diesmal allerdings nur wenige Tage in der Stadt zu bleiben.

Die Sonne strahlt von einem tiefblauen Himmel in die windstillen Gassen Lübecks. Trotzdem ist es bereits kalt, ein früher Winter hat sich schon seit Tagen angekündigt. (Das Klima mit heute nicht zu vergleichen: 1823 hatte die Erderwärmung noch nicht eingesetzt, noch lag Europa in einer Kaltzeit, die vom Anfang des 17. bis weit in die Mitte des 19. Jahrhunderts reichte. Die Jahre 1816 bis etwa 1820 übrigens besonders kalt: Der gigantische Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora im April 1815 hat, wie Klimaforscher später herausfanden, weltweit für eine zusätzliche Kälte gesorgt mit Missernten, Getreideteuerungen, Hungersnöten, vor allem im Jahr 1816. Über dies dunkle und kalte „Jahr ohne Sommer“, wie es heute genannt wird, dichtete Lord Byron: „The bright sun was extinguish'd, the icy earth swung blind and blackening in the moonless air. Morn came and went – and came, and brought no day.“ (Aus „Darkness“, 1816))

Benrath trägt bei seinem Gang zum schwedischen Generalkonsul – er ahnt im fröhlichen Sonnenschein nicht das verstörende Ende des Tages – einen dicken Winterpaletot, der ihm bis an die Waden reicht, um den Hals einen Wollschal – damals schrieb man noch „shawl“ –, seinen hellen Zylinder auf dem Kopf. Jetzt am Vormittag, die Gottesdienste sind vorüber, sind es vor allem Kinder, in Mänteln, die die Straßen lärmend, schreiend, lachend, spielend bevölkern. Ansonsten ist wenig Betrieb, keine Fuhrwerke unterwegs, die Kontorhäuser geschlossen. Sonntag ist der Tag des Herrn, man ruht.

Im Vorbeigehen wird Benraths Aufmerksamkeit in einen der Arme-Leute-Gänge gezogen, die von der Straße abgehen. Er bleibt stehen, blickt durch einen niedrigen Torbogen in den Seitengang hinein und sieht eine Gruppe von vier, fünf Mädchen, lange Röcke, Wintermäntel, aus Wollmützen hängen dicke geflochtene Zöpfe herab. Sie singen und klatschen sich dabei gegenseitig im Rhythmus ihres Kindergesanges abwechselnd an ihre linken und rechten Hände, in einer Abfolge, die der fremde Besucher nicht nachvollziehen kann. Als sie bemerken, dass sie beobachtet werden, laufen sie kichernd an die Seite und verschwinden hinter einer der kleinen Haustüren des Ganges. Weiter im Hintergrund des schmalen, ziemlich verkommenen Gangs sieht Benrath andere, kleinere Mädchen bei einem Hüpfspiel, ebenfalls singend.

Lächelnd geht er weiter. Und schon wird er wieder aufgehalten durch sechs Jungen, nein, es sind acht, die aus einem anderen Gang auf der gegenüberliegenden Seite in die Gasse stürmen und sofort ein Spiel beginnen. Noch ein neunter, kleinerer, kommt aus dem Gang hinterher gelaufen, darf auch mitspielen. Benrath ist fasziniert. Er kennt das Spiel nicht, versteht nur soviel: Zwei Parteien, die eine hat einen Schläger und schlägt damit einen kleinen, festen, harten Ball die Straße hinauf, den die anderen fangen müssen, zurückwerfen, der abgelegte Schlagstock muss getroffen werden, Entfernungen werden mit langen Schritten abgezählt, es wird viel und laut diskutiert. Die Jungen nehmen ihr Spiel sehr ernst. „Was spielt ihr?“, fragt Benrath einen von ihnen. Alle unterbrechen das Spiel, und der älteste versucht, mühsam Hochdeutsch sprechend, zu erklären: „Wir sspielt Klipp ...“ – „Wir sspielen Klipp“, verbessert ein anderer. „Ja, wir sspielen dat Klipp-Sspeel ... Sspiel.“ (Kinder holsteinischer Herkunft: „Wi sspeelt dat Sspeel.“ Mecklenburger würden sagen: „Wi schpäält dat Schpääl“, weiter östlich: „Wi schpääln.“) Der Junge versucht die Regeln zu erläutern. Aber Benrath winkt ab, das ist ihm zu kompliziert und dauert zu lang. „Spielt nur weiter“, sagt er, und die Kinder, die höflich ihr Spiel unterbrochen haben, machen sich wieder mit großem Ernst und laut schreiend an ihr Unternehmen.

Bei Ludwig Ewers wird dies Klipp-Spiel erwähnt. Es scheint unserem Kippel-Kappel („Kibbl-Käbbl“ ausgesprochen) aus der Nachkriegszeit in der Eimsbütteler Lindenallee zu ähneln, nur dass da nicht ein Ball, sondern der Kippel, ein kurzes, an den Enden angespitztes Stück Holz, mit dem Kappel in die Luft und weggeschlagen wurde, eine Art Cricket, in dem die eine Partei den Kippel möglichst weit wegschlagen, die andere ihn fangen und versuchen musste, den abgelegten Kappel mit dem Kippel zu treffen. An viel mehr kann ich mich nicht erinnern, zumal ich selber selten mitgespielt habe, das war mehr ein Spiel der größeren Jungs. Es führt jetzt zu weit, die genauen Kippel-Kappel-Regeln aufzuschreiben, die ich in einer Homepage irgendwo entdeckt habe. Die Regeln des Klippspiels finde ich nicht, müsste ich in einer Bibliothek suchen.

Solche Spiele gab es also offensichtlich vor zweihundert Jahren in den Gassen Lübecks. Hat auch der neunjährige Johann Anton das 1765 auf den Straßen Wismars gespielt?

Benrath denkt an sein Geld und geht weiter. Dennoch wirft er schnell einen Blick in den Seitengang, aus dem die Jungen in die Kleine Petersgrube herausgestürmt kamen: Ein so niedriger Torbogen, dass ein Erwachsener sich bücken muss, um hindurchzugelangen. Auch in diesem Gang ist alles sehr eng, sehr klein, die Hauswände schmutzig und verfallen. Dort leben die Armen, das weiß er, die Knechte und Mägde und Angestellten der reichen Kaufleute, die vorne in den Kontorhäusern mit den repräsentativen Fassaden direkt an der Straße wohnen, genauer gesagt früher einmal wohnten, als Lübeck noch die Königin der Hanse war, denkt Benrath, vor vierhundert Jahren.

Er geht nun entschlossen weiter, Kolk, Holstenstraße, Kohlmarkt, überquert den Rathausplatz, auf dem sich allerlei rot und blau uniformiertes Mannsvolk versammelt hat. Aber er will sich mit seinem teuren, klimpernden Tascheninhalt nicht mehr aufhalten lassen und geht in die Johannisstraße hinein und hinunter bis zum Kontorhaus des schwedischen Generalkonsuls. Heute, am Sonntag, ist das Eingangstor verschlossen.

Ich lasse an dem Tor einen Ewersschen schmiedeeisernen Klopfer hängen, der „beweglich in einer Angel hängt und mit seinem Kolben auf einem eisernen Amboss liegt“. Benrath hebt ihn an, schwer, und lässt ihn auf das eiserne Widerlager fallen, so dass es „dröhnt und der Widerhall dumpf im Innern des Hauses grollt“.

Eine ältere, kräftige Frau in einem einfachen Kittel öffnet. Benrath, der seinen Hut abgenommen hat, fragt: „Guten Tag. Ist der Herr Generalkonsul zu sprechen?“ – „Gaudn Dach. Sei sün' dei Herr Collaberater uut Hammorch föör dei Passaasch nah Schtockholm?“, stellt die Frau mit lauter, resoluter Stimme mehr fest als dass sie fragt. Benrath versteht und bejaht. „Kümmt Sei man herinner, dei Herr Kunsel sitt in't Kontoor un schrievt sien Korrespondenz.“ Sie gibt sich nicht die geringste Mühe Hochdeutsch zu sprechen, sie kann es nicht.

Ich stelle mir vor, dass im Hause Grimm immer schon eine Haushälterin gewirtschaftet hat, für den Haushalt eines wohlhabenden Kaufmanns im 19. Jahrhundert nicht ungewöhnlich – fünf Schilling Tageslohn (vier Euro), Kost und Logis frei, lese ich. Und ich stelle mir weiter vor: Die Haushälterin ist die gute Seele im Hause, verbirgt ihr herzliches Wesen hinter einer burschikosen Art und einem lauten, schnodderigen Tonfall, norddeutscher Charme. Als einfache Frau und gebürtige Lübeckerin spricht sie nur Platt, was spaßig geklungen haben muss, als die Hausherrin noch lebte: Baltische Anweisungen, Antworten auf Platt. Ich nenne sie Anna-Sophia, sie wird aber nur „Fieken“ genannt, Sophiechen, was sie gerne hört.

Diese Frau lässt Benrath in die feuchte, kühle, heute dunkle Diele ein mit den herumliegenden Eisenteilen, Lumpen und Sackhaufen. Sie verschließt das Tor, nimmt dem Besucher seinen hellen Filz-Zylinder ab – heute hat er keinen Stock – und führt ihn in das Kontor, das im Sonnenlicht hell erstrahlt und behaglich warm ist von einem in der Ecke stehenden gusseisernen Ofen, der Benrath bei seinem letzten Besuch gar nicht aufgefallen ist. Der Generalkonsul erhebt sich zur Begrüßung und bietet Benrath mit seinem ernsten Gesichtsausdruck einen Platz an, nachdem die ältere Haushälterin auch seinen Paletot in Empfang genommen hat. Eine junge Frau, Mitte zwanzig, steht an einen Tisch gelehnt bei dem alten Mann. „Dorothea, meine Tochter“, stellt der sie vor. Benrath spürt ihre Blicke auf den Berlocken an seiner silbernen Uhrkette, die an der Weste unter seinem grünen Jackett baumelt, und hofft, dass sie ihn darauf anspricht, so dass sie ins Gespräch kommen. Aber sie wendet sich der Haushälterin zu. Und während jetzt der Generalkonsul und der Collaborator ihr Geschäft abwickeln, unterhalten sich die beiden Frauen zwanglos auf Platt. Es wirkt auf Benrath, als setzten sie ein Gespräch fort, in welchem sie durch sein Kommen unterbrochen worden sind.

Grimm wendet sich an den jungen Besucher: „Haben Sie das Geld mit?“ Benrath öffnet seine Tasche, holt das Tuch heraus, bindet es auf und schüttet die Münzen auf den Tisch. „So viele Markstücke müssen Sie mit sich herumtragen“, sagt Grimm. „Wir Kaufleute sind inzwischen bei solchen Summen zu Banknoten übergegangen. Solche Münzhaufen sind zu unhandlich. Außerdem können Gelddiebe – die gibt es nun mal überall – mit den Noten nicht viel anfangen, denn keiner nimmt ihnen ab, solche „Bankzettel“ (den Ausdruck finde ich mehrfach) auf ehrliche Weise erworben zu haben.“ – „Ich trage auch nicht gern so viele Münzen mit mir herum“, entgegnet Benrath und zählt Taler Courant für Taler Courant und Doppelmark für Doppelmark und Acht-Schilling-Münze für Acht-Schilling-Münze auf den Tisch. „Ich habe immer Angst vor einem Überfall. Das letzte Mal ist mir eine düstere Gestalt bis vor die Haustür meiner Pensionswirtin gefolgt.“ – „Am hellichten Tage“, erwidert Grimm, „brauchen Sie sich nicht zu sorgen. Aber nachts müssen Sie schon achtgeben, bei uns in Lübeck („Lübeek“) hat es da schon in bestimmten Straßen um den Marktplatz herum böse Überfälle gegeben. Auch ich bin von so einer düsteren Gestalt verfolgt worden, mehrmals, und war froh, dass ich kein Geld bei mir hatte. Aber eine Uhr kann ebenso das Interesse eines gewissen losen Gesindels wecken, ein Ring, eine Krawattennadel, Manschettenknöpfe. Man kann nicht vorsichtig genug sein. Ich habe schon mit unserem Polizeisenator gesprochen, dass der Bruchvogt (Wachtmeister) und die Polizeidiener und Wächter auch des Nachts ein offenes Auge in den Straßen und Gassen unserer Stadt haben.“ – Benrath ruft lachend: „Jedenfalls bin ich erleichtert, mich meiner Geldlast entledigt zu haben. Ich gehe jetzt ruhiger durch die Straßen.“

In diesem Moment öffnet sich eine Hintertür, und eine Frau mit einem kleinen Mädchen in langem Kleid kommt herein. „Gaudn Dach, Herr Kunsel, gaudn Dach, Madahms“, sagt sie, und das Mädchen, vielleicht gerade sechs Jahre alt, will wie aus Gewohnheit zum alten Herrn stürmen, als es beim Anblick des Fremden stehenden Fußes umdreht und zurück zur Frau läuft, offenbar seiner Mutter. Grimm stellt den fremden Besucher und die Frau, eine Nachbarin, einander vor, das Mädchen muss zu Benrath hingehen, und mit einem artigen Knicks sagt es: „Gaudn Dach, Herr Collaberater.“ Worauf dieser ebenso artig antwortet: „Guten Tag. Wie heißt du denn?“ – „Ernestine“, die Antwort. Dann entspannt sich die Verlegenheit, das Mädchen setzt sich auf den Schoß des Alten, dessen sonst eher ernste Züge in ein weiches Lächeln übergehen. Das Kind sagt etwas Plattdeutsches, das Benrath nicht versteht, außer dem Wort „Grootvadder“. „Ihr Enkelkind?“, fragt Benrath. „Nein, ein Kind der Nachbarin hier. Aber für mich wie eine Enkelin, und sie nennt mich Großvater. Für mich ist sie Schtine. Mien Schtine, mien oll lütt Schtining, nich?“, ergänzt er, zärtlich dem Kind auf seinem Schoß zugewandt, das verspielt an seinem gepflegten Knebelbart zupft.

Entweder hat der Konsul seine Korrespondenz, von der die Haushälterin gesprochen hat, schon zu Ende geschrieben, oder die Frauen haben ihn in seiner Kaufmannstätigkeit unterbrochen, jedenfalls ist jetzt, mit dem Mädchen auf dem Schoß, an ein Arbeiten überhaupt nicht mehr zu denken. Das ist wohl nur möglich, weil heute Sonntag ist.

Die neu eingetretene Nachbarin beginnt etwas auf Plattdeutsch zu erzählen, das ich aber leider auf Hochdeutsch wiedergeben muss, da ich es aus Ewers' „Großvaterstadt“ so übernehme. Benrath, der sich im Moment sich allein überlassen sieht, versteht nur, dass es sich um einen Brand in der vergangenen Nacht handelt. „Haben Sie von dem Feuer diese Nacht gehört? Haben Sie den Trommelwirbel gehört?“ Die beiden anderen Frauen verneinen. „Na, man gut“, fährt die Frau fort, „dass Sie nach hinten raus schlafen. Aber wir hören alles aus erster Hand. Ferdinand, sag ich zu meinem Mann, Ferdinand! Der Trommelwirbel! Na und mein Ferdinand ja nun gleich aus'm Bett raus und das Fenster aufgemacht. O wie klang das schaurig, die Trommeln und die Feuerhörner!“ Die Frau kann ihre Sensationslust nicht verbergen. „Sehn taten wir nichts. Aber denn das Peitschenknallen! Wir haben ja das Spritzenhaus hier gleich an der Ecke. Ich lag wie in Schweiß gebadet in mein' Bett. Und mein Ferdinand, wie er ist, rein in sein' Anzug. „Da muss ich hin“, sagt er und läuft raus. Und stellen Sie sich vor, er lässt das Fenster auf. Und ich muss ja nun alles hören.“ Sie hat es ganz offensichtlich mit großer Neugier gehört. „Die Trommeln und die Hörner und bald das schreckliche Gellen von den Sprützenglocken; und ich ermanne mich denn ja nu und steh auf, koche Kaffee, wie ich das von meine kindlichen Jahren an gewöhnt bin.“

Die Haushälterin meint dazu auf ihre schnodderige, laute Art: „Ich wundere mich, dass man noch immer die Trommeln schlagen lässt und den gräulichen Lärm macht. Die Feuerwehr kann doch ihr Wasser auch spritzen, ohne dass die ganze Stadt aus dem Schlaf getrommelt wird. Dadurch werden ja bloß Neugierige und Aufgeregte angelockt, die nachher im Wege stehen.“ Doch die Nachbarin, die diese Anspielung auf ihren Mann verstanden hat, ereifert sich: „Sagen Sie das nicht! An den Pumpenwagen brauchen sie immer Leute, sechs an der einen Stange und sechs an der andern, damit die Feuermänner an der Brandstelle sprützen können. Und nu erst mein Ferdinand, als er nach Hause kam. Ordentlich mitgepumpt hat er! Aber wissen Sie, wo das Feuer war? In der Garbereiterei (Garküche) in der Wahmstraße hat es gebrannt.“

Nur so ein kleiner Einblick in das Feuerlöschwesen der Zeit.


* * * * * * *

Nach längeren Gesprächen – Haushälterin Fieken ist inzwischen in die Küche gegangen – wird zum Mittagessen in den Essraum im ersten Stock gerufen. Auch Collaborator Benrath ist eingeladen. Die Nachbarin geht nach Hause, das Kind darf bleiben. Alle begeben sich nach oben.

Im Essraum ist die Familie versammelt, neben dem Hausherrn und Dorothea noch zwei weitere Töchter des Generalkonsuls, Katharina, knapp 21, und Charlotte, knapp 19. „Mien Döchtings“, stellt Grimm sie gut gelaunt Benrath vor, „meine Töchterchen.“ Die älteste der drei, Dorothea, wurde übrigens, laut Wilhelm Grimms „Lebensskizzen“, „Dorchen“ genannt. Und ich frage mich, warum nicht niederdeutsch „Dörte“? Ich vermute: Die Verkleinerungsform „Dorchen“ kam von der baltischen Mutter, und man muss sich das aus ihrem Mund in baltischem Singsang mit stark gerolltem Zungen-r vorstellen: Doorrchen.

Am 2. November 1823, dem Tag dieses Szenario-Besuches, lebten von den ursprünglich acht Kindern nur noch diese drei Töchter im Hause. Die drei Söhne waren alle in Russland: Bernhard Christian, mit 35 Jahren der älteste, schon seit fast zwanzig Jahren in Riga, machte dort eine erfolgreiche Kaufmannskarriere, noch erfolgreicher der 29-jährige Eduard Wilhelm Tielemann, der spätere Rigaer Bürgermeister, mein Ururgroßvater, Wilhelms („Lebensskizzen“) Vater, und schließlich Anton Joachim, der zunächst auch nach Riga gegangen war und dann in St. Petersburg als Professor in einem Pädagogischen Institut arbeitete. Anna war sieben Jahre zuvor gestorben, in der Nähe von Riga, auch sie hatte Lübeck verlassen. Meine große Frage: Warum sind alle Kinder nach Riga gegangen? Nach Johann Antons Tod auch noch „Dorchen“ und Katharina; nur die jüngste, Charlotte, ist in Lübeck geblieben und starb dort früh, 1835, gerade dreißigjährig. Warum sind alle anderen nach Riga gegangen? Alle zu den mütterlichen Großeltern von Huickelhoven? Warum hat keiner der Söhne die Firma in Lübeck übernommen? Die Frage bleibt ohne Antwort.

Zum Essen sind außer der Familie alle Angestellten des Grimmschen Handelshauses anwesend: drei Lehrlinge, ein Kommis, ein junger Kutscher, ein Arbeiter, Haushälterin Fieken und ein „Folgemädchen“, Dienstmädchen, das Fieken in der Küche hilft, alle unverheiratet. Nur der Vize, Herr Nölting, ist nicht da. Alle wohnen im Hause und nehmen selbstverständlich an den Mahlzeiten mit dem Prinzipal teil.

Was aß man zu Johann Antons Zeiten? Ich finde nicht viel: Klöße mit Sirupsauce, „Saucischen“ (lange Kettenwürste), „Kalwerbraden“, „suur Swienfleesch“, zum Nachtisch „Heetwegen“, Kräuter-Heißwecken, „schmackhaft und mit einer schwer verdaulichen Mandelfüllung“ (Ewers). Für einen kleinen Imbiss unter Freunden lese ich bei Ewers: eine Schüssel hochgehäuft voll Franzbrotschnittchen (Franzbrot nannte man das französische Weißbrot), die mit gewürfeltem Ei, geräuchertem Lachs und andern guten Dingen belegt sind, dazu eine Karaffe mit rotem, süß und streng zugleich duftendem Bischof, einem Destillat von Rotwein und Orangenschale, für die Damen; die Herren erhalten eine Flasche Lafite, edlen französischen Rotwein. Bei Fritz Reuter isst einer „meckelbörgsch Pölltüften (Pellkartoffeln) un stippt sei in meckelbörgsch Speck“.

Ich nehme an, es wurde in einer Hafenstadt viel Fisch gegessen. Daher lasse ich jetzt Aalsuppe mit Kartoffelklößen auftischen. Oder würde Benrath lieber einen heimischen Rippenspeer essen? Vielleicht gibt es ja auch einen sonntäglichen „Swienbraden“. Schwein war besser als Rind, wahrscheinlich weil die Kühe damals kleiner und magerer als unsere heutigen Kühe waren, während Schweine immer schon schön fett gemästet wurden. Und fett galt als gesund, in mageren Zeiten durchaus verständlich.

Nach dem Essen gehen die beiden Herren in die „gaude Dööns“ noch einen Stock höher, wo die Privatgemächer sind. Die Frauen machen sich an ihre Hausarbeit, die Angestellten ziehen sich zurück zu irgendwelchen sonntäglichen Betätigungen, nur die kleine Stine darf mit in die Dööns. An der Tür erwartet Fieken die Anweisung des Hausherrn: „Schall ick Tee ouder Koffe kaken? Un Schockelohr föör de Diern?“

De gaude Dööns“, das ist die gute Stube. Diese „Dööns“ (meist „Döns“ geschrieben) sollte man sich nicht zu plüschig vorstellen, wahrscheinlich auch nicht so hell und reich ausgestattet wie die Wohnzimmer (etwa das „Landschaftszimmer“) der reichen und vornehmen Buddenbrooks/Manns. Ich denke, bei den durchschnittlichen Kaufleuten - und ich glaube, mein Ahn war ein nur mäßig erfolgreicher Kaufmann - sollte man die "Dööns" eher bescheiden - wenn auch sicher gediegen - und durch die Kleinheit der Fenster abgedunkelt sehen, natürlich bequeme Holzstühle mit Armlehnen, vielleicht ein größeres Sofa, ein großer Tisch, eine Vitrine mit Geschirr und Gläsern, daneben eine Kommode, ein Eisenofen, das alles in einem Raum mit dunkler Holztäfelung und einer dezent dekorierten Paneel-Decke, etwa wie im „roten Zimmer“ im Rathaus. (Unser Altstadtführer weist auf die Decke hin und meint, so hätten die Wohnzimmerdecken der reichen Kaufleute ausgesehen.) Aber vielleicht täusche ich mich hier, vielleicht war das Zimmer hell und lichtdurchflutet, wo doch das Haus ein Bau im damals modernen klassizistischen Stil ist, weiß, offen, freundlich - anders als die engen Backsteinhäuser aus dem Mittelalter. Und vielleicht war Grimm doch wohlhabend genug, um sich eine üppige Möblierung zu leisten, warum nicht im verspielten Biedermeierstil, befinden wir uns 1823 doch in der Zeit des Biedermeier (1815 - 1848).

Auf der Kommode an der Wand steht ein großer Glaskelch, der wohl zum Säubern aus der Vitrine geholt worden ist. Die kleine Stine, wieder auf dem Schoß des alten Mannes, sieht den Pokal zum ersten Mal und fragt schüchtern-neugierig mit ihrem Kinderstimmchen: „Wat is'n dat föör 'n fläämschn Pott, Grootvadder?" Grimm antwortet bewusst auf Hochdeutsch: „Das ist kein Pott, mein Kind, das ist ein Glaskelch. Und der ist auch nicht flämisch, das sagt man in gutem Deutsch nicht, mien Schtining, man sagt: Der ist groß, oder: Der ist hoch. Aus dem Kelch haben die schwedische Königin und der schwedische König getrunken." Das Kind, dem Hochdeutsch schwerfällt, hört aufmerksam zu und erwidert erstaunt: „Uut den grootn Kelch drinkt ein?" – „Ja, aus dem trinkt man." – „Wat hefft sei denn doruut drunken, dei Königin un dei Könich?" – „Champagner“, antwortet der Alte, worauf Stine fragt: „Wat is dat?“ Aus dem Hintergrund ruft Fieken mit ihrer lauten Stimme: „Champagner, dat is Knallkööm. Dat wier'n püükn (reiner) Knallkööm uut Frankriek wääst, wier dat. Un dei Frugensperson, Könichlich Hoochheit, hett man bannich göölt, de Knallkööm." – „Das stimmt nicht", sagt der Generalkonsul, sich halb entrüstet, halb belustigt zu der Haushälterin umdrehend, „die Königin hat nicht gegöölt, sie hat ganz sittsam und langsam getrunken." Die Haushälterin beharrt: „Ik heff dat nipping seihn, Herr Kunsel. Döörchläuchten hett dei Knallkööm hellschn gaut afköönt, hett sei man." (Ich hab das ganz genau gesehen. Durchlaucht hat den „Knallkümmel“ höllisch gut abgekonnt, d.h. er hat ihr geschmeckt.)

Auf Benraths Nachfrage erzählt Grimm vom Besuch der schwedischen Königin. Bei Tee und später „Geel'n Kööm“ (dem friesischen „gelben“ Kümmelschnaps) kommt man dann weiter ins Gespräch – das Mädchen ist inzwischen „nah Huus“ gegangen –, der Alte könnte sich eine Pfeife angezündet und selbstverständlich seinem Besucher eine angeboten haben. Möglich aber auch, dass die beiden Männer eine Prise „Snuwtoback“ zu sich nehmen.

Ich möchte an dieser Stelle versuchen, in einer kurzen Auseinandersetzung zwei unterschiedliche Sichtweisen der französischen Besatzung anzureißen, ein politisches Thema, das die Gemüter noch Jahrzehnte beschäftigt hat. Der Konsul schildert seinem Besucher im Detail, wie er persönlich als Händler und als Vertreter einer fremden Macht unter der Besatzung gelitten habe, Details, die ich nur zu gern hier wiedergeben würde, die ich aber leider nicht kenne, wo ich nicht einmal weiß, warum die Hausdurchsuchung stattgefunden hat. Immerhin, über deren Stattfinden sind wir informiert. Ich setze fest, dass Grimm die damals übliche anti-französische Haltung zum Ausdruck bringt, auf die ich Benrath zurückhaltend reagieren lasse, Benrath, den aufgeklärten Demokraten, der auch die positiven Seiten der Franzosenherrschaft sieht und für den Napoleon ein Befreier war, der die Ideen der Französischen Revolution nach Deutschland gebracht habe, eine Einstellung, die nur wenige seiner Zeitgenossen teilen. (Heinrich Heine war so einer: „weltlicher Heiland“, Napoleons „Lippen brauchten nur zu pfeifen – et la Prusse n'existait plus (Heine meinte die reaktionäre Hohenzollern-Herrschaft) – diese Lippen brauchten nur zu pfeifen – und die ganze Klerisei hatte ausgeklingelt ...“, 1826)

Haben Sie“, fragt der Konsul, „in Kassel denn nicht ebenso unter dem Franzosen zu leiden gehabt?“ – „Doch, gewiss, auch bei uns hat es Plünderungen gegeben. Und auch Enteignungen.“ – „Na eben. Sie haben doch zum sogenannten Königreich Westphalen (mit ph) gehört. Napoleons unfähiger Bruder Jérôme hat ja bei Ihnen in Kassel als König seines „Royaume de Westphalie“ residiert.“ – „Ja“, ruft Benrath lachend aus. „Schrohm, König Lustig, der fröhliche Verschwender. Besonders großartig war der nicht. Aber das sind doch die anderen aus den angestammten Königshäusern meist auch nicht. Der preußische König ...“ – „Ach der preußische König“, winkt der Alte grinsend ab. Die beiden meinen den entscheidungsschwachen Friedrich Wilhelm III. (1770 – 1840). „Manchmal wünscht man sich tatsächlich eine Herrschaft der Besten, nicht der ältesten Söhne.“ Darauf Benrath: „Die Revolution in Frankreich hat ja genau das erreicht: Napoleon war doch so ein Bester.“ – „Das war er wohl“, sagt der Konsul, „aber nur zum Wohle seines eigenen Landes, nicht zu unserem Wohle.“ – „Nicht immer zu unserem Wohle“, räumt Benrath ein. „Aber ich denke trotzdem immer auch an den Code Napoléon, das neue Gesetzbuch, das Napoleon bei uns eingeführt hat, gerade bei uns in Kassel, wo wir ein echtes Parlament bekommen haben. In allen Ländern, die Napoleon erobert hat, ist die Leibeigenschaft der Bauern aufgehoben und die Gleichheit jedes Mannes vor dem Gesetz in die Tat umgesetzt worden, die Trennung von Kirche und Staat, die Religionsfreiheit, die Unantastbarkeit des Privateigentums ...“ – „Junger Mann“, unterbricht der Konsul, „Ihre demokratischen Auffassungen in allen Ehren, aber Sie äußern sie sehr offenherzig. Damit sollten Sie vorsichtig sein. Bei uns in der bürgerlichen Hansestadt dürften Sie wohl unbeschadet so demokratisch auftreten können. Aber in anderen deutschen Ländern, in Preußen, werden Sie sich diesbezüglich zurückhalten müssen. So ist schon mancher Übereifriger in Festungshaft geraten.“ Der Kaufmann sagt das so gutmütig, dass Benrath spürt: Er muss sich hier nicht zurücknehmen.

Sagen Sie, Herr Dr. Benrath, Sie sprechen von der Unantastbarkeit des Eigentums ...“ – „Ja, im Code Napoléon ...“ – „Heute können wir den getrost wieder Code Civil nennen.“ – „Das stimmt“, sagt Benrath. „Im Code Civil steht das Privateigentum unter staatlichem Schutz. Kein Fürst kann sich ungestraft an dem Privateigentum eines gemeinen Mannes vergreifen.“ – „Und ist unser Privateigentum unangetastet geblieben vom Franzosen?“, fragt Grimm.

Benrath schweigt einen Moment und denkt nach. Soll er argumentieren: „Mais c'etait la guerre“, wie es radikalere Bonapartisten taten? Das gefällt ihm jedoch nicht, er sagt sich, auch ein guter Krieg sei keine Entschuldigung für Überfälle, Diebstähle, Plünderungen. Er gibt daher zu: „Eigentum ist oft nicht geschützt gewesen, viel ist an die französische Soldateska verlorengegangen. Aber das waren Marodeure. Wenn sie von den eigenen Offizieren beim Stehlen und Plündern ertappt wurden, hat man sie hingerichtet.“ – „Nicht hier in Lübeck. Und wo das geschah, hat es den Bestohlenen nichts genützt, ihr Eigentum haben die Menschen nur in den seltensten Fällen wiedergesehen.“

Der alte Mann nimmt – ich lasse ihn rauchen – einen nachdenklichen Zug aus seiner Pfeife. Dann fügt er hinzu: „Aber es wurde ja auch nicht nur geplündert und gestohlen. Was ist mit den Kriegs- und Strafsteuern zu Frankreichs Gunsten? Was mit den Einquartierungen? Und den Zwangsarbeiten? Und, vor allem, was ist mit den Beschlagnahmungen für die französische Armee? Ich selber musste einiges abgeben. Aber ich konnte immer meine Familie satt kriegen, so etwas hat mich nicht gleich ins Armenhaus gebracht. Ich habe jedoch gesehen, wie bedürftigen Menschen zumute war, denen der Franzos' – dat Takeltüüch! – alles genommen hat, was der für seine Feldzüge brauchte, Essen, Getränke, Küchengeräte, Werkzeug. In allen Städten war es so, nicht nur hier in Lübeck. Aus Wismar, meiner Heimatstadt, habe ich schreckliche Dinge gehört. Draußen auf dem Land, in Mecklenburg (Er spricht es Platt „Määklborch“ aus) nicht anders, wo sie den Bauern das Vieh und die Pferde aus dem Stall gezogen haben, die Lebensgrundlage, einfach im Vorbeireiten aus dem Stall gezogen und mitgenommen, confisqués, gehörte jetzt der Grande Armée. Solche Vorkommnisse waren es, die diese armen Menschen mit Hass erfüllt haben, nicht die neue Ordnung. Die war ihnen gleichgültig. Für diese Leute waren die Franzosen einfach nur Diebe, gottverdammte Halunken, und sind es noch heute, und zwar alle Franzosen.“

Benrath schweigt betroffen. Er kann nicht abstreiten, dass fürchterliche Dinge in der Franzosenzeit passiert sind. „Und, junger Mann, auch ich mag sie nicht, die Franzosen. Aber wissen Sie, Herr Collaborator“, setzt der Konsul begütigend hinzu, „nun ist es ja vorbei. Wir haben Frieden, und es geht wieder bergauf mit uns. Wie wir hier auf Niederdeutsch sagen: Ook wenn sük uut ein Swiensuhr miendach' kein sieden Geldbüüdl maaken lett, dat kümmt aal wedder tau Schick. Auch wenn sich aus einem Schweineohr nie ein (meine Tage kein) seidener Geldbeutel machen lässt, kommt das schon wieder in Ordnung, tau Schick.“ Er nimmt einen letzten Zug aus seiner Pfeife und legt sie dann beiseite. „Und was Ihre Demokratie angeht: Sei kümmt vun allein, öäwer sei mutt vun uns sülwn kam'n, nie nich vunne franzööschn Suldaadn, wie mir mal ein Hamburger Demokrat sagte.“

Vielleicht war Johann Anton Grimm aber gar nicht ein so gelassen gutmütig diskutierender Franzosengegner, vielleicht war er ein strammer, bärbeißiger Nationalist wie später sein Enkel Wilhelm Grimm („Lebensskizzen“), der kämpferisch-strenge lutherische Pastor, der sich über die evangelisch-orthodoxe Mischehe seines jüngeren Bruders in Astrachan geärgert hat, und der 1892 von den zaristischen, orthodoxen Behörden aus seinem Pastorat in Uexküll bei Riga hinausgeworfen und des Russischen Reiches verwiesen wurde, weil er zu lautstark auf seinen evangelisch-lutherischen und deutschen Standpunkten beharrte. Für ihn war Goethe ein „überschätzter“ Literat, dem es vor allem am nationalen Standpunkt gemangelt habe. Aber ich brauche für das Szenario in Johann Anton Grimm diesen freundlichen Diskutanten, mit einem aggressiv radikalen Nationalisten à la Freiherr von Rönnstein wäre nicht zu reden.

Die beiden Männer unterhalten sich noch über dies und jenes, man kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, Benrath erzählt von Hamburg, von seiner Heimatstadt Kassel, auch einige Histörchen von „König Lustig“, Grimm kommt auf den Tod seiner Frau zu sprechen, fast holt er seine Bibel, was Benrath gerade noch abwenden kann, indem er dem Alten Fragen stellt zu dem, was man in Lübeck an Vergnügungen und Kultur erleben könne.

Ich könnte jetzt den Kaufmann einen literarisch und musikalisch interessierten Mann sein lassen. Denkbar wäre das, ein Kaufherr, der etwas auf sich hielt, bemühte sich, modern aufgeklärt, gern um bürgerliche kulturelle Bildung. Auch spielte in seiner Nachkommenschaft zumindest die Literatur eine Rolle: Nicht nur war sein zweiter Sohn Anton Joachim ein studierter Altphilologe (Latinist), sondern auch ist von seinem ältesten Sohn, dem reichen Kaufmann Bernhard Christian, überliefert, dass er keineswegs in seinem Kaufmannsberuf aufgegangen sei, sondern viel gelesen habe, er „erfreute sich an den literarischen Werken seiner Zeit“, steht in den „Lebensskizzen“. Und auch in meinem Familienzweig – vom Rigaer Bürgermeister Eduard Wilhelm Tielemann ausgehend – war „Bildung“ immer wichtig. Das alles kann in Johann Anton schon angelegt gewesen sein. Wer weiß, vielleicht war er ja einer der vier Kaufleute, die im Januar 1789, als er gerade aus Riga nach Lübeck gekommen war, zusammen mit einundzwanzig anderen Interessierten die „Litterarische Gesellschaft“ gegründet haben.

Wenn dem so war, dann könnten Grimm und Benrath jetzt die noch lebenden Kulturgrößen ansprechen, Schubert, Beethoven, dessen neue Oper „Fidelio“ könnte ich in Lübeck aufführen lassen. (Ich lese, dass zu der Zeit in Lübeck Konzerte von Haydn („Die Schöpfung“), Händel, Mozart („Don Giovanni“) gegeben wurden, und dass im Theater ein freiheitlicher Geist wehte: Schillers „Don Carlos“ wurde gespielt, und schon 1788 „Nathan der Weise“.) Die beiden könnten die Köpfe schütteln über den gerade bekannt gewordenen Heiratsantrag des berühmten, inzwischen vierundsiebzig Jahre alten Dichters Goethe an eine Neunzehnjährige. Ich könnte sie über die „Marienbader Elegie“, die Goethe über diese vergebliche Liebe soeben veröffentlicht hat, reden und einen von den beiden sagen lassen, dass Goethe zwar ein Liebesnarr sei, aber dennoch ein großer Dichter. Ich könnte sie über die moderne Literatur der jungen Romantiker sprechen lassen.

Vielleicht war Johann Anton aber gar nicht so kulturbeflissen und hatte stattdessen eine soziale Ader, auch ganz im Geiste der Aufklärung, um 1800 unter Wohlhabenden immer verbreiterter. Dann war er eventuell an ganz anderen Gründungen beteiligt, die es in seiner Lübecker Zeit gab, Gründungen gemeinnütziger Einrichtungen wie die Rettungsanstalt für im Wasser Verunglückte, oder eine Schwimmschule, oder eine Kreditkasse für Gewerbetreibende, oder eine „wohlfeile Speiseanstalt“, oder eine Industrieschule für bedürftige Mädchen, oder das Ostseebad in Travemünde. Oder gehörte er, ganz im Gegenteil, zu denen, die gegen solche Einrichtungen opponierten voller „Vorurteile und Aberglauben, Zunft- und Departementsgeist“? (Antjekathrin Graßmann, Spiritus Rector der Lübecker Geschichtsschreibung, in der von ihr herausgegebenen „Lübeckischen Geschichte“)

Wie auch immer, die Mehrheit der Lübecker hatte noch ganz andere Interessen und liebte andere Vergnügungen und Belustigungen. Ich lasse Johann Anton dem nun folgen, einfach deshalb, weil ich etwas darstellen möchte, was wir heute nicht mehr kennen, nämlich die folgende Veranstaltung, die ich jetzt am Sonntag, dem 2. November, auf dem Burgfeld vor den Mauern der Stadt stattfinden lasse.

Der Generalkonsul fragt Benrath: „Mögen Sie mich zur Waffenübung unserer Bürgergarde draußen vor dem Burgtor begleiten?“ Benrath erinnert sich, die blauen und roten Uniformen einiger Gardisten auf dem Weg in die Johannisstraße auf dem Rathausplatz gesehen zu haben. „Waffenübung der Bürgergarde?“, fragt er. „Ja“, antwortet Grimm. „Seit dem Ende der französischen Besetzung haben wir wieder eine Bürgergarde. Ich war am Anfang auch dabei, bin aber nun aus dem Alter raus. Die Bürgergarde exerziert heute auf einem Feld vor dem Burgtore, zum letzten Male in diesem Jahr.“

Die beiden machen sich in Mantel und Hut – der Generalkonsul feierlich mit Perücke und Dreispitz, altmodisch, wie er ist – auf den Weg zum nördlichen Burgtor und hinaus zum Burgfeld, wo sich am sonntäglichen Nachmittag Hunderte, wenn nicht Tausende Lübecker zu einem wahren Volksfest versammelt haben. Blau und rot blinken und leuchten die Uniformen, Sturmbänder aus Messing und goldene Epauletten funkeln um die Wette mit blanken Gewehrläufen, blitzenden Bajonetten und Degen im lachenden Sonnenschein des Novembertages – so übernehme ich jetzt eine Textstelle aus der „Großvaterstadt“ und passe sie an meine Situation an. Kommandorufe hallen über das weite Feld durch die frische, kühle Herbstluft und werden von der Mauer des Gertrudenkirchhofs zurückgeworfen. Es ist die letzte von zwölf jährlichen Waffenübungen der Bürgergarde.

Schaulustige Frauen und Kinder tummeln sich in der Menge, auch Stine mit ihrer Mutter entdecken der Konsul und sein Begleiter, Stines Vater Ferdinand paradiert irgendwo mit. Aber unter den „Taukiekers“ sind auch „viele Bummler, die sich dem Wehrdienst entzogen haben“, wie Grimm missbilligend brummt.

Der vom Stadtrat bestellte Höchstkommandierende der Bürgerwehr, ein Oberstleutnant, steht in der Mitte des Feldes, breite Goldstreifen an der Tuchhose, den Dreispitz mit goldener Agraffe und rot-weißem Federstutz auf dem Haupt, seinen Oberadjutanten neben sich. Unter seinen Augen exerzieren, paradieren, präsentieren die Bürgergardisten zu acht Kompanien in blautuchenen Röcken mit rot eingefassten Schoßaufschlägen und gelben Knöpfen, gekreuztem weißen Riemenzeug vor der Brust, den Tschako mit rotem Pompon und weißer Fangschnur auf den Köpfen; mancher Tschako verrutscht in die Stirn oder auf die Schläfe. An den Beinen strahlen weiße Sommerhosen. Alles ist bunt und in steter Bewegung.

Trotz der Novemberluft schwitzt ganz in der Nähe von Benrath und Grimm der dicke Gewürzkrämer und Grünhöker Jensen, ein Nachbar Grimms. Er ist der Hauptmann einer Bataillonskompanie und kommandiert unermüdlich: „Meine Herren, machen Sie mal rechtsum! Meine Herren, marschieren Sie mal vorwärts! Meine Herren, machen Sie mal Halt!“ Aber lauter als die Kommandos des feisten, schnaufenden Krämers schmettern die Befehle des Hauptmanns Steinhagen – auch den kennt Grimm –, der drüben mit der rot-silbernen Schärpe über dem ebenfalls mächtigen Bauch eine andere Kompanie drillt und mit: „Gewehr an! Gewehr über! Fällt das Bajonett!“ in ununterbrochenem Schwung hält. Die Frauen zeigen stolz auf ihre exerzierenden Ehemänner, während ein Buttje vorlaut in die Menge ruft: „Kiek mol, Mudder, Vadder hett sick verkehrt rümdreiht!“ Dafür gibt’s einen Backs.

Am anderen Ende des Feldes gibt es ein großes Scheibenschießen. Ganze Kompaniereihen feuern immer gleichzeitig auf nebeneinander aufgestellte Zielscheiben, dass es knatternd im Echo von den Wällen jenseits der Trave widerhallt. Dabei fällt immer mal wieder ein Schütze vom Rückstoß seines Gewehrs hintenüber: Die Feuersteine an den Hähnen nämlich zünden manchmal nicht, und da im Gekrach der Salven keiner weiß, ob seine eigene Flinte losgegangen ist, werden bei jedem Befehl zum Laden Kugel und Pfropfen hastig in den Lauf gestoßen, so dass oft mehrere Schüsse gleichzeitig im Rohr stecken; und schlägt dann der Feuerstein seinen Funken auf die Pulverpfanne, dann schmeißt die vorn ausbrechende doppelte oder gar dreifache Ladung den Mann um. Laut aufschallendes Spottgelächter der Zuschauermengen.

So knallt und schreit und lacht es lustig in den heiteren Herbsttag, und der Schall rollt im Halbrund über den Hafen bis zum Gemäuer des Marstalls und kommt vom hohen Turm des Burgtors auf das weite, bunt bevölkerte Feld zurück.

Während Grimm und Benrath in munterer Stimmung über die Wiese schlendern, werden sie in schwäbischem Akzent angesprochen: „Ah, der Herr Generaalkonssuul sind auuch da. Habe die Ehre.“ Ein pausbäckiger Mann mittleren Alters zieht seinen Zylinder und verneigt sich tief vor dem Konsul, wogegen Grimm nur leicht seinen Dreispitz lüpft und sich ein wenig verbeugt. Benrath spürt den sozialen Unterschied. Es ist Johann Georg Niederegger (1777 – 1856), der die Konditorei an der Breitenstraße betreibt. „Der hat Glück gehabt“, erläutert Grimm später. „Er ist aus Ulm gekommen und hat gerade in der Zeit, als es uns unter den Franzosen immer schlechter ging, sein Marzipan verkauft. Viele haben das wie eine Medizin gegessen, anderes gab es manchmal nicht. Das Marzipan konnte man sogar in den Apotheken bekommen. Heute ist er ein gemachter Mann. Dat hett hei gaut maakt“, sagt er am Ende leise mehr zu sich als zu Benrath.

Ein anderer Herr in edler Kleidung mit seiner Ehefrau am Arm tritt auf die beiden zu und verneigt sich höflich. Grimm reagiert auf die gleiche Weise, woran Benrath erkennt, dass hier Gleich auf Gleich trifft. Man hält ein wenig Konversation, auf Platt natürlich, Benrath und das Ehepaar werden einander vorgestellt: „Herr Collaborator Dr. Benrath aus Hamburg, Herr und Frau Konsul Mann.“ Man verabschiedet sich wieder mit einer höflichen Verbeugung und Hutlüpfen. „Herr Mann ist, wie ich selber, kein Lübecker“, wird Benrath wieder aufgeklärt, „er ist aus Rostock. Etwa mein Alter. Firma „Johann Siegmund Mann, Commissions- und Speditionsgeschäfte“, meine Sparte. Hat sein Comptoir in der Ägidienstraße, nicht weit von dem meinen. Macht seine Sache recht gut.“ – „Ist er ein Konkurrent von Ihnen?“, fragt Benrath. „Ja, das ist er wohl. Aber wir sind hier alle Konkurrenten. Das ist so unter Kaufleuten. Wir sind aber Ehrenmänner und nehmen uns nicht gegenseitig die Geschäfte weg.“

Das war soeben Thomas Manns Urgroßvater. Ob er wirklich schon niederländischer Konsul war wie später seine Nachkommen, das habe ich nicht herausbekommen. Er war fünf Jahre jünger als Johann Anton und hat – nicht wie dieser aus Wismar, sondern aus Rostock gekommen – etwa zur gleichen Zeit eine Firma gegründet, ebenfalls „Kommissions- und Speditionsgeschäfte“. Mann und Grimm müssen sich gekannt haben.

Guten Tag, Herr Generalkonsul, guten Tag, Herr Collaborator“, hören die beiden plötzlich. Sie drehen sich um und stehen dem jungen, pommerschen Dragoner-Sergeanten Freiherrn von Rönnstein von der Hanseatischen Brigade in seiner blauen Uniformjacke gegenüber. Er lächelt sie aus seinem kühl-höflichen Gesicht mit dem blonden Schnurrbart an. Diesmal trägt er den schwarzen Tschako auf dem Kopf. Man begrüßt sich, kommt ins Gespräch, unterhält sich über das Volksvergnügen hier auf dem Burgfeld und die Exerzitien der Garde, als der alte Kaufmann einmal ärgerlich fragt, wie es sein könne, dass so viele junge Männer sich vor diesen Waffenübungen drücken könnten nach den Erfahrungen der Vergangenheit. Alle drei sind sich einig, dass die Ämter da viel rigoroser die jungen Lübecker heranziehen müssten und keine finanziellen Ersatzleistungen akzeptieren dürften. Man spricht über Bürger und Nicht-Bürger, als die Frage aufgeworfen wird, wie lang man in der Stadt gelebt haben müsse, bis man ihr Bürger werden könne. Grimm sagt dazu, er selber habe schon nach einem Jahr Wirkens in Lübeck die Bürgerrechte erhalten. Benrath fragt unvorsichtigerweise: „Juden können die Bürgerrechte nicht bekommen?“ Worauf der Dragoner wütend ausstößt, dass Juden nichts in Lübeck verloren hätten und auf keinen Fall wieder Stadtbürger werden dürften, geschweige denn zunftberechtigte Stadtbürger, wie zu Zeiten des „Halunken-Franzosen“. „Gerade heute Vormittag musste ich so einen Judenbengel vom Trottoir hinunterprügeln, der mir keinen Platz machen wollte.“

Seine beiden Gesprächspartner halten erschrocken inne, und Grimm versucht zu beruhigen: „Gewiss sind die Juden Heiden und die Mörder unseres Herrn. Aber muss man sie denn gleich vom Trottoir prügeln?“ Der Dragoner, als er die Betroffenheit der beiden Männer sieht, entschuldigt sich augenblicklich für seinen Zornesausbruch und versichert, so in ihrer Gegenwart nicht mehr reden zu wollen.

Im selben Augenblick scheint er in dem bunten Menschengetümmel etwas zu sehen, was ihn erregt. Überaus hastig verneigt er sich, bittet um Verzeihung für seinen überstürzten Abgang, empfiehlt sich und verschwindet in der Menge. Benrath und Grimm sehen sich an, der Alte zuckt ratlos mit den Schultern, und der junge Collaborator schüttelt den Kopf. „Ein eigentümlicher Mann, so zuvorkommend und gleichzeitig so hochfahrend.“

Im Laufe des Nachmittags stoßen andere Bekannte, Freunde, Kunden, Angestellte zu den beiden, und einige der jungen Männer laden Benrath zu einem Besuch in einer der Wirtschaften ein, er solle gutes Lübecker Bier kennenlernen. So geschieht es, Benrath verabschiedet sich von dem Generalkonsul, der ihm alles Gute wünscht: „Beehren Sie mich gern wieder, bevor Sie im Sommer in Travemünde den neuen Dampfer nach Kopenhagen besteigen. Hollt (offenes o lang) Sei sük fuchtich, un blievt Sei schtief un schtuur up dei Passaasch nah Schtockholm, Herr Collaborator, dat dei Bris Sei nich nah Lee äwer Boord inne Oostsee weiht.“ (Der Wismaraner spricht natürlich Mecklenburgisch) Und in einer Gruppe von mehreren fröhlichen jungen Männern zieht er durch die Gassen zur „Goldenen Tonne“ in der oberen Hüxstraße. (Diesen Gasthof gab es wirklich.) Er nimmt sich zwar vor, nicht zu spät in seine Pension in der Kleinen Petersgrube zu gehen. Aber es ist doch schon dunkel, als er allein das Wirtshaus verlässt, um sich auf den Heimweg zu machen.

Jetzt am Abend ist es empfindlich kalt geworden, Benrath zieht Mantelkragen und Schal eng um den Hals, schiebt die leere Ledertasche auf den Rücken und vergräbt seine Hände tief in den wärmenden Taschen des Paletots. Ein Glück, dass ich kein Geld mehr bei mir habe, denkt er, als er schnell, heute ohne Stock, die Hüxstraße hinaufgeht. Und er ist froh, dass die Straßenbeleuchtung, die im Sommer von den Ketten abgenommen wird, jetzt im November wieder über den Gassen hängt.

Dennoch fühlt er sich unsicher in den trotz der Straßenlaternen düsteren Gassen der fremden Stadt, und er wirft doch einmal den Blick zurück, als er von der Hüxstraße in die Breitenstraße einbiegen will. Und er bleibt fast stehen vor Schreck, als er im Schein einer flackernden Lampe sieht, dass in nicht weiter Entfernung von der Königstraße her eine Gestalt ihm die Hüxstraße herauf zu folgen scheint. Ist es derselbe vom letzten Mal?, denkt er. Wären die Lampen doch heller!

Zur Straßenbeleuchtung finde ich im Stadtführer von 1814 einen leider etwas unpräzisen Absatz. Er lautet so:

Die Erleuchtung der Straßen ist sehr vorzüglich. In allen, selbst in den kleinsten Gassen, und in den Höfen, hängen in der Mitte an Ketten grosse viereckigte Leuchten mit mehreren Scheinlampen nach der Zahl der zu beleuchtenden Seiten. Sie sind alle nach Pariser Mustern verfertigt, und werden im Sommer ganz weggenommen. Noch mehr Würkung könnten sie thun, wenn sie, wie an einigen Stellen, seitwärts an Stangen befestigt wären, damit nicht der Wind und still haltende Fuhrwerke u. dgl. ihren Schein so oft verminderten. Aber es würde dann eine bedeutend grössere Zahl erfordert, und die Kosten der Erhaltung, welche sich ohnehin jährlich auf 20,000 mc (Mark Courant, etwa 260.000 Euro) belaufen, ungleich vermehrt werden.

Hingen die Leuchten über den Straßen an im Wind schwankenden Ketten? Waren es Petroleumlampen? Wer zündete sie an?

Wie auch immer, es gab Straßenlampen. Und in ihrem Schein sieht Collaborator Benrath auf dem Heimweg in die Kleine Petersgrube diese Gestalt. Er verlässt unruhig die Hüxstraße, überquert die Breitenstraße und eilt zum Rathausplatz. Er hofft dort auf Menschen zu treffen. Doch jetzt am Abend ist niemand mehr unterwegs, alles hat sich in die warmen Stuben vor der Kälte zurückgezogen.

Benrath dreht sich um. Da sieht er immer noch die Gestalt. Und tatsächlich, er erkennt im Schein einer Laterne denselben in Grau gekleideten jungen Mann, der aus dem blassen Gesicht unruhig und finster zu ihm starrt, wie einen Monat zuvor. Jetzt packt ihn die Angst. Was soll er tun? Um Hilfe rufen? Kein Mensch weit und breit. Er geht noch schneller, fast läuft er. Das Haus seiner Wirtin ist nicht mehr allzu weit. Er hastet über den Kohlmarkt zur Holstenstraße, er muss den bis an die Bordsteinkante ragenden Hauseingangstreppen ausweichen. Links hinein in den Kolk. Im Abbiegen sieht er es jetzt genau: Der Mann folgt ihm. Warum hat er es denn ausgerechnet auf ihn abgesehen? Hat er damals in der Post die teuren Courant-Taler aus seiner Tasche über den Boden kollern sehen und hält ihn für einen begüterten Reisenden? Leichte Beute? Er hat doch jetzt kein Geld mehr bei sich, denkt Benrath. Aber im selben Moment wird ihm klar, dass der Gauner das nicht wissen kann.

Benrath eilt, läuft den Kolk hinab, überspringt die Kellerluken, heute, am Sonntag, gottlob von Eisenrosten bedeckt. Läuft weiter. Endlich die Kleine Petersgrube vor ihm. Er biegt rechts ein, schreit fast auf, als er sieht, dass der Mann nun ganz nah ist, keine zehn Schritt. Benrath springt die Kleine Petersgrube hinab, über die Sandlöcher. Er hört den Atem seines Verfolgers hinter sich. Wie weit noch bis zum Haus? Kein anderer Mensch in der Gasse, der helfen könnte. Fast stolpert er über ein Loch im Pflaster. Hier ist es besonders dunkel. Er denkt: Jetzt?

Da eine Lampe. Der Mann ist nun direkt bei ihm. Benrath bleibt stehen. Das bleiche Gesicht des Mannes vor ihm flackert im Feuerlicht der Laterne. Benrath rafft die Ledertasche an sich, drückt sie an seine Brust. Er prallt mit dem Rücken an die Hauswand. Sein Hut fällt zu Boden. „Was wollen Sie?“, stößt er hervor.

Der Fremde tritt dicht vor ihn, atmet noch schwer von dem Laufen, Atemluft kondensiert, und starrt ihn aus seinen unruhigen Augen an. Auch Benrath ist außer Atem. Ihm schießt es durch den Kopf, ob er ihm nicht einfach seine leere Ledertasche in die Hand drücken solle. Um die Tasche wäre es ihm nicht leid. Da sagt der Mann heiser, immer noch schwer keuchend, langsam und voller Hass: „Wer sind Sie?“ Kein Plattdeutsch.

Benrath versteht die Frage nicht. In seiner Angst, er spürt das Blut in seinem Hals schlagen, schüttelt er mit dem Kopf und sagt: „Ich habe nichts.“ Da springt der Mann plötzlich einen Schritt zurück. Er starrt ihn weiter an, aber jetzt auf einmal ganz anders, nicht mehr finster, sondern erschrocken. Er stammelt ein: „Verzeihen Sie! Verzeihen Sie!“, dann dreht er sich um, läuft die schmale Gasse wieder hinauf und verschwindet in der Dunkelheit.

Verwirrt blickt Benrath hinter ihm her, hebt dann den Hut auf, klopft ihn ab und setzt ihn wieder auf, sieht noch einmal hinter dem Mann her die dunkle Gasse hinauf, geht weiter, kommt zum Haus seiner Wirtin, zieht an der Glocke. Die alte Frau öffnet und sieht ihm gleich seine Verwirrung an. „Herr Doktor, geht es Ihnen gut?“, fragt sie. Noch ein wenig außer Atem erzählt er, was ihm gerade widerfahren ist. Entsetzt schließt Witwe Hansen die Haustür zu und führt ihn in ihre kleine Küche. „Soll ich den Nachbarn zur Wache schicken?“, fragt sie. „Er kann einen Polizeidiener holen, und Sie erzählen ihm, was passiert ist.“ Benrath meint, das sei nun nicht mehr nötig, der seltsame Mann sei ja fort. Und was solle die Sicherheits-Polizei schon ausrichten. Wie solle sie den Mann denn finden?


* * * * * * *

Am folgenden Tag – Witwe Hansen hat tatsächlich mit Hilfe eines Nachbarn gleich morgens die Polizei holen lassen, der „Bruchvogt“ ist gekommen, hat sich die Beschreibung des Mannes angehört und ist dann mit den Worten: „Dat Sluusohr schallt wi wohl finn'n“ unverrichteter Dinge wieder abgezogen – am Montag früh also packt Benrath seine Sachen zusammen, weil er am Vormittag wieder zurück nach Hamburg fahren möchte, als die Wirtin an seine Zimmertür klopft, hereintritt und ihm ein Kuvert überreicht. „Dieses Schreiben an Sie ist soeben abgegeben worden“, sagt sie. Überrascht erbricht er den Umschlag, zieht einen etwas zerknitterten Zettel heraus und liest den in einer hastig hingeworfenen Schrift verfassten Brief:

Verehrter Herr,
fürchtend, Sie, sowie auch Generalkonsul Grimm, über längere Zeit mit meinen Verfolgungen in Unruhe versetzt zu haben, teile ich Ihnen durch dieses Schreiben mit, daß selbige ab sofort ein Ende haben werden. Fälschlicherweise hielt ich Sie für einen Verbündeten jenes Dragonerlümmels, der Sie unlängst zum Hause des schwedischen Generalkonsuls begleitete und sich gestern auf dem Burgfelde mit Ihnen in angeregtem Gespräche befand. Dieser Mensch, für mich ist er kaum einer, unterstand sich nicht, mich, Sohn Israels, einen, ich mag es kaum schreiben, „Judenbengel“ zu nennen und mich mittels allerlei weiterer Beleidigungen zu kompromittieren, ja mich vom Trottoir zu prügeln, dergestalt daß ich mich genötigt sah, von diesem Pommerschen Junker, diesem Dragonerlümmel!!! Genugtuung zu fordern, die er mir staunend gewährte, wohl hatte er nicht geglaubt, dass der „Judenbengel“ seine befleckte Ehre wieder reinzuwaschen wünschte. Das Duell – wir kämpften mit Säbeln – hatte in der verflossenen Nacht statt, für mich, Gott sei gelobt, mit nur leichten, unerheblichen Blessuren. Mein Kontrahent dagegen, der mit meiner Gewandtheit nicht gerechnet zu haben scheint, er hatte wohl gemeint, „Judenbengel“ vermöchten sich nicht zu schlagen, hat durch meinen Stahl ernstere Verletzungen davongetragen. Gott bestrafte ihn für seine Frechheiten. Meine Ehre ist wieder hergestellt. Ich werde mich aber nun von dieser Stadt fern halten müssen.
Sie, werter Herr, bitte ich aufrichtig um Verzeihung für mein Mißtrauen und die Verwechslung, derer ich Sie aussetzte, und verbleibe für immer Ihr ergebenster Diener.
Gehaben Sie sich wohl!
David Heyne,
Lübeck sieht mich nicht wieder.

Das war es also, warum dieser seltsame Mensch ihm aufgelauert und ihn immer so unruhig angestarrt hat, ihm gefolgt ist, ihn angriff. In den Weg eines überempfindlichen jungen Juden ist Benrath geraten, der sich verfolgt fühlte, der glaubte, Benrath sei mit dem Dragoner im Bunde gegen ihn. Überspannter Verfolgungswahn vielleicht, aber auch verständlich, erst recht bei dem Auftreten des Dragoners. Möglicherweise ist er, Benrath, gestern Abend nur knapp einer Forderung zum Duell entgangen.

Was war es aber, das den Juden so plötzlich dazu brachte von ihm abzulassen? Warum war er so erschrocken? Benrath vermutet, ihm müsse auf einmal klar geworden sein, dass er für einen Halunken, einen Dieb, einen Verbrecher gehalten werde, dass der Verfolgte völlig ahnungslos sei und nur Angst vor ihm habe. Ein Unhold, vor dem man sich fürchten müsse, das war wohl das letzte, was er sein wollte. Das muss ihm schlagartig vor Augen gestanden haben, und das wird es gewesen sein, was ihn zurückspringen ließ, was ihn veranlasste fortzulaufen.

Er tut ihm nun geradezu leid, dieser David Heyne, der von seiner Umwelt verachtet wird, sich zur Wehr setzen will, ja, zur Wehr setzen muss, und der nun gezwungen ist fortzuziehen. Aber Duelle sind nun einmal nicht erlaubt. In den Augen des Gesetzes hat er eine Straftat begangen. Er hat einem Menschen eine Verletzung zugefügt, ob in einem Ehrenhandel oder nicht. Man ist schließlich nicht mehr im Mittelalter.

Und dieser Dragoner-Sergeant, dem er am Nachmittag bei dem Manöver der Bürgerwehr begegnet ist und der so plötzlich davonstürzte? Hat er in der Menge den Juden erkannt und ist zu ihm gelaufen, um ihn zu verjagen, gar zu prügeln? Ergab sich dabei, nachdem sie vorher schon auf der Straße aneinander geraten waren, die Auseinandersetzung mit den entsprechenden Beleidigungen, aus der die Forderung entstand? So muss es wohl gewesen sein, denn noch in derselben Nacht haben sie sich geschlagen.

Benrath wünscht dem jungen Dragoner nicht gerade den Tod. Aber insgeheim empfindet er Freude, dass der, und nicht der Jude, im Kampfe der Unterlegene gewesen ist, er, der meint, Juden vom Bürgersteig prügeln zu müssen. Dessen Meinung über die Juden wird das nicht ändern, er wird vielleicht sogar umso hasserfüllter gegen die Juden wettern. Aber er hat eine Lektion erteilt bekommen.

Das sind die ersten Gedanken, die Benrath durch den Kopf gehen. Und er ist erleichtert. Jetzt kann er beruhigter seinen Koffer packen und leichteren Sinnes nach Hamburg zurückreisen. Und er kann ohne die Angst vor einem Überfall wieder nach Lübeck kommen, ohne die Angst vor einem Halunken, der es speziell auf ihn abgesehen hat. Der Jude hat ihm den Brief gesandt, um ihm diese Angst zu nehmen. Dafür ist er ihm dankbar.

Auch Generalkonsul Johann Anton Grimm, der an diesem Montagmorgen in seinem Kontor sitzt und soeben einen ähnlichen, an ihn adressierten Brief gelesen hat, macht sich solche Gedanken. Ihm ist der hitzköpfige Dragoner nie ganz geheuer gewesen, und auch er fühlt heimliche Freude darüber, dass der das Duell verloren hat. Dieser Rönnstein hat „seinen Lex gekriegt“, denkt er, geschieht ihm nur recht. Dass der bemitleidenswerte Jude, wie heißt er noch? Grimm schaut auf den zerknitterten Zettel, Heyne, dass Heyne die Stadt nicht mehr betreten kann, wenn er vor Strafverfolgung sicher sein will, das ist unschön, aber so sind die Gesetze, Duelle sind verboten.

Dann wendet er sich wieder seinen Geschäften zu, als draußen in der Diele lärmend ein leerer Wagen einfährt, um vom Dachspeicher aus beladen zu werden. „Ruut up dei Dääl, Jung!“, ruft er dem Lehrling zu, der gerade, noch etwas schlaftrunken, von hinten ins Kontor schlurft. „Ran an't Wark!“




* * * * * * *


Ich gebe zu, dass ich die Geschichte mit dem Juden und dem Duell erfunden habe, um in die ansonsten eher belanglosen Szenarien wenigstens ein kleines bisschen Spannung einzuflechten. Dabei war es mir allerdings darum zu tun, Zeittypisches zu verwenden: das Militärische, das Nationalistische, das Antisemitische, schließlich das Duell. Der Antisemitismus war in den Jahren nach Napoleon mit dem Ausbreiten nationalistischen Denkens wieder im Kommen – nur als ein Beispiel die sogenannten „Hep-Hep-Unruhen“ 1819, pogromartige Krawalle in mehreren Städten Deutschlands. Heinrich Heine, 1823 ein noch nahezu unbekannter Student – das „Buch der Lieder“ und die „Reisebilder“, mit denen er in Deutschland berühmt wurde, kamen erst 1827 heraus –, hat sich drei Jahre zuvor, im Sommersemester 1820, als er in Bonn studierte, wegen judenfeindlicher Beleidigungen mit jemandem ein solches Säbelduell geliefert. Man traf sich dazu im Baumschuler Wäldchen, einem Park vor den Toren der Stadt – dem heutigen „Baumschulwäldchen“ am Beethovenplatz, nahe dem Hauptbahnhof. Heine scheint das Duell unbeschadet überstanden zu haben. (Nicht zu verwechseln mit dem verhinderten Pistolenduell ein halbes Jahr später in Göttingen, bei dem es um etwas anderes ging – Wikipedia irrt sich da – und weswegen Heine von der Universität verwiesen wurde.) Die Namensähnlichkeit mit meinem Juden ist gewollt.

Auch der Name von Rönnstein ist nicht zufällig. Er klingt so schön adelig. Das Wort Rönnstein aber kommt bei Fritz Reuter vor (Mecklenburger Platt) und bedeutet Rinnstein, Gosse.













Abschiede

Die Königin und die Kronprinzessin standen am späten Nachmittag des 4. Juni 1823 nebeneinander an der Reling des hehren schwedischen Linienschiffes mit drei Kanonendecks, das sie in Travemünde auf der Reede erwartet hatte. Annemarie Selinko lässt in ihrem Roman Désirée sich fragen, warum Jean-Baptiste, ihr Mann, der König, sie in einem so großen „Kriegsschiff mit vierundachtzig Kanonen reisen lässt".

Die beiden Frauen waren mit großem Gefolge am späten Mittag um ein Uhr in Lübeck aufgebrochen. Der kleine Schaufelrad-Dampfer hatte die Gesellschaft laut stampfend, zischend und rumpelnd den Fluss hinab nach Travemünde gebracht, von wo sie in mehreren Beibooten vom Hafen hinaus in die Bucht zu den großen Schiffen gerudert worden waren. Soeben waren die Anker gelichtet worden, knarrend, ächzend und mit dem lauten Geknatter der Segel hatte sich das riesige Schiff, das die Damen mit ihrer Begleitung an Bord genommen hatte, leicht hin und her schwankend in Bewegung gesetzt. Gerade drehte es sich in eine günstige Windstellung und nahm dann ziemlich schnell Fahrt auf.

Die Frauen an der Reling blickten zurück auf den Hafen und den kleinen Ort, von wo aus die Menschenmenge noch lange winkte. Das Stimmengewirr nahm jedoch immer mehr ab und wurde bald von den Kommandos der Seeleute, dem Flattern der Segel und dem Kreischen der Möwen in der Luft verschluckt. Weit im verschwindenden Land mit den „Birken in hellgelben Frühlingsschleiern“ (Selinko) unter blassblauem Himmel versanken langsam die beiden Doppeltürme der Marienkirche und des Doms am Horizont. Désirée, die Königin, wird den milden Frühsommer genossen haben. Das Wetter war so viel angenehmer als bei ihrem ersten Besuch des Nordens. „Wird der Sommer in Schweden auch so schön sein wie hier", mag sie sich gefragt haben, „so wie es mir dieser höfliche ältere Generalkonsul mit der Perücke gestern bei meiner Ankunft versprochen hat?" Vielleicht dachte sie auch an den Empfang gestern Abend in dem Haus des Senators, bei dem sie aus diesem überdimensionalen Glaskelch den Chartogne Taillet hatte trinken dürfen.

Wie Désirée und Joséphine am 4. Juni 1823, so nimmt auch, ein Jahr danach, im Sommer 1824, der Protagonist meiner Szenarien Abschied von Lübeck. Auch er steht an der Reling eines Schiffes, das langsam aus der Lübecker Bucht hinausfährt, und schaut zurück. Auch er ist voller Hoffnung auf seine Stockholmer Zukunft. Sein Schiff ist allerdings ein moderneres, ein funkelnagelneuer Dampfsegler. Er freut sich, einen Platz bekommen zu haben auf diesem von dem Wunder der neuesten Technik fauchend und wummernd angetriebenen Schiff, der sensationellen Technik, die seit allerneuestem auch ganze Wagenzüge auf Schienen hinter sich herziehen soll, wenn auch vorerst nur in Großbritannien: George Stephenson hat gerade seine Dampflokomotivenfabrik gebaut.

Auch ich nehme Abschied. Es ist ein wunderschöner Frühlingstag geworden nach anfänglichem Regen, die Sonne lässt die noch regennassen roten Backsteinhäuser der von feinem Blütenduft (Blötenröök) durchzogenen Stadt erglitzern und erstrahlen. Ich komme vom Stadtarchiv am Dom und schlendere, den Schirm zusammengerollt als Spazierstock auf den Boden klopfend, zum Lübecker Bahnhof, am Holstentor vorbei, und werde den nächsten Regionalexpress nach Hamburg nehmen.

Wenn ich wieder nach Lübeck fahre, und das werde ich mit Sicherheit, fahre ich dann in das Lübeck meiner Vorväter, in die Grimmsche Ur-Stadt, wie ich mal dachte? Nein, das tue ich nicht. Lübeck war nur eine Episode in der Grimmschen Familiengeschichte. Lübeck blieb beschränkt auf den einen Johann Anton Grimm, der in Lübeck vierzig Jahre lebte und dort starb. Dadurch, dass er für seine kaufmännische Ausbildung nach Riga gegangen war und dort in eine angesehene Rigaer Familie hineingeheiratet hatte, orientierten sich alle seine Kinder nach dem Riga der mütterlichen Großeltern. Die Grimms stammten aus Wismar und bildeten dann ab Anfang des 19. Jahrhunderts eine baltische Linie, nicht eine lübische. Wenn es also überhaupt eine Grimmsche Urstadt gibt, dann ist es Wismar. Oder Hamburg? Die Wismarer Grimms stammten aus Hamburg. Oder vielleicht gar Regensburg? In den Wirren des Dreißigjährigen Krieges sollen Grimms, so eine Vermutung in Wilhelm Grimms „Lebensskizzen“, von Regensburg nach Hamburg ausgewandert sein.

Auch das Kaufmannswesen war letztendlich nur eine Episode in der Familie. Es hielt sich kaum über das 19. Jahrhundert hinaus. Die Grimmsche Sippe hat aus Pastoren bestanden, Johann Antons Vater war Pastor und seine Brüder waren Pastoren. Sein Enkel Wilhelm war auch wieder einer, und der war mein Urgroßvater. Das hat mich und meine Familie mehr geprägt als das Kaufmännische, uns, die wir Lehrer, Ärzte, Professoren und solcherlei bescheiden-solides Gutbürgerliches wurden. Im Wesen des Kaufmanns steckt doch viel unternehmerisch Gewagtes, eben nicht-solides Spekulantentum. Das liegt uns allen nicht.

Es bleiben bei dem Mann, um den es hier ging, Johann Anton Grimm, viele Fragen offen: Wie erfolgreich waren seine „Commissions- und Speditionsgeschäfte“? War er wohlhabend? War er angesehen? Warum zog er lediglich als Mieter in die Johannisstraße, nicht als Käufer? Warum sind alle seine Kinder nach Riga gegangen – die beiden früh Verstorbenen ausgenommen? Warum hat keiner der Söhne die Firma übernommen? Und, für mich die entscheidende Frage: Warum hat er 1787 oder 1788 Riga überhaupt verlassen, nachdem er in eine so angesehene Familie hineingeheiratet hatte, und ist nach Lübeck gezogen? Lag nicht Riga wie ein reifer Apfel vor ihm, und er brauchte nur zuzugreifen, wie es seine Söhne dann getan haben?

Ich nehme auch Abschied von dieser „familienhistorischen Reportage“. Die Nachforschungen haben mir Spaß gemacht, über das Auffinden jeder noch so kleinen Einzelheit habe ich mich gefreut, ich habe viel Neues erfahren. Auch das Feilen an der Sprache und das Basteln an der Struktur habe ich genossen. Ich habe diese Aufzeichnungen gern geschrieben, und fast bedauere ich, dass sie jetzt zu einem Ende gekommen sind. Dass kaum jemand sie lesen wird, schon gar nicht so gern, wie ich sie geschrieben habe, dass kaum jemand sich für das Thema interessieren wird, außer vielleicht später einmal irgendwelche „lieben Kinder“, das stört mich nicht, das wusste ich vom ersten Wort an, das ich in die Computertastatur getippt habe. Ich habe etwas davon gehabt: Ich bin mehrmals nach Lübeck gefahren, ich habe mich zweihundert Jahre zurückversetzt und bin als Collaborator Benrath in Lübeck gewesen, um den schwedisch-norwegischen Generalkonsul und Postdirektor zu besuchen, Ritter des Wasa-Ordens. Ich habe gesehen, wie die Franzosen nach Lübeck gekommen sind, und ich habe gesehen, wie eine Französin, die zufällig Königin geworden ist, durch Lübeck reiste und mir bei diesem Besuch ein gläsernes Stück Erinnerung zurückgelassen hat. So verabschiede ich mich denn nach all den Besuchen und lasse

dieses meinen lieben Kindern zur Nachricht“.





Nachbemerkungen zu den plattdeutschen Sätzen



Da das Lübecker Platt wesentlich vom Mecklenburger Platt beeinflusst war – viele Mecklenburger kamen zum Arbeiten nach Lübeck, wie ja auch mein Ahn –, lasse ich die meisten meiner Figuren Mecklenburgisch sprechen, z.B. sagen sie für „gut“ „gaut“ statt holsteinisch/hamburgisch „goot“, also „gaudn Dach“ statt „goodn Dach“, für „zu tun“ sagen sie „tau daun“ statt „to doon“, für „er“ und „sie“ „hei“ und „sei“ statt „he“ und „se“, für „aber“ „äwer“ (auch „über“) statt „öwer“ (in den „Buddenbrooks“ „öäwer“), für „Mädchen“ sagen sie „Diern“ statt „Deern“, die Diele“, hamburgisch „de Deel“, heißt „dei Dääl“, und statt „veel“ und „Sspeel“ sagen sie „vääl“ und „Schpääl“. 

Und: Die Mecklenburger haben nicht den scharfen S-Laut vor t und p, anders als die Hamburger und Holsteiner - die Dithmarscher aber auch schon wieder nicht mehr. Die Mecklenburger schtölken äwer de Schtraat (langes offenes o), während die Holsteiner över de Sstroot sstölken (stolpern), aber: „snackn“, „smöökn“, „Swester“, „Slachter“ - jedenfalls bei Fritz Reuter -, Dialektgrenze natürlich fließend: Gerade im lokalen Schmelztiegel Lübeck genau auf der Grenze zwischen Holstein und Mecklenburg hörte man, als in der Stadt noch Platt gesprochen wurde, durchaus auch holsteinischen Akzent.
Bestimmte Mecklenburger Eigenheiten kennt man im Holsteinischen nicht: z.B. die Verkleinerungs- bzw. Verstärkungsform „-ing“ wie in „Mamselling“ und „Döchting“ („Fräuleinchen“, „Töchterchen“) und in „nipping“ („ganz genau“) statt „nipp“ oder „nipp un 'nau“. Die Ausdrücke „miendach' nich“, „siendach' nich“ (wörtlich: „meine Tage nicht“, „seine Tage nicht“) für „niemals“ („Ik heff miendach' nich drunken“, „hei ward dat siendach' nich vergeetn“) sind Mecklenburgisch; in Holstein und Hamburg: „nie nich“ (doppelte Verneinung).



Ob man um 1800 das Wort „Knallkööm“ („Knallkümmel“) für „Sekt“ kannte, weiß ich nicht. Ich habe es in der Getränkekarte in der Foyer-Bar des Ohnsorg-Theaters gelesen. Eine scherzhafte Erfindung von Heidi Kabel oder Henry Vahl?



Aber einige früher übliche, inzwischen veraltete Ausdrücke habe ich verwenden können, z.B. „sük ümdoon üm“ für „sich kümmern um“. Heute sagt man wohl eher „sik kümmern“ oder „sik bekümmern“, so erfuhr ich es jedenfalls von einer Dithmarscherin, die Platt-Muttersprachlerin ist. Auch das Siezen ist im Platt offenbar unüblich geworden, zum Abschied sagt man heute, zumindest auf dem Land, statt „Hoolt Sei sük fuchtich“ auch zu Fremden „Hool di fuchtich“: „Halt dich gesund“. („Fuchtich“ übrigens von „feucht“: Wenn es draußen feucht ist, gedeiht die Saat gut und ist gesund. Nicht zu verwechseln mit einer anderen Bedeutung des Wortes: „zornig“, etymologisch verwandt mit „fechten“. Wenn in den „Buddenbrooks“ jemand in der Revolutionsszene zu seinem Kumpel Christian über Konsul Buddenbrook sagt: „Dat's Kunsel Buddenbrook! Holl din Mul, Krischan, hei kann höllschen fuchtig warn“, dann meint er natürlich: „Er kann höllisch zornig werden.“)



Die Orthographie meiner plattdeutschen Sätze richtet sich nicht nach der üblichen Schreibweise („Saßsche Schrievwies“, die von einem Johannes Saß 1956 eingeführte verallgemeinerte Rechtschreibung mehrerer plattdeutscher Mundarten), sondern nach dem, was ich bei Fritz Reuter, Ludwig Ewers und Thomas Mann gefunden habe. Auch schreibe ich so, dass wir Nicht-Platt-Sprechenden der Aussprache möglichst nahe kommen, wenn wir die Wörter laut lesen. So schreibe ich beispielsweise statt üblich „Döns“, „Mors“, „Lüd“, „König“, „fuchtig“ „Dööns“, „Moors“, „Lüüt“, „Könich“, „fuchtich“. Ik hööp, dat mookt nüms fuchtich.



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