Freitag, 30. September 2016

Wanderung im

oberbayrisch-tirolerischen Grenzgebiet

auf den Spuren der

Watscheders und Winkelhofens

16. - 28. Juli 2015

Ein Tagebuch


Vorbemerkung:

Wandern im Land meiner mütterlichen Vorfahren war ein lang gehegter Wunsch, Wandern in einem Gebiet, in das man als Norddeutscher heute in den Urlaub fährt, weil es dort so schön ist, im Kaiserwinkl im nördlichsten Tirol, im südlichen Chiemgau, am Inn, einem Gebiet jedoch, in dem vor 100 Jahren und vor 150 Jahren die Bauern an den Berghängen ums Überleben kämpften - und die Watscheders - so hießen meine Vorfahren - waren Bergbauern.  

Ich wollte wandern, von Ort zu Ort, ich wollte das Gefühl für Entfernungen bekommen, hinter einem Hügel in der Ferne einen Kirchturm auftauchen sehen und denken: Oh wie schön, in wenigen Stunden bin ich da. So wie mein Ururgroßvater Michael Watscheder mit seiner Braut Rosina von Winkelhofen und zwei kleinen Kindern vor 150 Jahren in Oberaudorf aufgebrochen ist, um eine neue Lebensgrundlage zu finden, so wollte ich reisen. 

Und ich wollte mit eigenen Augen sehen, wo sie gelebt haben, die Watscheders und Winkelhofens, von denen ich abstamme. Wie sieht es dort aus heute? Wie war es damals?

Ausgangspunkt einer solchen Wanderung konnte nur Kufstein am Inn sein, woher mein Opa kam, auch ein Michael Watscheder, selbst wenn er dort nicht geboren wurde; geboren wurde er, 1895, in Schleching im Chiemgau. Aber in Kufstein ist er groß geworden, dort hat er seinen Beruf ergriffen - er war Lokführer, Dampfloks -, dort hat er meine Oma geheiratet, dort sind seine beiden Töchter zur Welt gekommen, die jüngere, Hanna Watscheder, meine Mutter. 

Und Kufstein muss auch der Bezugspunkt der Winkelhofens gewesen sein, die in Erl am Inn, gegenüber Oberaudorf, als Zollbeamte gewirkt haben. Rosina Baronesse von Winkelhofen, meine Ururgroßmutter, kam, 1826, in Kufstein zur Welt.

Kufstein ist der zentrale Ort der Landschaft, aus der die Watscheders und Winkelhofens stammten. Also auf nach Kufstein.



Donnerstag, 16. Juli 2015

Kufstein

Kufstein ist ein Zwanzigtausend-Einwohner-Städtchen. Gerade vor kurzem, am 5. Mai, hat der Kufsteiner Bürgermeister Krumschnabel vor der Bürgerversammlung im Rathaus verkündet, dass die Stadt jetzt mit genau 20.064 Einwohnern die Zwanzigtausend-Marke geknackt hat. 1923, im Geburtsjahr meiner Mutter, zählte Kufstein keine 7.000 Einwohner. Welche Entwicklung in den vergangenen knapp hundert Jahren!

Ich betrete Kufstein vom Bahnhof aus über die Innbrücke. Der Inn, gut hundert Meter breit, kalk- und sandhell, schnell fließend. Mein Blick wird angezogen von der Festung oben auf dem Fels, und von der Altstadt, in die ich jetzt komme: ausgesprochen einladend, kaum etwas wirkt künstlich oder übertrieben touristisch, vielleicht die Römerhofgasse ausgenommen. (Aber auf einem Schwarz-Weiß-Foto aus alten Zeiten sehe ich später, dass die immer schon so ausgesehen hat.) Gebäude aus dem 19. und 18. Jahrhundert sind liebevoll restauriert. Auffällig die Jugendstilhäuser, nicht so weich verspielt wie der Jugendstil, den wir in Deutschland kennen. So zum Beispiel die „Volksschule“ in der Kinkstraße, die meine Mutter aber sicher nicht besucht hat, denn das war damals eine Realschule. Und als meine Mutter ins Realschulalter kam, wohnte sie nicht mehr in Kufstein, sondern in Villach.

Kinkstraße 22, das war das Haus, in dem die kleine Familie Watscheder bis 1930 gewohnt hat und in dem meine Mutter geboren wurde. Das Haus – es gibt ein Foto aus dem Jahr 1937, ein ganz ansehnliches Gebäude – ist nicht mehr vorhanden. Heute steht an der Stelle das so ziemlich hässlichste Haus der Straße. Es lässt nicht gerade hohe Ahnengefühle aufkommen, meine Mutter hätte ein ehrenvolleres Andenken verdient ...!

Die Kinkstraße, eine schmale Einbahnstraße, verläuft direkt unterhalb der Festung. Sie ist die Längsachse durch die Altstadt parallel zum Inn, der auf der anderen Seite des Festungsfelsens fließt. Zentraler kann man gar nicht wohnen.

Kufstein ist natürlich nicht nur Kinkstraße, Altstadt und Festung. Die Stadt hat wirtschaftlich in den vergangenen fünfzig bis hundert Jahren eine langsame, aber stetige Aufwärtsentwicklung gemacht, was man ja allein schon an der Verdreifachung der Einwohnerzahl seit 1923 ablesen kann. Als alte Transit- und Mautstelle hat der Ort immer schon eine Rolle gespielt, früher für die Innschifffahrt, seit 1858 für die Eisenbahn. Auf dem Fluss sieht man heute überhaupt keine Schiffe mehr. Umso mehr Geschäftigkeit spielt sich auf den Schienen ab. Am Bahnhof sitzend sieht man einen Güterzug nach dem andern vorbeifahren, mehrere Güterzüge stehen gleichzeitig bereit und warten auf Abfertigung oder Weiterfahrt. Es ist die Strecke über den Brennerpass, die wichtigste Transitstrecke zwischen Mitteleuropa und Italien. So war mein Opa nach dem Ersten Weltkrieg gleich an der richtigen Stelle, als er Eisenbahner wurde.

Mittlerweile hat sich Kleinindustrie mit einer Reihe mittelständischer Betriebe angesiedelt: Kneissl-Ski werden hier in Kufstein fabriziert, allen Wintersportlern ein Begriff; Pirlo-Dosen aus Kufstein haben einen gewissen Ruf.

Die früher weithin bekannte Kufsteiner Zementherstellung des 19. Jahrhunderts gibt es allerdings nicht mehr. Die war verbunden mit dem Namen Kink, nach dem die Straße benannt ist. Franz Kink, 1790 in Bozen geboren, wurde 1820 zum Straßenmeister in Kufstein berufen und begann Zementmischungen zu entwickeln. Sein Sohn Anton hat die Qualität des „Kufsteiner Zements“ dann so sehr verbessert, dass er sich immer mehr neben dem sonst in Europa geschätzten Portland Zement aus England behaupten konnte. Das ist jedoch, wie gesagt, Vergangenheit.

Ohnehin hat Kufstein für sich allein noch keine so große wirtschaftliche Bedeutung. Aber es gibt einen Wirtschaftsgroßraum, der weit nach Österreich und Deutschland hineinwirkt: das Dreieck Kufstein-Salzburg-Rosenheim. Das Interessante daran ist das Grenzübergreifende, was nicht erst seit EU-Zeiten hier sehr auffällig ist. Stelle ich mir allein die Frage: Waren die Watscheders Bayern oder Tiroler? Gelebt haben sie immer genau im Grenzbereich, gearbeitet haben sie hüben wie drüben, geheiratet haben sie herüber wie hinüber. Mein Opa Michael Watscheder hat sich immer als Tiroler gefühlt – aufgewachsen in Kufstein – aber geboren wurde er in Bayern, und die Watscheders waren als Oberaudorfer Bayern gewesen. Es scheint etwas dazwischen zu geben, oder beides zusammen, grenzübergreifend. Später werden mir Gesprächspartner genau das bestätigen: Wenn es nicht gerade Kriege zwischen Bayern und Tirol gab – und das waren Kriege zwischen Wittelsbach und Habsburg, nicht zwischen den bäuerischen Bevölkerungsgruppen – dann haben die Menschen, die Bauern, kaum je einen Unterschied empfunden. So grenzübergreifend ist eben auch der heutige bayerisch-tirolerische Wirtschaftsraum.

Ich sitze jetzt auf dem Balkon meiner Pension Striede, Mitterndorfer Straße 20, mit einer fantastischen Aussicht auf die Festung, die ich nur von meinem Zimmer Nr. 17 aus habe. Den anderen Zimmern wird diese Aussicht durch eine riesige Kastanie vor dem Haus verwehrt. Ich genieße den milden Sommerabend und bin froh, dass ich den schwülen Tag über im klimatisierten Zug verbringen konnte. (Zwei Stunden Verspätung. ICE!) Mit 31 € pro Nacht habe ich offenbar für Kufsteiner Verhältnisse eine eher günstige Unterkunft gefunden. Wie auch immer, der wunderbare Blick auf die Festung fesselt mich, und ich nehme mir vor, morgen als allererstes dort hinaufzugehen.


Freitag, 17. Juli

Festung Kufstein – Maistall – Nähmaschinen – Heldenorgel – Marienbrunnen

Die Festung, eine eindrucksvolle, wunderschön über dem Inntal prangende Anlage. Um hinaufzukommen, muss ich
11 € bezahlen, darf dafür aber die „Panoramabahn Kaiser Maximilian” benutzen, einen modernen Glaskasten, der nahezu geräuschlos steil hinaufsummt (sehr steil!), und schnell, man ist in kaum einer Minute oben. Früher dauerte die Fahrt länger, als noch die alte Zahnradbahn da hochratterte. Das Wort „Zahnradbahn” habe ich als Kind hier kennengelernt. Sowas vergisst ein Junge nicht.

Kaiser Maximilian“, „Landshuter Erbfolgekrieg 1504“, „Purlepaus und Weckauf“, schon die Stadt unten ist voll von diesen Begriffen, wie erst hier oben die Festung. Jahrhundertelang hatten sich im Mittelalter die bayerischen Wittelsbacher und die österreichischen Habsburger um das strategisch wichtige untere Inntal mit der Festung Kufstein geprügelt. Kufstein hatte in diesem ewigen Gekatzbalge der beiden Kriegerkasten ständig seine Besitzer gewechselt, mal war es Tirol gewesen, mal Bayern. Zuletzt, im ausgehenden 15. Jahrhundert, war es bayerisch, und zwar gehörte es dem Herzog von Bayern-Landshut, nicht dem Herzog von Bayern-München, beides Wittelsbacher. Als dann auch noch diese Wittelsbacher untereinander sich über Erbansprüche zerzankten, die Landshuter und die Münchner, da kam es, wieder einmal, zur Schlacht um Kufstein. Die pfälzischen Landshuter Wittelsbacher hielten die Stadt und wurden von den oberbayerischen Münchner Wittelsbachern angegriffen – letztere unterstützt von dem deutschen Kaiser Maximilian I., einem Habsburger. Der nämlich hatte sich von dem Herzog von Bayern-München als Preis für seine Unterstützung im Kampf um die Landshuter Ländereien Kufstein als Preis ausbedungen. Er ließ die beiden Riesenkanonen „Weckauf” und „Purlepaus” auffahren. Und die entschieden die Schlacht. Das war 1504. Seitdem gehört Kufstein zu Tirol, mit nur noch wenigen kurzen Unterbrechungen am Anfang des 18. Jahrhunderts im Spanischen Erbfolgekrieg und am Anfang des 19. Jahrhunderts unter Napoleon.

Heute stehen „Purlepaus” und „Weckauf” friedlich in einem Museumszimmer in der Festung, ihre Rohre ragen gleichgültig in den Raum. Wenn man sie so harmlos da rumstehen sieht und man bedenkt, dass die beiden vor fünfhundert Jahren manchem Landsknecht, manchem Stallburschen, mancher Küchenmagd die Köpfe abgerissen haben, dann muss man lachen, oder den Kopf schütteln, je nach Mentalität. Aber sie mussten damals noch sehr oft schießen, um einen Kopf zu erwischen. Heute geht das einfacher.

1504 ist also die Jahreszahl, die in Kufstein jedes Kind in der Schule lernt; Purlepaus ist in Kufstein so präsent, dass ein Restaurant so heißt; und Kaiser Maximilian ist in Kufstein so bekannt, dass alles mögliche nach ihm benannt ist, zum Beispiel eben die Panoramabahn auf die Festung hinauf – als wäre er der Gründer der Stadt gewesen.

Kaiser Maximilian I., der „letzte Ritter“, so steht es in unseren Schulgeschichtsbüchern, und so steht es auch auf den Hinweistafeln in der Festung. Warum der „letzte Ritter“?

1504, das war eine Zeit des Umbruchs: Das Feudalwesen klang aus, Kriege wurden immer weniger mit Schwertern und in Ritterrüstungen, immer mehr mit Kanonen geführt, das alte burgundische Ritterideal wurde obsolet, und mit der Entdeckung Amerikas und des Seeweges nach Indien wurde der Handel immer bedeutungsvoller, das Bürgertum erstarkte. Maximilian versuchte, das alte Rittertum aufrecht zu erhalten, aber die zeremoniellen Auftritte bei Hofe in Ritterrüstung waren nur noch Schein einer untergehenden Epoche. Deshalb der „letzte Ritter“.

Von der Festung hat man einen wundervollen Rundblick auf Kufstein zur einen Seite und auf den Pendling (1.563 m) zur anderen. (Pendling, der markante Kufsteiner Hausberg, der über der Landschaft thront, als wäre er der Wächter des Inntals.) Von hier oben kann ich mir schon einmal wie auf einer Karte den Weg nach Maistall suchen, den ich gleich nehmen werde, wenn ich wieder unten bin.

* * * * *

In Maistall bei Kufstein ist mein Opa Michael Watscheder groß geworden. Hier lebte er von seinem zwölften Lebensjahr an zur Pflege in der Familie eines Mathias Brandstätter. Und dahin, nach Maistall, führt nun mein Weg. Die Sonne glüht vom Himmel, aber ich marschiere tapfer in der Vormittagshitze über den Inn, über den Zeller Berg und unter der Inntalautobahn hindurch. Gut, dass ich mein Handy-Navi habe. Und wenn ich dennoch unsicher bin, frage ich: „Geht es hier nach Maistall?“ „Jo, grodaus die Stroßn ume.“

Maistall, zwei, vielleicht drei Kilometer außerhalb Kufsteins, ist kein Ort, Maistall ist eine Wald- und Wiesenfläche, auf der sehr weit verstreut einige Bauernhöfe stehen, heute auch mehrere neuere Einfamilienhäuser. Eine schmale Teerstraße mit dem Namen Maistall windet sich mit ein, zwei Verzweigungen durch diese Fläche.

In welchem der Höfe hat Michael ab 1907 als Kind verbracht? Gibt es noch eine Familie Brandstätter? Um es gleich zu sagen: Ich erfahre es nicht. Einmal treffe ich auf zwei Bauern, die am Weg arbeiten: Sie wissen nichts. Und alle Höfe abklappern, dazu ist es mir zu heiß, und das ist es mir denn doch nicht wert.

Auf dem Rückweg nach Kufstein, gleich bei Maistall, komme ich an der kleinen Wallfahrtskirche von Kleinholz vorbei. Gegenüber dieser Kapelle befindet sich ein Friedhof. Auf Friedhöfen kann man auch fündig werden. Ich gehe also hinein, suche Mathias Brandstätter, und ich finde ihn: An der rechten Friedhofswand, der sechste Grabstein. Ich lese:

Es ruhen in Gott
Mathias Brandstätter 1874 – 1946
Kreszenz Brandstätter 1868 – 1952

Das müssen sie sein, Michaels Pflegeeltern! Die Lebensdaten können stimmen, auch die Nähe zu Maistall. Ich frage eine ältere Frau, ob ihr der Name etwas sage und ob sie wisse, wo die Brandstätters gewohnt hätten. In schier überschäumender Hilfsbereitschaft erklärt sie, ihr sei so, sie meine, sie könne sich vorstellen, da gebe es eine alte Dame dort und dort. Sie nimmt mich mit ihrem Mann im Auto mit – Klimaanlage! Herrlich! – und zeigt mir das Haus, in dem ich mal fragen solle. Viel Erfolg wünscht sie mir im Wegfahren.

Ich klingele an der mir von der Frau angegebenen Haustür. Da habe tatsächlich eine ältere Dame gewohnt, werde ich sehr kurz angebunden, fast abweisend von einem jungen Mann beschieden, aber die sei vor zwei Jahren gestorben. Kann sein, dass ich wirklich zwei Jahre zu spät gekommen bin. Ich glaube allerdings eher, dass der Wunsch mir helfen zu wollen mit der Frau durchgegangen ist. Jedenfall erfahre ich leider Gottes nicht, in welchem Haus mein Opa gelebt hat.

* * * * *

Berühmte Kufsteiner: Bei Wikipedia lese ich: Martin von Baumgartner (1473 – 1535), Bergwerkbesitzer und Palästinafahrer; Robert Blunder (geb. 1957), Schriftsteller; Karl Ganzer (1920 – 1988), Dichter und Vertoner des Kufsteinlieds; Johann Obersteiner (1824 – 1896), Komponist (zufällig dieselben Lebensdaten wie Bruckner); Max Reisch (1912 – 1985), Orient-Forscher und Schriftsteller. Alles lokale Größen, man kennt sie nicht.

Und da ist noch einer: Joseph Madersperger (1768 – 1850), man stolpert förmlich über ihn, wenn man durch die Kinkstraße geht, Kinkstraße 16, nur zwei Häuser neben dem Geburtshaus meiner Mutter (Hausnummer 18 gibt es nicht), die Watscheders müssen das Haus gekannt haben. Es ist das Haus, in dem dieser Madersperger das Licht der Welt erblickt hat, heute ein Museum, ein Nähmaschinenmuseum, denn Joseph Madersperger hat die Nähmaschine erfunden. So steht es jedenfalls am Eingang: „Multivision – wie die Nähmaschine in Kufstein erfunden wurde!“ Eintritt: „Freiwillige Spende“.

Also hinein. Ein dunkler Raum. Kein Lichtschalter? In einer schwach beleuchteten Vitrine einige alte Nähmaschinen. Hier ist ein Schalter: Bitte drücken für Vorstellung”. Ich drücke und setze mich auf eine Bank. Und dann wird mir die Geschichte von der Entwicklung der Nähmaschine erzählt. Man hört mehr, sehen tut man nur das gelegentliche Aufleuchten der Vitrine. Ich erfahre, dass es viele Erfinder unabhängig voneinander gegeben habe, Elias Howe und Walter Hunt in den USA, die Firma Lada in Russland, Thomas Saint in England, Barthélemy Thimonnier in Frankreich, und neben noch weiteren eben auch Joseph Madersperger in ... nein, nicht in Kufstein, in Wien. Er kam nur aus Kufstein. Insofern ist die Werbeschrift am Eingang falsch.

Der arme Madersperger hat seine Erfindung nicht patentieren lassen, das gab es 1814 in Wien noch nicht. Er stieß aber ohnehin auf nur wenig Interesse mit seiner Neuheit, wie die meisten anderen Nähmaschinenerfinder in dieser Zeit auch. Man kann aber heute wohl mit Fug und Recht sagen, dass er einer der Erfinder der Nähmaschine war. Der Kufsteiner weiß natürlich: Er war der Erfinder.

* * * * *

Am Abend im Restaurant „Purlepaus” am Rathaus. Das muss sein nach dem morgendlichen Besuch der Festung mit den beiden Kanonen. „Purli's Schmaus“ heißt mein Essen, es schmeckt besser als es die falsche Rechtschreibung auf der Speisekarte befürchten lässt. Anschließend ein Eis in „Udos Eisparadies“ am Unteren Stadtplatz, dem zentralen Platz der Altstadt gleich unterhalb der Festung.

Und plötzlich erschallt über den ganzen Platz die „Heldenorgel“. Jeden Abend um sechs Uhr erklingt sie für eine Viertelstunde, in allen Straßen der Stadt kann man sie hören, bei günstiger Witterung sogar in zwanzig Kilometern Entfernung bis hinauf auf den Geigelstein, Schlechings Hausberg, so sagt mir später meine Schlechinger Pensionswirtin. Die Pfeifen und Glocken der Orgel befinden sich hoch oben unter dem Dach eines der Festungstürme, und der Organist sitzt in einem Häuschen mit großen Glasfenstern unten neben dem Festungseingang. Die Watscheders haben sie nicht mehr erlebt, sie ist erst 1931 gebaut worden, ein Jahr nach dem Weggang der Familie nach Villach.

Verschiedenste Musikstücke werden gespielt, ich erkenne Händels „Auftritt der Königin von Saba“, den Gefangenenchor aus Nabucco, Bach, auch Vivaldi? Und am Ende immer „Ich hatt' einen Kameraden“, denn die „Heldenorgel“ ist ein Kriegerdenkmal, „das wohl einzige tönende Kriegerdenkmal“, wie die Infotafel am Festungseingang sagt.

Am unteren Ende des Unteren Stadtplatzes stehe ich vor dem hübschen neugotischen Marienbrunnen von 1863, den die Watscheders gekannt haben werden. Der Brunnen hat eine kleine Geschichte, die aber erst viel später spielt. 1963, nach 100 Jahren Bestand, ist er nämlich ersetzt worden durch den neuen Brunnen eines Tiroler Bildhauers. Der Widerstand der Kufsteiner jedoch gegen dies moderne Zeugs war gewaltig. Ausdruck dieses Widerstands war unter anderem Seifenschaum, der immer wieder in den Brunnen gekippt wurde, so dass der ganze, ziemlich abschüssige Platz verschäumt und gefährlich glitschig war; oder Kaliumpermanganat, das das Wasser tief violett färbte. Man veranstaltete Protestversammlungen, verfasste Petitionen, ging auf wütende Demonstrationen. Nach dreizehn Jahren Kampf gab die Stadtverwaltung schließlich nach, der alte Marienbrunnen kam 1977 restauriert zurück, und der andere steht nun in Bad Häring bei Kufstein, dem Heimatort des Erbauers. Eigentlich auch ganz nett anzusehen.


Sonnabend, 18. Juli

Nach Oberaudorf – Zollhaus Erl

Der Inn ist mit über fünfhundert Kilometern Länge einer der großen Alpenflüsse. Sein Name ist – vermutlich – keltischen, möglicherweise sogar vorkeltischen Ursprungs wie bei vielen Flüssen Europas. Er ist in der Kufsteiner Gegend schon über hundert Meter breit, obwohl er noch eine weite Strecke vor sich hat. Er fließt bis Passau „rechts zur Donau hin“, wie es bayerische Erstklässler im Heimatkundeunterricht lernen:

Iller, Lech und Isar, Inn
fließen rechts zur Donau hin,
Altmühl, Naab und Regen
fließen links entgegen.

An diesem breiten Fluss entlang geht mein erster Wanderweg. Ich marschiere in der Sommerhitze auf einem sehr schön ausgebauten Wander- und Radweg nach Norden, zum Ausgang der Alpen, in der Fließrichtung des Flusses. Er fließt schnell, ich gehe langsamer als die Strömung. Ich bleibe auf der rechten, also Tiroler Seite des Inns, vor allem, damit ich nicht zu nah an der Autobahn gehen muss, die die ganze Zeit auf der linken, bayerischen Seite neben dem Fluss herläuft. Das Autorauschen begleitet mich dennoch den ganzen Tag. Ich ignoriere es und genieße meinen Weg. Drüben am anderen Ufer sehe ich Kiefersfelden. Auf dieser Flussseite passiere ich Eichelwang, Oberndorf, Ebbs. Es geht so herrlich langsam voran. Wenn ich mich umdrehe, sehe ich immer den „Innwächter“ Pendling, der von Kufstein grüßt und mich bis zum Ziel nicht verlässt. Ich wandere am Wasserkraftwerk Oberaudorf-Ebbs vorüber, wieder so eine grenzübergreifende Einrichtung.

Erst als ich über die Innbrücke nach Oberaudorf gehe, verlasse ich Tirol und betrete bayerischen Boden. Ich verabschiede mich vom Pendling, der sich hinter einen Bergrücken zurückzieht, überquere die Autobahn, deren Rauschen sich zu einem letzten Aufschrei erhebt. Dann bin ich, nach einem fünfstündigen Hitze-Marsch, in Oberaudorf.

Warum Oberaudorf?

Die Watscheders stammten ursprünglich aus Oberaudorf. Irgendwo in Oberaudorf gibt es einen Watschederschen Ursprungshof. Mein Ururgroßvater, Michael Watscheder, ist vor hundertfünfzig Jahren von Oberaudorf aufgebrochen, um woanders eine neue Existenz aufzubauen, was ihm, wie noch zu erzählen sein wird, nicht immer geglückt ist.

Was ist das für ein Ort, aus dem die Watscheders kamen? Er liegt malerisch im Inntal, ein größeres Dorf mit ungefähr fünftausend Einwohnern, als Ort selber aber wenig attraktiv. Auch die Kirche beeindruckt mich wenig. Das jedoch bewegt mich nicht so sehr wie die Frage nach den Watscheders: Gibt es den Ursprungshof noch? Wo genau steht der? Und wer war jener Sebastian Watscheder, der Vater meines Ururgroßvaters Michael, also mein dreimaliger Urgroßvater, mein bisher am weitesten zurückzuverfolgender Urahn, von dem wir nur den Namen kennen? Er muss von ca. 1780 bis ca. 1850 gelebt haben. Kann man über ihn etwas in Erfahrung bringen?

Erst seit kurzem weiß ich, wo der ursprüngliche Watscheder-Hof steht: in Watschöd bei Oberaudorf. Und das war eine Sensationsnachricht, als ich das erfuhr: Plötzlich weiß ich, woher der Name Watscheder kommt. Zeit meines Lebens, erinnere ich mich, haben wir uns in der Familie gefragt, was dieser Name bedeute, dieser etwas rumpelige, hier würde man sagen patscherte Name. Er ist sehr selten, auch in Österreich, wenn er überhaupt außerhalb unserer Familie existiert. Jetzt wissen wir, dass er von Watschöd kommt. Wo ist dieses Watschöd? Wie sieht es dort aus?

Aber der Reihe nach. Jetzt muss ich erstmal in meine Pension. Das ist das Gästehaus Schweinsteiger und steht in der Straße Am Gscheierbichl – so einen Straßennamen findest du in Norddeutschland nicht – Hausnummer 15, gleich hinter einer kleinen modernen evangelischen Kirche (von 1958). Schweinsteiger? Erst als ich mich bei der Reisevorbereitung mit Oberaudorf beschäftigt habe, erfuhr ich, dass Bastian Schweinsteiger Oberaudorfer ist. Ich begrüße also meine Wirtin Frau Fürbeck und, na?, hat das Haus etwas mit dem Fußballer zu tun? Im Hausflur prangt ein riesengroßes Foto von ihm. Ich frage sie also, und ja, sie ist seine Tante, eine geborene Schweinsteiger. „Aber wir sehen ihn hier sehr selten, unseren Basti.“

Ich kühle mich in meinem Zimmer ab (Zimmer 11, 25 € die Nacht, billiger und besser als in Kufstein). Ich denke mir, dass mir Vetter Basti – natürlich habe ich ihn gleich zu einem Watschederschen Verwandten gemacht – nicht viel bringt. Aber etwas ganz anderes werde ich in dieser Pension erfahren.

Jetzt aber erst einmal zum Zollhaus von Erl, zu der anderen Seite meiner bayerisch-tirolerischen Vorfahren, zu den Baronen von Winkelhofen. Die Barone von Winkelhofen waren eine weit verzweigte namhafte Familie aus Milland bei Brixen in Südtirol. Die Winkelhof-Linie der Zollbeamten in Erl, meine direkten Vorfahren, scheinen eine Nebenlinie gewesen zu sein, die in den Aufzeichnungen über die Millander Winkelhofens keine Erwähnung gefunden hat.

(Nachtrag von meinem Besuch in Brixen Ende August 2015:

In Milland - heute ein Stadtteil von Brixen - auf der anderen Seite des Eisack unterhalb der Rienzmündung, steht ein älteres, etwas verkommenes, aber immer noch stattlich wirkendes Haus aus dem späten Mittelalter: der „Ansitz“ – so nennt man hier die Herrschaftshäuser des niederen Landadels – derer von Winkelhofen. Auf einer Informationstafel steht der Name des Gebäudes: „Karlsburg“, so genannt nach dem ersten Winkelhofen, der es 1618 erworben hat, ein Karl Hannibal Freiherr von Winkelhofen zu Englös und Neidenstein. Bis 1855, so steht es auf der Tafel, ist es im Besitz der Freiherren von Winkelhofen gewesen.

Die Familie Winkelhofen gehört, so lese ich in einem Aufsatz über die Ansitze in Milland, zu den Kleinadelsfamilien, die ihren Aufstieg in den Adelsstand der historischen Entwicklung im 16. und 17. Jahrhundert zu verdanken hatten: Die Landesherren, also Herzöge und Bischöfe, die in einem fortwährenden Gegensatz zum deutschen Kaiser standen und immer mehr auf ihre Unabhängigkeit pochten, benötigten für ihre sich ständig ausweitenden Verwaltungen loyale Beamte, die sie als Lohn für ihre landesfürstlichen Tätigkeiten per Urkunde zu Freiherren ernannten („Briefadel“). So machte es auch der Bischof von Brixen, der im 16. Jahrhundert für die „Pflege Anras“ (Ort im Osttiroler Pustertal) und für die „Pflege Toblach“ (im Südtiroler Pustertal) die ersten Winkelhofens angestellt hat. Die kamen aus dem Schwäbischen, wohin sie im Mittelalter aus Südtirol ausgewandert waren, Biberach lese ich und Ehingen an der Donau. Bei Biberach soll es ein „Gut Winckelhof“ gegeben haben. (Da, wo heute in dem Dorf Schwendi, zwischen Biberach und Ulm, der Winkelhofener Weg ist?) Ein Zweig kam im 16. Jahrhundert zurück und wurde dann eben für seine Dienste am Hochstift von Brixen in den Freiherrenstand erhoben.

Eine Anmerkung zu den Adelstiteln „Freiherr“ und „Baron“: Beides ist dasselbe. Aber „Freiherr“ ist der historisch korrekte Titel aus dem Mittelalter, „Baron“ ist im deutschsprachigen Raum die erst in späteren frankophilen Zeiten entstandene französische Anrede für einen Freiherrn; das wurde als eleganter empfunden. Die Ehefrau des Barons war übrigens nicht eine Baronesse, sondern eine Baronin (offiziell „Freifrau“), während die Baronesse die unverheiratete Tochter eines Barons war (offiziell „Freiin“ oder „Freifräulein“). Das muss sehr wohl unterschieden sein. Da nun im 19. Jahrhundert die Freiherren von der Landbevölkerung nur noch höflich als Barone angeredet wurden, so auch in Schleching, bleibe ich bei diesem erst neuzeitlich entstandenen inoffiziellen Titel, wenn ich von den Winkelhofens in Erl und Schleching spreche.

Soweit der Nachtrag aus Brixen.)

Auf den Spuren dieser Winkelhofens gehe ich jetzt also wieder zurück über den Inn, wieder nach Tirol, in das Örtchen Erl, und suche das ehemalige Zollhaus, in dem ein Johann Baron von Winkelhofen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Zolloberaufseher gewesen ist, ebenso wie dessen Sohn (vermutlich) Franz Baron von Winkelhofen, der in Erl 1883 pensioniert wurde. Dieser Franz von Winkelhofen kam 1825 zur Welt, denkbar hier in Erl (oder Kufstein?). Und der hatte eine jüngere Schwester – oder war sie eine Kusine? – Rosina Baronesse von Winkelhofen, 1826 in Kufstein geboren (Zell am Zeller Berg). Und die hat später, 1862, meinen Ururgroßvater Michael Watscheder geheiratet, von dem ich schon gesprochen habe, derjenige, der von Oberaudorf fortgezogen ist. Sie ist somit meine Ururgroßmutter. (Da sie einen Bauern, keinen Baron geheiratet hat, war sie keine Baronin, sondern eine Baronesse, jedenfalls bis zur Eheschließung: In der Heiratsurkunde heißt es: „Rosina Watscheder, geborene Baronesse von Winkelhofen“.)

Noch eine Nachbemerkung: In dem Aufsatz über die Ansitze in Milland lese ich später überrascht, dass ein Johann Thomas, Advokat in Brixen, der 1848 verstorbene letzte Winkelhofensche Besitzer der „Karlsburg“ gewesen sei: Der Ansitz sei im Besitz der Familie verblieben, steht da, „bis zu deren Aussterben im Jahr 1848.“ Aussterben 1848? War dieser Johann Thomas ein anderer als Rosinas Vater, der in ihrer Geburtsurkunde Johann Anton heißt? Hatten jetzt Franz und Rosina gar nichts mit der „Karlsburg“ zu tun, weil sie zu einer anderen Linie der weit verzweigten Familie gehörten? Oder haben doch sie (mit weiteren Geschwistern?) 1855 den Ansitz verkauft? Das bleibt leider offen.

Aber zurück nach Erl: Steht das Zollhaus noch?, so jetzt meine Frage. Und die erfreuliche Antwort in diesem Fall lautet: Ja, es steht noch. Ich überquere die hölzerne Fußgängerbrücke über den Inn, die „Zollhausbrücke“, 1995 errichtet, hundert Jahre nach Errichtung der ersten Brücke 1895. Ich zähle dabei die Schritte, die ich brauche, es sind hundertzwanzig, die deutsch-österreichische (bayerisch-tirolerische) Grenze in der Flussmitte nach genau sechzig Schritten. Und, wieder auf Tiroler Boden, gehe ich direkt auf das Haus zu. Es ist heute ein Wohnhaus, in gutem Zustand. Es steht etwa zwei Kilometer südlich des Dorfes Erl an einer wenig befahrenen Landstraße. An der Vorderseite findet man das Porträt eines Adolf Pichler, Tiroler Dichter, der 1819 in diesem Haus geboren wurde. Er war der Sohn eines „subalternen“ Zollbeamten, wie ich nachlese. Gut möglich, dass mein Ahn Johann Baron von Winkelhofen damals schon dort im Amt war und damit Chef des Vaters von Adolf Pichler.

Ich frage einen alten Mann, der vor dem Haus an einer elektrischen Säge Holz schneidet, ob er mir etwas über das Zollhaus sagen könne. Alles, was der sicher weiß, ist, dass es ein Zollhaus gewesen sei. „Wie sind die Leute vor 1895 über den Inn gelangt?“, frage ich ihn. „Dort drüben war eine Fähre.“ Er zeigt mit dem Arm zu einer Stelle etwa hundert Meter entfernt. „Wissen Sie etwas über die Zollinspektoren, die hier im 19. Jahrhundert gelebt haben? Gibt es da Unterlagen?“ Freundlich grinsend schüttelt er den Kopf und verweist mich an den Gugglberger Georg in Erl, der solche Dinge wisse. (Ich verstehe Googleberger.)

Später, zurück in meiner Pension Schweinsteiger, suche ich die Telefonnummer von Georg Gugglberger. Es gibt drei in Erl. Einer ist Immobilienmakler, der wird es kaum sein. Dann gibt es einen junior und einen senior. Ich rufe den Gugglberger senior an. Er ist der richtige. Ich frage ihn, ob es Unterlagen gebe, aus denen hervorgehe, von wann bis wann genau die Zollbeamten in Erl tätig gewesen seien. Ich möchte nämlich wissen, wann Johann von Winkelhofen seinen Zolldienst begonnen hat, und ob nach seinem Tod 1848 sein Sohn Franz der unmittelbare Nachfolger war. Leider hat Herr Gugglberger keine Ahnung. Er gibt mir aber die Telefonnummer vom Kitzbichler Peter, der sei in Erl der Dorfhistoriker, der könne vielleicht etwas über die Vergangenheit des Zollhauses sagen. Ich rufe ihn an. (Ich höre die Frau ihrem Mann zuraunen: „Da ist einer aus Hamburg, der hat unsere Nummer vom Gugglberger Schorsch.“) Leider auch hier Fehlanzeige. Seinen Rat, es mal im Zollamt Innsbruck zu versuchen, befolge ich nicht. Das ist mir zu aufwendig, und auch davon verspreche ich mir nichts. Die Fragen bleiben also unbeantwortet. Schade. Vielleicht werde ich das später von Hamburg aus mal versuchen.

Am Abend treffe ich Frau Fürbeck, Bastian Schweinsteigers Tante. Ich erzähle ihr von dem Erler Zollhaus, von dem vergeblichen Versuch, etwas über die Vergangenheit des Zollhauses zu erfahren, und welche familiären Interessen mich überhaupt nach Oberaudorf geführt hätten. "Kennen Sie hier im Ort einen Watscheder?", frage ich sie. Nein, den Namen hat sie noch nie gehört. Überhaupt kenne sie sich in der Geschichte Oberaudorfs gar nicht aus. "Meine Mutter wusste immer alles. Ich hab aber nie aufgepasst." Sie habe aber, fügt sie dann an, eine Oberaudorfer Chronik, von einem früheren Pfarrer geschrieben, er sei inzwischen gestorben, ob ich das lesen wolle. 

Oberaudorfer Chronik? Was soll ich damit? Die Oberaudorfer Geschichte interessiert mich nicht. Mehr aus Höflichkeit sage ich, dass ich da morgen gerne mal einen Blick hineinwerfen würde.


Sonntag, 19. Juli

Watschöd – Pointner

Gleich oberhalb von Oberaudorf, nordwestlich an der Straße nach Bayrischzell, liegt der Ortsteil Watschöd. Karin Raab aus Unterwössen bei Schleching, eine Kusine dritten Grades, die ich erst jetzt kennengelernt habe, hat uns mitgeteilt, in ihrer Familie sei es immer schon bekannt gewesen, dass die Watscheders von genau diesem Watschöd kämen und auch daher ihren Namen hätten.

Dieses Watschöd will ich mir heute ansehen.

Es ist kein schöner Weg. Ich gehe bergauf auf einer schmalen, kurvigen Straße ohne Gehweg, kaum ein Rand, links steiler Felsen hinauf, rechts steiler baumbestandener Abhang hinab zum Fischbach. Die Sonne brennt schon am Vormittag wieder erbarmungslos vom Himmel, an das Schwitzen habe ich mich fast schon gewöhnt. An mir vorbei brausen Motorräder, Autos, Rennräder (hinauf überholen sie mich langsam, von hinten höre ich mühsames Schnaufen näherkommen, hinab sausen sie mir halsbrecherisch entgegen), und immer wieder brummende und knatternde Motorräder, ganze Horden. Immerhin keine Lieferwagen, heute ist Sonntag. Vor mir immer der kantige Gipfel des Brünnstein, mit 1.634 Metern Höhe eher niedrig, wie alle Berge dieses Alpenauslaufgebirges. Er steht aber sehr markant in der Landschaft, ähnlich wie der Pendling in Kufstein ist er von überall zu sehen. Ich fasse in die Tasche, um sicherzugehen, dass ich ihn nicht vergessen habe, den Papierausdruck des Fotos von dem Bauernhaus, das ich von meiner neu entdeckten Kusine habe. Dies Haus soll auf dem Ursprungshof der Watscheders stehen.

Oben angelangt, ich zerfließe in Schweiß, endlich Watschöd. Die Landstraße geht weiter geradeaus, rechts hinauf der Weg, der an einem Berggasthof vorbei in einer Serpentinenkurve zu zwei großen Gehöften führt. Das also ist Watschöd, mein Watschöd. Es ist eigentlich nichts weiter als eine ziemlich steile Hangfläche. Eines von diesen beiden Gehöften soll mein Watscheder-Hof sein. Oder ist es hier unten der Berggasthof „Hummelei”?

Ich kehre in diesem Berggasthof ein, muss dringend trinken. Von einer großzügigen Terrasse aus hat man einen herrlichen Blick über Oberaudorf und das Inntal zum Kaisergebirge. Watschöd 1. Das wäre ein Watscheder-Hof!

Ich setze mich. Alles klebt an mir. „Ein großes Wasser, bitte.“ Die Kellnerin ist sehr beschäftigt. Bin ich ihr etwa lästig? Aber ich bekomme mein Wasser. Ich versuche: „Sagen Sie …?“ Weg ist sie. Dann wuselt sie stöhnend und mit verhärmtem Gesichtsausdruck an den leeren Tischen herum, Tischdecken müssen aufgelegt werden. Neuer Versuch: „Sagen Sie …“ Genervt: „Ja?“ „Wissen Sie, woher der Name Watschöd kommt?“ „Nein.“ Weiteres Wuseln mit den Tischdecken. „Kennen Sie vielleicht jemand …?“ „Ja. Aber das kann ich Ihnen gleich sagen, jetzt hat hier keiner Zeit. Heute ist Sonntag, und da haben wir Stress pur.“ Und wieder ist sie weg. Bayerischer und norddeutscher Charme geben sich wohl nicht viel.

Hier erfahre ich nichts. Ich bezahle meine 2,20 € für das Wasser – keinen Cent Trinkgeld! Gastwarze! Dies kann unmöglich der Watscheder-Hof gewesen sein! – und gehe weiter die schmale Serpentinenstraße den Watschöd-Hang hinauf. Etwas abseits gelegen sehe ich Watschöd 4. Ist es dort, wo die Watscheders lebten? Wo sind Watschöd 2 und 3? Der letzte Hof oben ist Watschöd 5, stattlich, groß, sauber, Blumenreihen auf den Balkons. Ich gehe durch den Hof hindurch an einem offenen Kuhstall vorbei bis zur Frontseite des Hauses, ziehe das Foto aus der Tasche und vergleiche. Volltreffer! Das ist exakt das Haus, sofort zu erkennen. Sogar die Sitzbank neben dem Eingang ist da. Watschöd 5 also. Ich gehe zur Haustür, die offen steht, klopfe, rufe. Kein Mensch meldet sich. Ich habe draußen im Hof auch kein Auto stehen sehen. Es ist Sonntag Vormittag, sind sie alle in der Messe? In das Haus hinein möchte ich nicht. Also wende ich mich wieder schweren Herzens zum Gehen. Aus dem Stall glotzen mich die Kühe gleichmütig schnaufend und schmatzend an. „Seid ihr die Watscheders?“, rufe ich hinein. „Muh!“ Vergelt's Gott.

Beim Googeln finde ich, dass der Hof auch Fremdenzimmer hat. Vielleicht müsste man sich dort einfach mal einquartieren. Die Adresse lautet

Familie Waller
Watschöd 5
83080 Oberaudorf
Tel. 08033 - 1670

Zurück in der Pension finde ich auf dem Tisch vor meiner Zimmertür zwei dicke Folianten, zwei Bände der Chronik „Unser Audorf“, über die ich mit Frau Fürbeck gestern gesprochen habe. Ich nehme sie mit ins Zimmer, und nachdem ich mich unter der Dusche abgekühlt habe, blättere ich lustlos in den beiden Wälzern. Gerade will ich den zweiten Band weglegen, da sehe ich hinten in dem Buch eine seitenlange, endlose Namensliste. Ich schlage nach, was das für Namen sind – und finde auf fast 300 Seiten eine Besitzerliste sämtlicher Bauernhöfe in Oberaudorf. Da muss sich der Verfasser dieser Chronik (herausgegeben von der Gemeinde Oberaudorf 1991), ein Dr. Josef Bernrieder, die Mühe gemacht haben, die Archive der Stadt und der Pfarrei durchzuarbeiten und alle Namen, Daten, Erbschaften, Kaufverträge usw. fein säuberlich aufzuschreiben. Ich werde wach. Wenn da die Besitzer von jedem Bauernhof aufgeführt sind, teilweise seit dem 15. Jahrhundert, dann müsste doch auch der Watscheder-Hof in Watschöd dabei sein. Ich suche den Abschnitt „Watschöd“. Viel ist es nicht, was da steht, gerade mal zwei Höfe, der Prosthof und der Weindlhof. Ich gehe die Namen des Prosthofes durch, heute Watschöd 4. Nichts Auffälliges, kein Watscheder. Aber unser Hof soll ja auch nicht Watschöd 4 sein, sondern Watschöd 5. Das ist der Weindlhof. Ich schaue mir also die Namen des Weindlhofes an. Kein Watscheder zu entdecken. Ich gehe die Namen noch einmal durch, Name für Name, und finde von 1478 bis 1669 ganze achtmal einen Watscheder-ähnlichen Namen – in den damaligen Zeiten gab es keine einheitliche Rechtschreibung, bei Namen sowieso nicht: Wadschayder, Wädschaid, Watschaider, Wadtschaidt Wätschat, Wätschät, Wätschet und nochmal Wätschat. Und ich finde einen Sebastian, nicht Watscheder, aber einen Sebastian Reheis, dessen Lebensdaten aber mit meinen Vermutungen übereinstimmen: 1865 gestorben, „86-jährig“, steht dabei, das heißt 1779 geboren. Das kommt hin. Wenn das mein Sebastian Watscheder ist, dann hieße das, dass Michael Watscheder, der zusammen mit Rosina von Winkelhofen Oberaudorf verlassen hat, um eine neue Existenz aufzubauen, nicht unter seinem eigentlichen Familiennamen Reheis aktenkundig geworden ist, sondern unter dem Namen des Hofes, dem Vulgonamen. Das wäre keineswegs ungewöhnlich. Noch heute sind Bauern allgemein unter dem Namen des Hofes (Vulgo) bekannt und nicht unter dem bürgerlichen Familiennamen. Auch Winkelhofen war ja ursprünglich ein Hofname: Winkelhof das Gut im Schwäbischen, woher die Tiroler Winkelhofens mal kamen. Bei den amtlichen Vermerken hat man wohl auch früher schon möglichst diese bürgerlichen Familiennamen verwendet, im Volk aber – daher „vulgo“ – tat man das nicht. Ich vermute, dass der Hof Watschöd 5 über Jahrhunderte unter dem Vulgonamen Watschöd bekannt war, und dass die Bauern auf diesem Watschödhof die Watschöder Bauern waren. Sie wurden so genannt und nannten sich selber so. Bedenklich ist nur, dass der Hof heute Weindlhof heißt. Vulgonamen ändern sich eigentlich in der Regel nicht.

Ich kann nicht sagen, dass das so jetzt erwiesen sei. Ich meine aber, dass doch genug Indizien darauf hinweisen, dass es so gewesen sein muss. Ich glaube, Michael Watscheder hieß eigentlich Michael Reheis. Er hat sich aber, vermutlich wie sein Vater Sebastian, Watscheder genannt, weil er sich so kannte. Und die Ämter, die dann im Weiteren immer „Watscheder“ geschrieben haben, waren weit weg von Oberaudorf und haben nicht groß nachprüfen können oder wollen, ob der Name nach bürgerlichem Gesetz so stimmte.

Demnach aber hätte mein Opa gar nicht Watscheder heißen dürfen, sondern Reheis? Meine Mutter eine geborene Reheis? Klingt nett. Aber nein, da ist doch unser Rumpelname Watscheder viel schöner, viel eindrucksvoller. Bei dem bleiben wir!

Wenn das alles stimmt, dann kann ich meine Watschederschen Vorfahren zurückverfolgen bis 1762, als ein Paul Reheis in den Hof eingeheiratet hat, ja über dessen Ehefrau Anna Schweinsteiger sogar noch weiter mindestens bis 1652, als Simon Schweinsteiger, der dann ja ebenfalls noch ein direkter Vorfahr wäre, den Hof übernommen hat.

Der Bauer also, der seinen väterlichen Hof Watschöd verlassen hat, hieß eigentlich Michael Reheis, nannte sich aber Watscheder. Warum er den Hof nicht geerbt hat, warum eine Anna Reheis, doch wohl seine Schwester, den Hof übernommen hat, dafür kann es viele Gründe geben. Ungewöhnlich ist es nicht. Jedenfalls hat er seine Freundin, möglicherweise schon Braut, Rosina Baronesse von Winkelhofen, mit zwei kleinen gemeinsamen Kindern mitgenommen.

Die Liebesgeschichte zwischen Michael und Rosina kennen wir natürlich nicht. Wie sie sich kennengelernt haben, können wir nicht einmal raten. Auf jeden Fall sind Watschöd und Erl nicht weit voneinander entfernt, kaum mehr als eine halbe Gehstunde. Und über den Inn gab es die Fähre. Die Tatsache, dass er Bayer und sie Tirolerin war, war schon mal überhaupt kein Hinderungsgrund für eine Beziehung. Die Grenze spielte höchstens für den Zollbeamten eine Rolle, der von ihr lebte, sowohl durch das Gehalt wie sicher auch durch gut bezahltes Augenzudrücken. Dass ein Bauernsohn sich mit einer Baronesse liiert hat, ist nicht gerade üblich gewesen. Aber ich habe den Eindruck, dass die ländlichen Winkelhofens eher bäuerlich denkende und bäuerlich lebende Barone waren. Es sieht jedenfalls nicht so aus, als ob Rosina sich mit ihrer Familie überworfen hätte. Im Gegenteil, ihr Bruder (oder Vetter?) Franz, Zolloberaufseher in Erl, ist seiner Schwester (Base?) später als Pensionär nach Schleching nachgezogen und ist Pate so manches Rosina-Enkelkindes geworden.

Dass Michael und Rosina bei der Geburt ihres ersten Kindes schon recht alt waren, er 39 und sie 35, das ist schon ein wenig erstaunlich. Dass sie erst so spät, nämlich mit 40 und 36, offiziell geheiratet haben und damit dann nachträglich ihre beiden Kinder „legitimiert“ haben, das ist wiederum leicht mit wirtschaftlichen Verhältnissen zu erklären. Viele Bauern haben spät geheiratet, weil sie es sich vorher einfach nicht leisten konnten. Dementsprechend viele uneheliche Kinder gab es.

* * * * *

Beim weiteren Blättern durch die Audorfer Chronik finde ich auch noch die Herkunft des Namen Watschöd. Hier steht es:

Watschöd
Im Salbuch von 1440 sind bereits zwei Anwesen angegeben, die Vogthafer abzuliefern haben.
Watschayd und Watschayd, auch Wegschaidt (Wortverstümmelung).
In Wätschayt (Watschöd) sitzt der Schuster auf ½ Lehen der niederbayerischen Herzöge, der Stephel auf einem ½ Lehen der Hofmark Urfahrn. Der Name „Watschayd“ ist zu erklären mit Watschar: swâs, was zum Haus gehört, schad = schar, scara = von „scerian“ kommend = scheren, schneiden – :
Was vom Haus abgetrennt ist (Ausbruch) (K. Finsterwalder, das Wort Watschar im Bairisch-Österreichischen, Schlern – Schriften 57, Innsbruck 1948, S. 59); hat also nichts mit „öd“ = öde zu tun.
Watschar war im Mittelalter die kleinste landwirtschaftliche Einheit.“

Soweit Josef Bernrieder. Am Anfang dieses kleinen Textes gleich ein Beleg dafür, dass „Watschayd“ – zumindest 1440 – tatsächlich ein Hofname gewesen ist. Watschöd ist also eine kleine, die kleinste landwirtschaftliche Einheit, ursprünglich ein vom Bauernhaus abgetrennter Teil. Jetzt wissen wir es endlich: Daher also kommt der Name Watscheder. Nichts mit „Wasserscheide“, was mal jemand vermutet hat, oder „Wegscheide“ („Wortverstümmelung“), sondern der von der kleinen Fläche, von der Hufe, vom Watschar Kommende.

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Nachtrag:

Hamburg, 6. September:
Ich habe inzwischen den „Ahnenpass“ meiner Mutter durchgeblättert. (Ahnenpass? Ja, das gab es im Dritten Reich: „Ariernachweis“. 1942 wurde dieser für die damals knapp 19-jährige Hanna Watscheder angelegt, vermutlich für die Zulassung zu ihrer Ausbildung als „Fürsorgehelferin“. Wir machen ihn uns heute zunutze.) Und beim Durchblättern entdecke ich – schade, schade! – meine Sebastian Reheis-Theorie stimmt nicht. Sie ist wie ein Kartenhaus in sich zusammenklappt, zerplatzt wie eine schöne bunte Seifenblase, sie ist Makulatur. In dem Dokument steht: Sebastian Watscheder hieß tatsächlich Sebastian Watscheder, war auch nicht Bauer in Watschöd, sondern „Bauer beim Poider am Kleinen Berg“ in Oberaudorf, und seine Frau hieß auch nicht Maria Höchl, wie es in der Besitzerliste des Weindlhofes steht, sondern Anna Gfäller. Kleiner Berg? Auf meiner sehr genauen Wanderkarte finde ich ein Kleinberg, nicht weit entfernt von Watschöd, aber eben nicht Watschöd, und einen Kleinen Audorfer Berg, noch weiter weg von Watschöd. Da also, „am Kleinen Berg“, und nicht in Watschöd, wurde Ururopa Michael geboren, am 19. Oktober 1822, und noch am selben Tag in der Pfarrkirche von Oberaudorf getauft.

Was genau mit dem „Kleinen Berg“ 1822 gemeint war, das müsste man in Oberaudorf herausbekommen. Und man müsste jetzt noch einmal in die Audorfer Chronik hineinschauen und nach diesem Poider (ein Hofname?) suchen. Das ist eine neue Aufgabe.

Nichtsdestoweniger bleibt es aber bei dem Namen. Irgendeiner ist mal von Watschöd nach Oberaudorf zum „Kleinen Berg“ gezogen und hat diesen Herkunftsnamen verpasst bekommen: Das ist der von der Hangfläche Watschöd Gekommene – und zwar womöglich tatsächlich, wie meine Kusine Karin Raab behauptet, vom Weindlhof mit seinen acht Wadschayder, Wädschaid, Watschaider usw. in der Besitzerliste. So ist ja auch Oberaudorf voller Schweinsteigers, deren inzwischen verzweigte Familien ihren Ursprung sicher in der nicht weit von Oberaudorf entfernten Gegend Schweinsteig haben.

14. September:

Heute ist die Audorfer Chronik mit der Post gekommen. Ich hatte sie bei der „Tourist Information Oberaudorf“ bestellt. Ganze 41 € kostet der Band plus Versand. Aber es hat sich gelohnt, denn jetzt habe ich unsere Watscheders gefunden:

Der „Poider“ heißt eigentlich Pointner. Heute „haust“ (wirtschaftet) dort die letzte Erbin:

Annemarie Schwarzbeck (geb. Waller)
Eck 6, 83030 Oberaudorf
Tel.: 08033 – 48 13.

Dieser Pointnerhof war von ca. 1650 bis zum Verkauf 1885 in Watschederschem Besitz (s. Anhang). „Pointner“ oder „Poiter“ oder „Poider“ kommt – so wie „Watschöd“ von „Watschar“ – von einer alten Bezeichnung für eine landwirtschaftliche Einheit: „Pointe“, mhd. „biunte“, ahd. „biunda“, „piunta“, war ein „durch Umzäunung ausgeschiedenes Stück Land mit Wohngebäuden“.
Und ich weiß jetzt, warum mein Ururopa Michael 1861 mit seiner Rosina von Oberaudorf fortgezogen ist: Er hatte einen um ein Jahr älteren Bruder mit dem Namen Sebastian. Der hat 1856 den Pointnerhof übernommen, und zwar von der Mutter Anna Watscheder, geb. Gfäller. (Das heißt, Vater Sebastian – Urururopa – muss da schon tot gewesen sein.)

Wir können Josef Bernrieder für seine lokalhistorische Fleißarbeit nicht dankbar genug sein!

Ende des Nachtrags vom September

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Montag, 20. Juli

Erl

Erl – auf der Tiroler Seite des Inns – ist ein Nest. Hier gibt es nichts. Viele moderne Einfamilienhäuser, etwas Gewerbe, eine Badeanstalt, ein kleiner Supermarkt, in dem ich mir ein Sandwich-Paket und eine Flasche kaltes Wasser kaufen kann. Aber sonst? Was haben denn bloß die Winkelhofens hier getrieben außer Zoll zu kontrollieren und sich zwischen Ausweispapieren Geldscheine zuschieben zu lassen? Mussten sie mit der Pferdekutsche nach Kufstein fahren, fünfzehn Kilometer entfernt, wenn sie etwas erleben wollten? Und Rosina? Hat sie sich zu Tode gelangweilt, wenn sie mal nicht im Haushalt und im Stall arbeiten musste, bevor sie ihren Michael kennenlernte? Sonntags werden sie in der Kirche gewesen sein, St. Andreas, mit ihrem barockischen Innern von 1818. Das haben sie gekannt, damals gerade ganz neu. Aber sonst?

Dann schaut man jedoch genauer hin und findet ein architektonisches Wagnis, das aussieht wie eine schwarze futuristische Raketenabschussrampe: das Festspielhaus der Tiroler Festspiele Erl (T.F.E.), der "Schwarze Diamant", manchmal auch spöttisch "Tarnkappenbomber". Gestern die Meistersinger, vorgestern Tristan, davor das Verdi-Requiem, auch Kammermusikalisches. Das klingt groß, erwartet man nicht gerade hier am Nordzipfel Tirols - und tatsächlich: ein österreichisches Bayreuth, wie ich später erfahre, der mächtige Festspielleiter gern "Erl-König" genannt. Die Festspiele gibt es aber erst seit 1997, zu spät für meine Barone und Baronessen.

Neben diesem Gebäude-Ungeheuer steht weiß, halbrund aufsteigend, Architektur der Fünfzigererjahre: einer Skisprungschanze nachempfunden? Ebenfalls gewagt. Das ist das Gebäude der Tiroler Passionsspiele.

Die Tiroler Passionsspiele in Erl gibt es schon seit über vierhundert Jahren, die werden sich die Winkelhofens sicher angesehen haben. Rosina und Franz, stelle ich mir vor, haben sogar mitgemacht, als sie noch jünger waren, es war und ist Volkstheater, nicht anders als in Oberammergau. Hat Rosina ihren Michael Watscheder beim Theaterspielen kennengelernt?, fantasiere ich.

War der Baron von Winkelhofen reich? War er ein hoher Herr in Erl? Ich glaube beides nicht. Sicher war er angesehen als Baron, noch heute sprechen die Schlechinger fast mit ein wenig Hochachtung von „dem Baron”. Sicher ging es ihm auch nicht schlecht, wahrscheinlich besser als dem Durchschnittsbauern. Aber ich glaube, dass auch der Baron in diesem ausgeprägt ländlichen Gebiet ländlich lebte. Er bezog sein Beamtengehalt, wird aber darüberhinaus sein Haus wie einen kleinen Bauernhof mit Knechten und Mägden geführt haben, später auf dem Streichen nicht anders. Ich habe den Eindruck, dass die Winkelhofens im 19. Jahrhundert eine verarmende Adelsfamilie waren. Auf jeden Fall scheinen sie keine Schwierigkeiten damit gehabt zu haben, dass eine ihrer Töchter einen Bauernsohn geheiratet hat. In Carl Oskar Renners Heimatroman „Der Müllner-Peter von Sachrang“ ist das ganz anders: Eine Heirat zwischen dem Müllersohn Huber Peter vom Dorf Sachrang – es hat ihn wirklich gegeben, er lebte von 1766 bis 1843 – und der jungen Baronesse von Lilien aus München ist dort unmöglich. Worin der Unterschied zu unseren Winkelhofens besteht, kann ich nicht beurteilen – wenn dieses Verhältnis überhaupt historisch ist. Ich vermute, bestimmte Kleinadelsfamilien, vor allem die begüterten in der herzöglichen, später königlichen Residenzstadt, hielten mehr auf ihre hohe Herkunft als andere, die ländlicher, ärmer und näher an dem bäuerlichen Leben waren. Wenn man sich die Fotos von Franz von Winkelhofen anschaut, dann sieht man einen durchaus selbstbewussten Herrn, aber auch einen ländlich derb gekleideten Bauern. Beides scheint mir auf die Winkelhofens zuzutreffen.

Dienstag, 21. Juli

Zum Halbwarthof

Irgendwann im Frühjahr 1861 rumpelte ein Pferdefuhrwerk – oder war es nur ein Ochsenkarren? – bei Oberaudorf über die gerade neu gebauten Eisenbahnschienen, auf denen ein oder zweimal am Tag der Zug von München über Rosenheim und Kufstein nach Innsbruck dampfte. (Sicher waren die Bauern schon mehrmals extra an das Gleis gepilgert, um diese technische Sensation vorübertosen zu sehen.) Weiter ging das Gefährt über die Innbrücke in Richtung Niederndorf. Auf dem Wagen Hausrat, ein, zwei einfache Holzkommoden mit Kleidung, einfachem Blechgeschirr und Besteck, außerdem bäuerliches Gerät wie Sichel, Sensen, Rechen, Pflug und derlei. Hinter dem Karren an einen Strick gebunden trottete eine Kuh – so stelle ich es mir vor, und so ähnlich wird es mir hier auch berichtet: Viel mehr besaßen die normalen Bergbauern im 19. Jahrhundert nicht.

Neben dem Ochsen – oder dem Pferd – schritt der Bauer und führte das Tier. Oben auf dem Karren saßen die Bäuerin, einen Säugling im Arm, und ein kleiner Bub, der noch kaum laufen konnte. Vielleicht war das Fuhrwerk gemietet, dann saß ein Kutscher vorn auf dem Bock. Es waren der Bauer Watscheder Michael und seine zukünftige Frau Rosina, die die Straße hinauf nach Niederndorf unterwegs waren.

Wie sah es aus auf den Straßen? Viele Menschen zu Fuß, oft mit irgendwelchen Lasten im Arm, auf den Schultern oder auf dem Kopf. Dann Heuwagen, Holzfuhren, Pflüge, Eggen, meist mit Ochsen oder Kühen bespannt, öfters auch mit Pinzgauern oder den Südtiroler Haflingern, den hier üblichen Kaltblüter-Arbeitspferden. Gelegentlich eine knarrende Postkutsche.

Die kleine Familie war auf dem Weg zum Halbwarthof oberhalb des Walchsees im Kaiserwinkl. Dort oben hat Michael ein kleines Häuschen mit einer angrenzenden Wiese gekauft, ein “Gütl”, um eine neue Existenz zu versuchen. Das war keineswegs ungwöhnlich. Die vielen nicht erbberechtigten Hofsöhne haben immer irgendwo kleine Anwesen gekauft, wieder verkauft, es woanders neu versucht. Einige haben immer auch sich bemüht, als Handwerker irgendwo ein Auskommen zu finden. Aber die meisten sind Bauern geblieben. Hier hatte die Industrialisierung noch nicht begonnen.

Wir wissen so genau über den Bezug des Halbwarthofs Bescheid, weil wir das schriftlich dokumentiert haben: In den Schlechinger Archiven ist vom Zuzug des Michael Watscheder, ehemaligen Halbwartbesitzers, aus Oberaudorf die Rede. Und für Halbwart kennen wir eine „Besitzstammreihe“ des Hofes. In diesem Dokument steht:

Michael Wagscheder
Bauernsohn zu Oberndorf bei Ebbs. Laut Kaufvertrag vom 27.VI. 1861 fol. (=folio) 340. 
        
Als ich die Kopie dieser Halbwart-Besitzstammreihe zum erstenmal gelesen habe, sind mir Zweifel gekommen. Handelt sich sich um einen ganz anderen Bauern, einen Wagscheder, der aus Oberndorf stammte? Wenig wahrscheinlich. Das G in Wagscheder muss ein Hör- oder Schreibfehler gewesen sein. Zu eindeutig liest man in den Schlechinger Unterlagen, Watscheder sei vom Halbwarthof gekommen. Aber kam er in Wirklichkeit gar nicht aus Oberaudorf? Kam er in Wirklichkeit aus Oberndorf, einem Ort am rechten, also Tiroler Innufer, keine fünf Kilometer südlich des Erler Zollhauses? So hätte er auch dort nahe genug am Wohnort des Zolloberinspektors Baron von Winkelhofen gelebt, um dessen Tochter Rosina leicht mal über den Weg zu laufen. Zudem noch wäre er als Tiroler nicht einmal ein Grenzgänger gewesen. Glaubte man in Schleching, und glaubt die Watscheder-Familie der Karin Raab, meiner „neuen“ Kusine, noch heute nur deshalb, er sei aus Oberaudorf gewesen, weil es dort Watschöd gibt, das so klingt wie der Familienname?

Nein, die schriftlichen Hinweise in den Schlechinger Akten auf Oberaudorf sind so zahlreich, dass man davon ausgehen muss, dass die Halbwart-Besitzstammreihe falsch ist, besser ungenau. Der Verfasser dieser Stammreihe mag richtig aus den Akten des Ortes Schwaigs, wo der Kaufvertrag schriftlich niedergelegt worden ist, abgeschrieben haben. Aber dort, in Schwaigs, wird der Fehler gemacht worden sein. Ich stelle mir das so vor: Michael musste ins Amt, um sich zu melden und den Kaufvertrag abzuschließen. Der Beamte, ein nur wenig motivierter Mensch – viel wird er hier in der abgelegenen Provinz nicht verdient haben, vielleicht war er sogar hierher strafversetzt worden, ich kenne derartiges aus Afrika – dieser Beamte hörte den Namen dahergenuschelt, ließ den Schreiber in der Aktenstube „Wagscheder“ aufschreiben, und der hörte irgend etwas mit „Ober“ und „Dorf“, und am folgenden Tag erinnerte er sich nicht mehr so genau und dachte, Oberndorf als Tiroler Ort liege durchaus nahe. Weder der Standesbeamte noch Michael haben sich weiter darum geschert, was der Schreiber in seiner Aktenstube da aufgeschrieben hat – wenn Michael überhaupt lesen konnte, um die Eintragungen zu kontrollieren. So erkläre ich mir diesen Fehler.

Ich gehe also nach wie vor davon aus, dass die Watscheders von Oberaudorf aus zum Halbwart gezogen sind. Der Weg, den sie genommen haben, muss in etwa der Weg gewesen sein, den ich heute wandere, andere Wege sind kaum möglich. Wenn sie den Weg gegangen sind, dann haben sie noch lange den Oberaudorfer Hausberg, den Brünnstein, sehen können und den weithin am Hang des Schildbarren sichtbaren Watschöd, bis Niederndorf. Was damals ein für Ochsenkarren und Pferdekutschen befahrbarer Sandweg gewesen sein wird, ist heute eine Durchgangsstraße, die Straße von Kufstein über Niederndof nach Kössen. Ein schöner Wanderweg ist das nicht: Einmal zerfließe ich wieder in den schier tropischen Temperaturen. Spätestens heute ist mir klar, dass ich bei meiner Wanderung in eine Hitzwelle geraten bin. Schwur: Nie wieder im Sommer wandern! Zum andern gehe ich – immerhin auf einem Radweg – entlang des endlos lärmenden Autoverkehrs.

Aber dann verlasse ich die Straße nach links in einen Wald hinein. Durch diesen leicht schattigen Wald geht es etwa eine Stunde bergauf, und ich gelange schließlich in ein weites Wiesental. Ich bin überwältigt von der Schönheit dieser Landschaft und von der Ruhe, die hier herrscht: Weite, weite leicht geschwungene Wiesen (Waren das vor hundertfünfzig Jahren auch Wiesen?), weithin umgrenzt von dicht bewaldeten sanften Bergen.

Die Watscheders werden vor hundertfünfzig Jahren den Weg über Schwaigs genommen haben, nördlich am heutigen Naturschutzgebiet Schwenn vorbei. Ich wähle den südlichen Weg. Er ist ruhiger, nicht ein einziges Auto fährt an mir vorbei. Schließlich komme ich nach Winkl, nach Oberwinkl, und jetzt muss ich mich entscheiden: Zum Halbwarthof die Straße hinauf? Oder über den Wiesenhang, der allerdings sehr steil ist. Ich wähle natürlich den Wiesenhang. Und bereue schnell. Die Hitze und das Gewicht meines Rucksacks fordern jetzt doch ihren Tribut. Alle zehn Schritte halte ich an, keuche, stütze die Hände auf die Knie. Die Wasserflasche ist leer. Ich komme kaum voran. Wie zum Teufel sind denn die Watscheders mit ihrem Karren hier hochgekommen? Gab es denn vor hundertfünfzig Jahren schon eine Straße, einen Fahrweg? Ich sehe schon das Gebäude über mir – und brauche Ewigkeiten. Schon auf dem bepflasterten Weg um das Haus herum, immer noch bergauf, muss ich dennoch immer wieder schwer atmend anhalten. Dieser letzte Anstieg ist ein einziger „Tschoch“.

Endlich oben angekommen falle ich erschöpft, halb ausgetrocknet, auf eine Bank am Haus, klatschnass, hart an der Grenze zum Schwindel. Die zuständige junge Bäuerin ist nicht da, zum Glück aber die alte. („Früher habe ich hier alles gemacht.“ Man spürt den Stolz in diesen Worten.) Sie lässt mich ins Haus und in mein Zimmer, wo ich gut eine halbe Stunde und mehr als einen Liter Wasser aus dem Hahn brauche, um mich wieder zu erholen.

Heute ist der Halbwarthof ein großes Anwesen, und das Häuslein der Watscheders ... gibt es nicht mehr. Der alte Bauer, Mayr Wolfgang, hat es 1989 abgerissen. Jetzt steht an der Stelle ein Wohnhaus, in dem Hubert, der zweite Sohn des alten Wolfgang, mit seiner Familie lebt. Im Frühstückszimmer hängt ein etwas ungelenk gemaltes Bild von dem Haus, das in den 80erjahren ein Feriengast gemalt hat. „200 Jahre altes Haus“ steht darunter. Demnach muss es in den 1780erjahren gebaut worden sein, wenn diese Angabe denn stimmt.

Geradezu umwerfend, mit welcher Offenheit und Freundlichkeit ich empfangen werde. Ich erfahre das alles innerhalb einer halben Stunde. Kaum ist die Familie Mayr zusammen – die junge Bäuerin Gertraud, im achten Monat schwanger, am 7. September wird eine Annalena zur Welt kommen, ein kleiner zweijähriger Martin läuft schon herum, der junge Bauer Werner, der jüngste Sohn, der den Hof seit zwei Jahren betreibt, höchsten dreißig Jahre alt, und der alte Wolfgang – kaum also ist die Familie zusammen, kaum habe ich mich vorgestellt und spreche mein familienhistorisches Interesse an, da öffnen sie sich, beantworten mir jede Frage, der junge Werner holt sofort, ich habe ihn gar nicht darum gebeten, die „Besitzstammreihe“ hervor, die ich schon von unserer neu entdeckten Watscheder-Kusine kenne, mit den Schreibfehlern „Wagscheder“ und „Oberndorf bei Ebbs“. Und gleich erzählt mir der alte Bauer, Wolfgang, seine Familiengeschichte. Ich weiß mehr, als ich hier aufschreiben kann. Nur soviel: Er wurde auf Halbwart geboren, 1939. („Darf ich fragen, wie alt du bist?“, will er von mir wissen. „Sechsundsechzig.“ „Ich bin genau zehn Jahre älter.“) Als Kind hat er mit seiner Mutter 1955 den Hof verlassen, der dann sechs Jahre lang leer stand. Dann, 1961, hat er Halbwart übernommen und komplett neu aufgebaut. Erstaunliche Leistung, wenn man das recht stattliche Grundstück sieht mit dem Haupthaus, dem Altenteil („Ausgedingehaus“) und dem Wohnhaus des zweiten Sohnes Hubert – und mit all den Maschinen.

Wie konnten vor hundertfünfzig Jahren hier Bauern überleben?“, frage ich ihn. „Schwer“, sagt er. „Die Bergbauern haben damals nur fürs Überleben gearbeitet, hart gearbeitet, von morgens bis abends, ohne Sonntag, ohne Ferien.“ „Und der alte Hof der Watscheders? Die haben ihn ja schon nach fünfzehn Jahren wieder verkauft. Warum?“ „Der alte Hof, damals nur ein Gütl, ist viel verkauft worden. Er war zu klein, zu hoch oben, die Wiesenschrägen zu steil. Er gab zu wenig her.“ Der Hof war nur eine kleines „Gütl“, sein Grund umfasste nur wenige „Tagwerk“ Land – 1 Tagwerk sind etwa 60 x 60 m. „Hatten sie damals hier schon eine Straße?“ „Nein, die gab es nicht, nicht einmal einen ordentlichen Fahrweg. Sie mussten ihre Lasten mit dem Pferdeschlitten hinauf- und hinunterfahren.“ „Schlitten? Auch im Sommer?“ „Auch im Sommer.“

Ich stelle mir vor, wie Michael mit seiner kleinen Familie im Juni 1861 den Pferde- oder Ochsenkarren hier hochgewuchtet haben muss. Wenn es ein gemietetes Fuhrwerk war, hat der Kutscher bestimmt geflucht und sich beschwert, dass er mit einer solchen Steigung nicht gerechnet habe, das sei nicht ausgemacht gewesen, und hat so auf den Mietpreis noch etwas draufgeschlagen.

Heute führt eine schmale, aber für Autos bequeme Teerstraße hier herauf. „Wann ist die gebaut worden?“, frage ich Wolfgang. „In den 1970ern. Die haben wir bezahlen müssen. Drei Höfe liegen an ihr. Jeder musste ein Viertel bezahlen, und ein Viertel die Gemeinde. Und die restlichen fünfzig Prozent der Bund.“ Er meint wohl, jeder musste ein Achtel bezahlen. „Wie schafft ihr die Arbeit heute?“ „Die Maschinen“, sagt er. „Und es gehört viel mehr Land zum Hof.“

Es sind heute keine Vollbauern mehr. Wolfgang hat als Metzger gearbeitet. Der junge Bauer Werner ist als Tischler tätig. Morgens geht er in den Stall, danach mit dem Auto ab zur Arbeit. Und die junge Gertraud hat vor den Kindern in Kufstein eine Anstellung gehabt. (Kufstein, zwei Tagestouren entfernt! Mit dem Auto zwanzig Minuten.)

Michael und Rosina haben hier im Mai 1862 geheiratet und so die beiden Söhne Johann und Joseph nachträglich „legitimiert“. Erst sechs Jahre später, am 15. Februar 1868, kam als Nachzügler hier auf dem Halbwarthof der dritte Sohn zur Welt: der Nachzügler, wieder ein Michael, mein Uropa.

Haben Michael und Rosina und die drei Buben vor hundertfünfzig Jahren die Landschaft genossen? Den Blick auf den Hausberg (er heißt so) mit der Harauer Spitze haben sie gekannt, auch die atemberaubend schöne Aussicht hinunter auf die weiten Wiesen der Ebene bei Schwaigs, durch die ich gekommen bin. Aber haben sie das auch als schön empfunden? Der alte Wolfgang sagt: „Ja, es ist schön hier. Ihr Feriengäste genießt das. Aber wir arbeiten hier. Wir sehen das nicht.“ War also die fichtenbestandene Felswand des Hausbergs für die Bauern, die hier ums Überleben schuften mussten, nur die gewohnte Umgebung, wie die Wand im Stall? Wenn das Wirtschaften erfolgreich gewesen wäre, wäre dann auch die landschaftliche Umgebung schön gewesen?

Das Wirtschaften auf dem zu kleinen, zu steilen, zu kargen Halbwart-„Gütl“ war nicht erfolgreich. Michael musste das Anwesen nach nur fünfzehn Jahren wieder aufgeben. Das war 1876, er war inzwischen verundfünfzig Jahre alt, Rosina fünfzig, Johann sechzehn, Joseph fünfzehn, und der Nachzügler Michael auch schon acht. Dieser kleine Michael, mein Uropa, hat er den Hof, auf dem er die ersten Lebensjahre verbracht hatte, mit Wehmut verlassen? Oder war er froh, die engen, kärglichen Verhältnisse loszuwerden? War er gespannt auf ein neues, besseres Leben? Oder war es ihm egal, und er zog eben einfach um?

Ich will, ich muss morgen weiter, auf dem Weg der Watscheders nach Schleching im Chiemgau. Ich frage die junge Bäuerin, Gertraud, ob ich mir statt des Frühstücks morgen jetzt am Abend etwas Brot als Wegzehrung machen könne, ich wolle sehr früh los, um nicht wieder in die Mittagshitze zu geraten. „Wie früh?“, fragt sie. „So um halb sechs.“ „Also Frühstück um fünf?“ Ich zögere, und sie sagt lachend: „Ohne Frühstück lassen wir unsere Gäste nicht aus dem Haus.“ Die Brote kann ich mir morgen außerdem schmieren, und jetzt gibt es noch eine Abendjause. Das Brot hat sie selbstverständlich selber gebacken. Und am nächsten Morgen wird sie extra für mich eine Stunde früher aufstehen. (Das alles kostet mich mit der Übernachtung ganze 22 €.)

Nach der Abendjause genieße ich einen milden Abend auf dem Balkon mit einem weiten Blick ins Wiesental.


Mittwoch, 22. Juli

Nach Schleching

1876: Wieder musste die Kleingütler-Familie Watscheder alle Habseligkeiten zusammenpacken und losziehen. Michael hatte einen Hof im bayerischen Schleching im Chiemgau gefunden. Der schien vielversprechender zu sein. Er blieb dann zwar auch nicht lange in Watschederschem Besitz, aber immerhin fünfunddreißig Jahre bis 1911.

Über welche finanziellen Mittel die Familie verfügte, wissen wir nicht. Aus eigener Wirtschaft scheint nicht viel vorhanden gewesen zu sein. Aber es könnte ja sein, dass Sebastian in Oberaudorf seinem Bruder ein bisschen unter die Arme gegriffen hat, wenn er denn etwas mehr besaß. (Der Vater scheint ja schon vor 1856 gestorben zu sein.) Oder hat Rosinas Bruder/Vetter Franz ausgeholfen? Der war immerhin ein beamteter Baron und scheint Rosina wohlgesinnt gewesen zu sein; zumindest hat es ihm später nichts ausgemacht, in ihrer Nähe ein Gut zu kaufen.

Es gibt nur einen Weg, den die Watscheders gegangen oder gefahren sein können, den einzigartig schönen, heute bequemen Wanderweg am Hausberg entlang, vorbei an der Riederalm, über den Harausattel – von dort einen letzten Abschiedsblick auf den Brünnstein, ferner Gruß aus Oberaudorf –, durch die Edernalm, auf welcher Kuhherden mich mit ihrem Glockengeläut begleiten, hinunter nach Staffen. Ich gehe nur bis Staffen, weil ich von dort über den „Schmugglerweg“ hoch über der Tiroler Ache nach Schleching will. Die Watscheders werden bis Kössen gefahren sein und von dort den Fahrweg über den Klobensteiner Pass in den Chiemgau genommen haben. Haben sie in Kössen übernachtet?

Der „Schmugglerweg“, eine touristische Attraktion. Alle kennen ihn, die Halbwarter wie die Schlechinger. Es ist ein uriger Wanderweg von Tirol nach Bayern, über Baumwurzeln und Felsbrocken, bisweilen auch steil hinauf und hinab, meist schön schattig unter hohen Bäumen, und rechts tief unten rauscht die Tiroler Ache.

Dieser reißende Gebirgsfluss hat sich hier seit der letzten Eiszeit tief in eine Klamm hineingeschnitten, die schmalste Stelle, schon auf der bayerischen Seite, heißt Entenloch. Ursprünglich war die Klamm (wir Norddeutsche würden „Schlucht“ sagen) enger als heute. Aber bei Hochwasser hatte sich der Fluss oft so weit gestaut, dass die Klamm an der engsten Stelle durch Sprengungen erweitert werden musste. Selbst Kössen, über zwei Kilometer flussaufwärts, war regelmäßig überflutet worden, wie zum Beispiel 1899, so lese ich auf einem Informationsschild. Das muss Dorfgespräch auch in Schleching gewesen sein, die Urgroßeltern Michael (der „Nachzügler“) und seine Frau Maria müssen darüber gesprochen haben, zumal Maria aus Kössen stammte – sie war eine Tochter des Kössener Schuhmachers Franz Wurnig. Vielleicht hat sogar mein Opa, damals ein vierjähriger Bub, mit Schrecken von der Flutkatastrophe in dem Dorf seines Großvaters etwas mitbekommen.

Die Sprengungen haben leider nicht viel gebracht. Immer wieder liest und hört man nach wie vor von schlimmen Fluten, zuletzt vor drei Jahren, als die Ache Kössen nach sintflutartigen Regenfällen wieder einmal unter Wasser gesetzt hat. Selbst die hohe Hängebrücke am Klobenstein, gut zwanzig Meter über dem Fluss, ist dabei beschädigt worden.

Auch aus einem anderen Grund ist die Tiroler Ache interessant: Man fragt sich, warum Tiroler, warum nicht einfach nur Ache? Und ich erfahre, dass es in den Alpen noch andere Achen gibt. Aber auch erfahre ich, dass der Fluss in seinem Verlauf mehrmals seinen Namen ändert: Bei Kitzbühel heißt er (auch) Kitzbüheler Ache, bei Kössen (auch) Kössener Ache – ich gehe also auf dem Schmugglerweg entlang der Kössener Ache – dann in Bayern heißt er (auch) die Tiroler Achen (mit n), bairischer Dialekt, und insgesamt wird er auch Großache genannt. Ich habe allerdings immer nur Tiroler Ache gelesen und gehört, und selbst im bayerischen Schleching sagen die Leute Tiroler Ache, oder einfach nur Ache.

Auf dem Schmugglerweg nach Schleching erwarte ich eigentlich, dass die Ache unten in der Klamm gegen meine Gehrichtung fließt, von Bayern nach Tirol, um irgendwann in den Inn zu münden. Stimmt nicht. Kössen oberhalb der Klamm wird ständig überflutet, nicht Schleching unterhalb der Klamm. Die Ache fließt in meiner Richtung von Tirol nach Bayern, aus den Alpen hinaus und mündet im Norden in den Chiemsee.

Der „Schmugglerweg“ hieß 1876 bestimmt noch nicht so. Möglicherweise war er aber noch einer, nämlich für den Schmuggel zwischen Österreich-Ungarn und dem Königreich Bayern, damals bereits Teil des neuen Deutschen Reichs unter Bismarck. Heute ist er ein Urlaubermagnet, viele Wanderer, oft Eltern mit Kindern, begegnen mir und rufen mir ein „Grüß Gott“ zu mit deutlich westfälischem oder sächsischem Klang. Die Schlechinger Touristik-Information versucht derzeit den Weg neu zu bewerben, um noch mehr Feriengäste anzulocken. Dafür sucht sie über ein Infoblatt (Titel: „Schleching – das Dorf der Zukunft“) „ein Logo für den Schmugglerweg / das Schmugglerdorf: egal ob modern, kindlich naiv, verspielt, puristisch, altmodisch ...“ und fordert Schlechinger wie Gäste auf, ein solches Logo zu entwickeln. „Der Gewinner erhält ein Brotzeit-Brettl mit Brotzeit.“

Wenn Rosina damals über den Schmugglerweg gegangen ist in das „Schmugglerdorf“ Schleching, dann wird sie sich als Verwandte eines Zollaufsehers so ihre Gedanken gemacht haben. War sie amüsiert, wie ich jetzt? Oder haben die Watscheders gar die Gelegenheit ihres Umzugs wahrgenommen, um ebenfalls zu schmuggeln, welche Waren auch immer? Von meinem Schlechinger Pensionswirt höre ich später mit Staunen, und lachend sagt er das, dass auch die Winkelhofens auf dem Streichen kräftig geschmuggelt hätten, eben über diesen Weg hoch über der Achenklamm.

Aber ziemlich sicher haben die Watscheders mit ihrem Pferde- oder Ochsenfuhrwerk gar nicht diesen unbefahrbaren Waldweg genommen, sondern den Weg unten am anderen Ufer den Fluss entlang über den Klobensteiner Pass. Heute verläuft dort die Straße von Kössen über Schleching nach Unterwössen, auf bayerischer Seite die B 307. So wird auch 1876 dort ein Fahrweg gewesen sein. Später wird mir das bestätigt. Der Buchberg war ihr Ziel, gleich hinter Schleching, kurz vor Mettenham. Oben auf diesem Hügel hat Michael einen neuen Hof gekauft, den Buchberghof.

* * * * *

Schleching liege landschaftlich reizvoll am Fuß von Kampenwand und Geigelstein – auf dessen Gipfel man bei günstiger Witterung die Heldenorgel von Kufstein hören kann – in einem „wiesengrünen“ Talkessel, lese ich in einem Informationsheft über die Schlechinger Kirche. „Wiesengrün“ ist ein schöner Ausdruck für das weite, flache, von Wiesen durchzogene Achental, eine liebliche Landschaft, kaum noch alpin. Es gibt kein Hochgebirge mehr – der Wilde Kaiser ragt nur fern im Süden hervor –, sondern sanft geschwungene, bisweilen felsige Berge, Mittelgebirge, der Geigelstein ist gerade mal 1.808 m hoch. Das sind die Ausläufer der Alpen, man sieht ihr Ende im Norden, wohin die Ache zum Chiemsee im Alpenvorland fließt.

Schleching ist ein kleines Dorf, ein Nest mit 1.758 Einwohnern, davon ca. fünfhundert Bewohner mit Zweitwohnsitz, Feriengäste aus ganz Deutschland – sogar von Sylt. Diese Einwohnerzahlen schließen aber alle Eingemeindungen ein, Wagrain, Ettenhausen, Mettenham usw. Das eigentliche Dorf dürfte kaum mehr als fünfhundert Menschen mit Erstwohnsitz beherbergen. Es gibt hier einen Dorfladen (Edeka), eine Raiffeisen-Bank, einen Metzger, einen Bäcker, einen Friseur. Auf einem Schild des SC Schleching lese ich mit Kreide geschrieben: „Nächstes Heimspiel: Berchtesgaden“. Viel mehr gibt es nicht. Aber für die Urlauber: zwei große Gasthöfe – den „Geigelstein“ und das „Gasthaus zur Post“; zwei Sportgeschäfte: Wanderschuhe, Ski, Rafting-Equipment für das „Entenloch“ in der Achenklamm, Kletterausrüstung für die Zwillingswand an der Hochplatte; im Touristik-Informationszentrum („Bürgerhaus“) steht während der Öffnungszeiten ein Computer frei zur Verfügung mit kostenlosem Internetzugang; und in nahezu jedem zweiten Haus kann man Fremdenzimmer mieten.

Hier in diesem Schleching wurde mein Opa Michael Watscheder am 22. November 1895 geboren, Sohn des „Nachzüglers“ Michael, der 1876 beim Einzug in Schleching acht Jahre alt gewesen war. So hätte aus meinem Opa ein Bayer werden müssen, wenn nicht etwas sehr Unschönes passiert wäre, eine familiäre Katastrophe.

* * * * *

Ich sitze im „Gasthaus zur Post“ und trinke, nach sechs Stunden Marsch vom Halbwart in mittäglicher Gluthitze angekommen, erst einmal zwei eiskalte Johannisbeerschorlen. Wieder bei Kräften sehe ich auf meinem Zettel nach, wo die Pension ist, in der ich schon von Hamburg aus telefonisch ein Zimmer bestellt habe. Ich frage die Kellnerin, ob sie mir sagen könne, wo der Landerhausener Weg sei. Sie dreht sich um und gibt die Frage ins Lokal weiter: „Wisst ihr, wo der Landerhausener Weg ist?“ Zwei Männer sitzen beim Bier an einem Tisch, ein sehr alter mit schütterem Vollbart, der andere jung, und ein Ehepaar hat sich gerade ein Essen bestellt, offenbar ebenfalls Einheimische – es ist noch zu früh für ein Mittagessen für Feriengäste. Alle überlegen, diskutieren: Welche Straße könnte der Landerhausener Weg sein? Eine der Straßen nach Landerhausen. Aber welche? Der Alte mit dem schütteren Vollbart wendet sich an mich: „Zu wem möchten Sie denn?“ „Daxer.“ Sofort geht durch den ganzen Raum ein einhelliges Kopfnicken. „Achso“, sagt der Alte, „da gehen Sie die Straße hinunter, gleich dort hinter dem Laden rechts, das zweite Haus links, keine drei Minuten, da wohnt der Daxer.“ Straßennamen!

Meine Pensionswirte, Herr und Frau Daxer, sind rührend nette Leute. Sie freuen sich über mein Interesse an den Schlechinger Ahnen. Während ich noch in der Dusche den Wanderschweiß abspüle, ruft Herr Daxer aus eigenem Antrieb die Aigners vom ehemaligen Sägewerk Aigner an, fragt dort nach und kündigt meinen Besuch an. Ich hatte ihm gerade erzählt, dass der Watschedersche Bauernhof auf dem Buchberg 1917, wie ich noch fälschlich denke, an eben diese Sägerei Aigner verkauft worden sei. Auch sonst sind die Daxers personifizierte Hilfe: Ich darf Wäsche waschen – und bekomme sie gebügelt zurück, selbst die Unterhosen und Socken („Ich bin nur einmal mit dem Bügeleisen darübergefahren“, sagt sie); ich erhalte Schreibmaterial, da mir meines ausgegangen ist; jeder Weg, jeder Berg wird mir minutiös beschrieben; ich werde mit dem Auto zum zwei Kilometer entfernten Ettenhausen gefahren, wo ich den „Heimatpfleger“ besuche; ich darf an ihr Festnetz-Telefon, da mein Handy in Schleching in einem totalen Funkloch steckt – O2!

Sie ist aus Oberwössen jenseits des nahen Hügelkammes hinter der Ache. Er ist Schlechinger, in dem mütterlichen „Knoglerhof“ gleich bei der Kirche geboren, Schreiner in Rente. Der Heimatpfleger Hartmut Rihl kennt ihn natürlich: „Der ist nur wenig älter als ich“ – also etwa Ende siebzig – „mit dem bin ich Ski gefahren, damals noch ohne Lift, mit dem hab ich Theater gespielt.“

Die Pension – Landerhausener Weg 7, 20 € die Nacht incl. (wie überall mäßiges) Frühstück – ist ein einfaches größeres, sauberes Haus, Obergeschoss wie hier üblich aus Holz. Es steht am östlichen Rand des Dorfes, man sieht in der Ferne über eine der weiten Wiesen den Achendamm. Das Zimmer ist klein, ich kann mich aber im Haus frei bewegen, darf sogar im zur Zeit unbewohnten, etwas kühleren Doppelzimmer nebenan sitzen, wo der Blick auch schöner ist. Das Frühstückszimmer – wo ich die trockenen aufgebackenen Krümelsemmel mümmeln muss, aber der Kaffee ist heiß, und das Ei ist wirklich weich – dies Frühstückszimmer hat die übliche Einrichtung: Teppichboden, ein Kruzifix, eine Maria, Gemälde von Gebirgstälern, Blumen, röhrenden Hirschen an den Wänden, ein Kachelofen, „schöne“ Teller aufrecht auf einem Bord, und so fort. Bayerische und österreichische Fremdenzimmer-Gemütlichkeit. Aber ich fühle mich wohl, vor allem, weil die beiden Daxers so ausgesprochen herzliche Menschen sind.


Donnerstag, 23. Juli

Schleching – Buchberg (1) – Streichen

Die Kirche von Schleching ist sehr bayerisch, weiß-gelb, Zwiebelturm, sauber, renoviert (1983 – 1987), hübsch außen wie innen, frühes Rokoko, wie ich lese, in den 1730erjahren erbaut. Die Watscheders haben sie gekannt. Sind sie regelmäßig in die Messe gegangen? Zur Beichte? Vom Buchberg war das ein Weg von einer knappen halben Stunde.

Der Buchberg ist eine dicht bewaldete Erhebung in den weiten Wiesen am nördlichen Ende des Schlechinger Achentals. Dort oben hat es nur diesen einen Hof gegeben. Wann der älteste Sohn meines Ururgroßvaters Michael, der Erbe Johann, der 1860 noch in Oberaudorf geboren worden war, den Buchberghof übernommen hat, wissen wir nicht. Leider wissen wir auch nicht, wann der alte Michael gestorben ist. Rosinas Todesjahr kennen wir: 1902. Der Hof wurde 1911 an die Sägerei Aigner verkauft. Johann wohnte danach in einem Haus unten in Mettenham und starb 1934 in Oberwössen.

Ich gehe keuchend den Waldweg zum Buchberg hinauf. Aufdringliche Pferdebremsen umsummen meine Ohren, immer wieder muss ich um mich schlagen. Verdammte Biester! Die Watscheders haben ihre Höfe immer auf Bergen oder an Hängen gehabt. Möglicherweise waren die erschwinglicher, weil sie weniger einbrachten oder schwerer zu bearbeiten waren. In der Tasche habe ich wieder ein Foto von meiner neuen” Kusine Karin Raab: Die Frontseite des Buchberghauses. Werde ich dieses Haus finden? Steht es noch?

Ich gelange auf eine Lichtung an einem Hang, alles verwildert und von Unkraut überwuchert. Ein Weg führt durch hohes, trockengelbes Gras. Überall wild wachsendes Gestrüpp. Hier könnte mal ein Bauernhaus gestanden haben. Dann entdecke ich in einer kleinen Senke einen funkelnagelneuen Carport – ohne ein Auto darin –, einen bis in die Ecken hinein gepflegten Garten, Rasen vorbildlich gemäht, Obstbäume, Kinderspielzeug, ein Trampolin. Das alles gehört zu einem wunderschönen, sehr großzügigen Wohnhaus aus dunklem Holz. Ganz isoliert steht es in dieser verwilderten Umgebung. Ich nähere mich dem Haus, würde gern Kontakt aufnehmen, ohne mir klar zu sein, was ich eigentlich fragen soll. Wissen tun die hier sicher nichts. Kein Auto im Carport, es wird wohl kein Mensch da sein, und tatsächlich, es meldet sich auch niemand auf mein Klopfen und "Hallo”-Rufen.

Genau an dieser Stelle habe das alte Bauernhaus gestanden, so erzählt mir hinterher eine Frau Aigner unten in Mettenham. Sie weiß aber nicht, wann das Sägewerk den Buchberghof gekauft hat. 1917?”, frage ich, weil ich das richtige Datum 1911 noch nicht kenne. „Kann schon sein. Das Haus hat aber meine Großmutter schon lange verkauft.“ „Wie lange?“ „Das weiß ich nicht. Schon sehr lange. Die neuen Besitzer haben das Haus umgebaut, später weiterverkauft. Die jetzigen Besitzer haben es wieder umgebaut. Die kennen wir nicht.“

Die Sägerei Aigner ist bankrott, verfallene Holzlagerhallen zeugen davon. Es gibt aber in der Nähe eine Firma „Aigner Haustechnik“, eine Autohandlung „Aigner“ und eine riesige Zimmerei „Bachmann“. Immerhin, so ganz spurlos sind Name und Holzverarbeitung nicht verschwunden.

Verschwunden ist aber der Bauernhof auf dem Buchberg. Und verschwunden aus Schleching ist der Name Watscheder. Kein Mensch kennt hier den Namen. Vielleicht wäre er ohnehin verloren gegangen, auch wenn die Watscheders den Hof bis heute behalten hätten. Jeder kannte die Bauern vom Buchberg nur als „die Buchberger“. Vielleicht hätten sie den Vulgonamen übernommen. Von dem alten Johann Watscheder, dem Buchbergerben, existiert ein Foto, auf dessen Rückseite zu lesen ist: „das Buachei“.

Buachei? Was soll das heißen? Mein Pensionswirt Daxer weiß es sofort: „-ei“ ist eine bairische Verkleinerungsendung wie in Resei (= Thereslein) oder Marei (= Mariechen). Und „Buach“ ist die bairisch-diphthongierte Kurzform von „Buchberg“, „Buch“. „Das Buachei“ heißt also soviel wie „das Buchbergerlein“. Gäbe es heute noch die Nachfolger des alten Michael, meines Ururgroßvaters, der den Hof damals gekauft hat, dann hießen sie möglicherweise Buchberger.


* * * * *

Der Streichen ist ein Vorberg in der niedrigen Bergkette auf der anderen Seite der Tiroler Ache, etwa eine Stunde zu Fuß von Schleching. Heute ist dort oben ein Berggasthof, ein beliebtes Ausflugsziel vor allem wegen des Panoramablicks auf das Achental. Es gibt auch mehrere Wanderwege, die über den Streichen laufen, unter anderem den „Samerweg“ zum Klobenstein, einen früheren Saumpfad, auf dem Packtiere Lasten („Säume“) von Südtirol nach Bayern getragen haben, meist Pferde. Die Führer dieser Packpferde hießen Säumer oder Samer. Daher der heutige Name des Wanderwegs. Ich werde ihn nach meinem Besuch des Streichens heute Nachmittag gehen.

Oberhalb des Gasthofs steht eine weithin im Tal sichtbare Kapelle, die Streichenkirche. Außen ein schlichter Bau, innen ein kleines Juwel: eine romanische Saalkirche mit einer flachen Holzdecke, vor dem Chorraum ein gotischer Steinlettner mit Fresken aus dem 15. Jahrhundert. Auch der Chorraum wie das Retabel gotisch, wunderschön. Die Kapelle muss im 12. Jahrhundert gebaut worden sein zusammen mit einer Burg, die aber heute bis auf einige überwachsene Mauerreste verschwunden ist. Das dazu gehörende Mesnerhaus etwas unterhalb ist aus dem 15. Jahrhundert, wurde später ein Gutshof und ist eben heute zu dem Gasthaus geworden.

Diesen Gutshof auf dem Streichen hat im Jahre 1883 der damals gerade pensionierte k.u.k. Zolloberinspektor von Erl, Franz Baron von Winkelhofen, gekauft. Man fragt sich: Warum hat er das getan? Es ist sicherlich ein schönes Fleckchen Erde, dieser Streichen. Aber seine Familie war aus Südtirol. Warum ist er nicht dahin zurückgegangen? Hatte er dort keine Familienanbindung, keinen Besitz mehr? (Die „Karlsburg“, hatte er sie überhaupt je besessen?)

Seine um ein Jahr jüngere Schwester/Base Rosina, ich habe es bereits erwähnt, war zu dem Zeitpunkt Bäuerin auf dem Buchberg, schräg gegenüber auf der anderen Seite der Ache. Zufall? Man kann sich vorstellen, dass Franz seiner Verwandten hinterhergezogen ist, weil sie sich gut verstanden haben und er seinen Lebensabend in ihrer Nähe verbringen wollte. Oder hat er dies schöne Anwesen doch nur zufällig in Rosinas Nähe gefunden? Vielleicht hat er ja von ihr den Hinweis bekommen, dass ein geeignetes Gut bei Schleching zum Verkauf stehe. Wie dem auch sei, sie kannten sich, und das heißt, dass Rosina bestimmt immer mal wieder auf dem Streichengut verbracht hat, sicher auch mit ihren Kindern, also auch mit dem kleinen „Nachzügler“ Michael, meinem Uropa.

Wenn man heute in Schleching vom alten Baron von Winkelhofen spricht, dann meint man nicht Franz, dann meint man dessen Sohn Dominicus (1865 - 1949), den Streichenerben. Der hat auf dem Gut als Bauer und als Zimmermann gelebt, stellte Spanschachteln her und bemalte sie, gelegentlich hat er Fremde durch die Streichenkirche geführt. Seine Führungen sollen nicht sehr förmlich gewesen sein, da hieß es nicht: „Hier sehen Sie romanische Rundbögen“ oder: „Beachten Sie dort das gotische Retabel“, sondern er erklärte lieber den Klang der oben im Dachreiter hängenden Glocken, und zwar so: „De Glockn is vafluacht hoach obn, hat an vaduifet scheen Klang und is sakrisch hoach gweicht (= geweiht).“ Er ist 1949 ohne Nachkommen verarmt gestorben. Sein Grabkreuz steht auf dem Schlechinger Friedhof, das vierte Kreuz an der linken Mauer. Darauf steht dies geschrieben:

Hier ruhen

Baron Freiherr von Winkelhofen
ehem. Besitzer von Streichen
geb. 4. 8. 1865 gest. 10. 8. 1949

Baronesse Maria von Winkelhofen
geb. 6. 7. 1883 gest. 4. 5. 1970

Anna Strohmayer
ehem. Streichenwirtin
geb. 20. 4. 1915 gest. 23. 2. 1996

Franz Strohmayer
ehem. Streichenwirt
geb. 11. 7. 1912 gest. 15. 4. 2010

Wer ist die Baronesse Maria von Winkelhofen? Und warum ist das Ehepaar Strohmayer auf demselben Grabkreuz? Und vor allem: Wo ist Franz von Winkelhofens Grabkreuz?

Maria ist keine Tochter des Dominicus, sondern eine Nichte. Eine von Dominicus' Schwestern, Thecla, also eine Tochter des alten Franz, hat eines Tages im Jahr 1883 – der alte Baron hatte das Gut gerade erworben – einen Bankert bei ihrem Vater und ihrem Bruder auf dem Streichen abgeliefert und ist verschwunden. In der Schlechinger Pfarrmatrikel heißt es: „Ista Thecla genuit ex soluto Josepho Pfaffinger de Oberaudorf Mariam 6. Juli 1883“, das heißt: „Die benannte Thecla erzeugte mit (eigentlich: aus) dem unehelichen Joseph Pfaffinger aus Oberaudorf die Maria am 6. Juli 1883.“ So wuchs die kleine Maria auf dem Streichen unter ihrem Großvater Franz auf. Sie wurde das „Dechei“ genannt. Dechei? Das war ein Scherzname: „Dech“ ist bairische Mundart und heißt „Ziege“. „Dechei“ ist also das „Zieglein“. Und das war die scherzhafte Bezeichnung für Tiroler. Das „Dechei“ war also die Tirolerin. So erzählt es mir später Hartmut Rihl.

Es gibt ein bayerisches „Gstanzl“ über die Tiroler. Das geht so:

Tiroler Dech, Dech,
Hebt's Schwanzei a d' Hech. (= in die Höh)
Wann's Schwanzei net war,
War's Dechei net rar. (= wäre das Zieglein nicht besonders)

Übertragen heißt das soviel wie: Die Tiroler taugen nichts, und wenn, dann nur wegen ihrer Schwänzchen. Offenbar war das nicht weiter böse gemeint, ebenso wenig wie die Tiroler Bezeichnung der Bayern als „Boarfacken“ = „Bayernschweine“, was auf Hochdeutsch allerdings sehr grob klingt.

Maria, das Dechei, also die Tirolerin. Warum nur sie so genannt wurde und nicht alle Winkelhofens, das vermag ich nicht zu sagen. Oder war mit dem „Dechei“ doch nicht die Tirolerin gemeint, sondern einfach nur das Zieglein?

Was machen jetzt Anna und Franz Strohmayer auf dem Grabkreuz der Winkelhofens? Sie waren Streichenwirte, sie waren praktisch die Nachfolger des Dominicus. Geerbt haben sie das Streichengut nicht. Meine Pensionswirte sagen, sie hätten das Gut geschenkt bekommen. Hartmut Rihl, der Heimatpfleger von Schleching, erzählt es mir genauer. Die Geschichte der Übernahme geht so – und Achtung! Indirekt spielt eine Watschedersche dabei eine Rolle:

Eines schönen Tages im Sommer 1919, ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, tauchte beim inzwischen 54-jährigen Baron Dominicus von Winkelhofen – Vater Franz war seit acht Jahren tot – Rosina auf. Natürlich nicht die Schwester/Base des alten Franz, die war 1902 gestorben. Sondern deren Enkelin, Tochter des „Buachei“ Johann Watscheder, eines Vetters also von Dominicus. Diese Rosina – sie hieß Rosina Watscheder, war aber bekannt als die Buchbergertochter – hatte auch so einen Bankert auf dem Arm, was übrigens keine Besonderheit ist: In den Stammbäumen wimmelt es nur so von „illegitimen“ Kindern. Die wurden von den oft mittellosen Müttern gern bei Verwandten untergebracht, die in der Lage waren, die Kleinen zu ernähren und großzuziehen. Rosina hatte sich dieses Kind, ein Mädchen, bei einem serbischen Gefangenen angelacht, lieferte es bei ihrem Onkel zweiten Grades ab und machte sich wieder aus dem Staub. Auf dem Hof sollte es dem Kind gut gehen, ganz wie wir das schon vom Dechei kennen. Dominicus nannte die Kleine auch wieder Rosina (also Urenkelin der Halbwart- und Buchbergbäuerin Rosina), und sie wuchs als das „Rosl“ auf dem Streichen auf. Ihr Name war Rosina Watscheder (1919 - 2006), als uneheliches Kind trug sie den Familiennamen ihrer Mutter. Später war sie ausersehen, das Gut zu erben. (Warum eigentlich nicht das Dechei?)

Auf dem Streichenhof arbeitete als Knecht ein gewisser Strohmayer Franz, wahrscheinlich treu und tüchtig. Er sollte einmal das Rosl heiraten und den Streichen zusammen mit ihm, dem Rosl, übernehmen. Darauf lief es jahrelang hinaus – bis eines Tages das Rosl den Streichen verließ und jemand anderen heiratete. Da war nun nur noch der Strohmayer Franz, sonst gab es niemanden, der den Hof von dem inzwischen alten Dominicus hätte übernehmen können. Nochmal: Warum nicht das Dechei, immerhin eine Baronesse von Winkelhofen? Eine klare Antwort habe ich nicht bekommen, nur vage Andeutungen: zu alt, zu schwach, war immer als Magd ausgenutzt worden.

Der Strohmayer Franz arbeitete weiter auf dem Streichenhof, heiratete dann eine Anna, und irgendwann bekam er von dem alten Dominicus den Hof quasi aus Gewohnheit übertragen, mit der Auflage, dass das Dechei wohnen bleibe und bis zum Tod gepflegt werde. Der hat dann aus dem Bauernhof ein Gasthaus gemacht.


* * * * *

Eine altbäuerliche, gepflegte Gaststube des Streichengasthofs. Ich verzehre einen gutbürgerlichen Schweinebraten und bewundere die Holzbemalung an der Tür und an der Bohlendecke. Eine ältere Frau im Dirndl bedient mich. Sie spricht mit wenig bairischem Akzent, was mich zweifeln lässt, ob sie mir etwas über die Geschichte des Gasthofs und der Winkelhofens mitzuteilen in der Lage sei. „Können Sie mir sagen“, fange ich ein Gespräch an, „wo der Baron von Winkelhofen begraben ist?“ „Ja, das kann ich: Unten in Schleching.“ „Ja, Dominicus. Aber was ist mit dem Vater Franz, der dies Gut 1883 gekauft hat?“ „Da gab's hier keinen Vater. Die Familie stammt ja aus Tirol.“

Sie weiß es nicht. Sie weiß nur, was sie selber erlebt hat, aber das immerhin ist nicht wenig. Sie ist eine geborene Strohmayer, Schwester des heutigen Besitzers Franz und Tochter des alten Strohmayer Franz, der seinerzeit den Hof wie als Geschenk übernommen hat. Sie ist auf dem Streichen geboren und hat „den alten Baron“ noch erlebt, nämlich Dominicus. „Da war ich fünf, als der starb. Für mich war er wie ein Opa.“ Dann ist sie also Jahrgang 1944. „Er hat viel mit Holz gemacht“, erzählt sie mir, „viel auf Holz gemalt. Hier im Haus hat er alles bemalt.“ Sie zeigt auf die Tür und zur Decke hoch. „Das hat alles der Baron gemacht. Er war sehr arm, ist völlig verarmt gestorben.“ Ich frage sie nach Maria, dem Dechei. „Haben Sie die auch gekannt?“ „Freilich. Ich habe sie ja gepflegt. Sie konnte nichts mehr sehen. Die letzten acht Jahre ihres Lebens war sie blind.“ Und sie erzählt weiter: „Sie hat hart arbeiten müssen. Sie ist schon sehr ausgenutzt worden am Hof. Sie hat immer hart arbeiten müssen.“ Später ergänzt Hartmut Rihl: „Sie ist wie eine Bauernmagd gehalten worden.“ Ganz verstehe ich das nicht, Rihl kann es auch nicht erklären.

Am Abend erfahre ich von meinen Pensionswirten, denen ich meine Begegnung im Gasthof Streichen erzähle, dass ich mit der Annelies gesprochen hätte. Sie sei in Hamburg verheiratet gewesen – daher also der geringe bairische Akzent! – ihr Mann sei plötzlich gestorben, sie wohne noch in Hamburg wegen ihrer Kinder, sei aber oft hier in Schleching und helfe oben auf dem Streichen aus.

Wo nun Franz von Winkelhofen, der 1911 gestorben ist, bestattet liegt, habe ich nicht erfahren. Hartmut Rihl vermutet, dass sein Grab auf dem Schlechinger Friedhof gewesen sei, es aber irgendwann einmal aus Platzgründen neuen Gräbern habe weichen müssen.


Freitag, 24. Juli

Schleching um 1900

Wie kann man sich das Leben in einem oberbayerischen Ort wie Schleching um die Jahrhundertwende vorstellen, als mein Opa Michael dort als Kind lebte?

Keine feste Straße, geschweige denn eine geteerte Durchgangsstraße wie heute, sondern Sandwege, öfter ohne Seitenbegrenzung oder Zaun, eher kleinere und größere Sandplätze an den Gehöften entlang. Auf den Wegen Menschen zu Fuß, um die Häuser herum Kinder, wie man es heute in unseren Dörfern nicht mehr sieht. Ochsen- und Pferdekarren waren unterwegs, viel wurde in der Hand oder sogar noch auf dem Kopf getragen, wenn zum Beispiel Sennerinnen ihre auf der Alm gestampfe – oder schon in einer Handkurbel geschleuderte? – Butter („den Butter“) in Embern” nach Hause brachten. Die Gebäude waren nicht immer in bestem Zustand, meist fehlte das Geld für Schönheitsreparaturen. Blühten damals schon Blumenkaskaden auf den Balkons? Die Menschen waren verglichen mit heute arm, aber man litt keinen Hunger. Wenig Vieh in den Höfen – die ärmsten Bauern, Gütler und Kleingütler, besaßen nur eine Kuh oder sogar nur ein Schwein –, Hühner scharrten überall im Sand, Enten hockten im Gras, vereinzelt auch Gänse – im Frühjahr das Federvieh mit seinen Küken. Manchmal ein Hund an der Kette, eine Katze faul in der Sonne, „Geißen“ meckerten in Verschlägen. Gab es Esel? Heute sehe ich zwei Esel auf einer Weide. Alles zum Essen wurde selber hergestellt; Geschäfte? Wozu? Es gab aber eine Post (der Niederhauserbauer hatte im Vorderteil seines Hauses zunächst, 1894, die „Postablage“ eingerichtet, dann 1898 die „Postagentur Schleching“, die heutige Pension „Alte Post“), es gab einen Schulraum im Mesnerhaus, in dem auch der Lehrer wohnte, der gleichzeitig die Orgel in der Kirche spielte – wie Lehrer Lämpel.

Die Messe war jeden Sonntag vormittags wie nachmittags (zum „Segen“) gut besucht, man ging selbstverständlich zur Beichte, die Menschen waren hier noch sehr religiös. Sie waren bodenständig, gut bayerisch, weniger kaiser- als vielmehr königstreu. Und sie waren konservativ: „Alles, was in seinem (des Bauern) Kreise dem Hergebrachten zuwiderläuft“, schrieb Ludwig Anzengruber 1885, „macht ihn verlegen und misstrauisch, 's mag ja von Gott gegeben sein, 's könnt's aber auch der Teufel geschenkt haben, wer weiß sich da schnell aus?“

Viele alte Männer hatten Vollbärte, einige junge Burschen schneidige Schnurrbärte, die Bäuerinnen trugen sonntags Trachten – die Mägde durften das nicht, konnten es sich ohnehin nicht leisten –, die Bauern Jankerln. Die Alten waren „zahnlucket“, hatten Lücken in ihren Zahnreihen, ein damals auf dem Land völlig gewöhnlicher Anblick. Die jungen Männer mussten „zur Militari auf Münka hinteri“ fahren (nach München), von drei Jahren Militärzeit lese ich (so viel?), einmal sogar sieben Jahre! Wenn sie vom Manöver heimkamen, fielen sie ins Wirtshaus ein, tranken, tanzten und sangen:

„Da drob'n auf da Höh'
Schteht die bayrisch' Armee.
Soldaten sollen leben!
Schöne Mädigen daneben!
Tapf're Bayern sein's mir,
Tapf're Bayern sein's mir!

Wir Bayern hamm Muat,
Wir fürchten's kein Bluat,
Wir haben's Kuraschi,
Wenn das Blut fließt auf der Straße,
Tapf're Bayern sein's mir,
Tapf're Bayern sein's mir!“

Waren die Menschen abergläubisch? Bei Ludwig Thoma (1911) lese ich von der Heilung eines Pferdes: Eine alte Frau wird in den Stall geholt und spricht dreimal diesen Beschwörungsvers:

„Jerusalem ist eine schöne Stadt,
Darinnen Jesus Christus gekreuzigt ward.
Er ward gekreuzigt mit Wasser und Blut,
Das ist für Würmbeißen und Darmgicht gut.“

Sie streicht dabei jedesmal mit der Hand über den Rücken des kranken Tieres, und die anwesenden Bauern nehmen ihre Hüte ab, sehen voll Scheu zu und machen auf Stirn, Mund und Brust das Zeichen des Kreuzes. Vorher hat es allerdings seriösere, medizinische Maßnahmen unter Anleitung eines Tierarztes gegeben.

Offenbar weniger geglaubt, zumindest von den jüngeren Frauen, wurde dieser Zauber: Wenn sich ein Mädchen in der Thomasnacht, das ist die Nacht zum 21. Dezember, „ganz nackert“ auf den Schemel vor ihr Bett stellt und aufsagt:

„Bettscheml, i tritt di,
Heiliger Thomas, i bitt di,
Lass mich sehgen den Herzallerliebsten meinigen
Diese heitige Nacht!“

dann wird es im Traum den „Burschen“ sehen, der es einmal heiratet. (Welche Reime! Welche Rhythmen! Welche Sprache! Herrlich! Gehörte in „Des Knaben Wunderhorn“.)

Glaubten die Leute in den Dörfern – anders als in den Städten, wie ich lese – um diese Zeit wirklich noch an den „Bilmesschneider“, den Gehilfen des leibhaftigen Satan, der nachts auf einem schwarzen Bock über die Felder reitet, Ähren abschneidet und so die Ernte verdirbt? Es soll noch Bauern gegeben haben, die ihre Felder davor geschützt haben durch allerlei Maßnahmen von Besprühen der Saat im Frühjahr mit geweihtem Wasser bis hin zu geradezu naiven Zaubereien wie bei Huckleberry Finn: Der Bauer musste am Pfingstsonntag noch im Dunkeln aufstehen, ohne von jemandem geweckt worden zu sein, und ohne ein Wort zu reden ging er mit einem Gewehr zu seinem Feld und schoss mit Weihwasser gesegnete Kugeln von jeder Ecke einmal über das Feld: So weit, wie der Schuss zu hören war, hatte der „Bilmesschneider“ keine Macht. Das soll es um die Jahrhundertwende noch gegeben haben? Ich kann es kaum glauben. Immerhin wurde jemand, der einen Mann öffentlich beschuldigte ein „Truderer“ (Hexenmeister) zu sein, wegen Verleumdung oder Beleidigung zu fünfzig Mark Strafe verurteilt und musste die Verfahrenskosten tragen.

Hat der „Chirurgus“ im Dorf noch nach den „Principia Medicinae“ des schottischen Arztes Francis Home von 1770 geheilt? Darin heißt es in einer deutschen Übersetzung zum Beispiel: „Das Geblüt der jungen Weibsen, wenn sie vor der Zeit reif geworden sind, gleicht dem gärenden Wein in der Flasche, dessen Dünste zu Kopf steigen und die Sinne benebeln. Ein ordentlicher Chirurgus belässt es bei einem, höchstens zwei Aderlässen. Man bereite aus den Blättern des Stechapfels einen leichten Trunk und verabreiche hiervon täglich ein Quartel. So bewirkt er im Geblüt einen sanften Gang. Da die Blätter des Stechapfels ein helles Gift enthalten, beachte man, dass der Trunk auch wirklich leicht sei. Im übrigen aber wäre solch einer jungen Weibsen als bestes Medikament ein Mann anzuraten, was sich aufgrund religiöser Gründe nicht immer durchführen lässt.“ Das habe ich aus Renners „Müllner-Peter“.

Wovor hatten die Menschen in Schleching Angst? Vor Krankheit? Vor Missernten? Vor Erkrankung des Viehs? Worüber freuten sie sich? Sie feierten ihre Feste, das Aufstellen, Stehlen und Auslösen des Maibaums, Fasching, die vielen katholischen Kirchenfeste, Nikolaus mit dem Krampus für die Kinder, natürlich Geburten, Hochzeiten, Beerdigungen, die Unverheirateten gingen auf den Tanzboden zur Kirchweih des Heiligen Remigius im Oktober, und die jungen Burschen tanzten Schuhplattler: Die Schlechinger Schuhplattler waren berühmt im ganzen Chiemgau. Man sprach über die neuen Automobile, die man in München manchmal konnte herumfahren sehen, wie es hieß. Man war gut Nachbar und streitbarer Nachbar. Überhaupt hatte man das Herz auf der Zunge, Wut musste raus: „Du Herrgottsaggerament! 's Mäu halt, du Saufratz, du nixiga! Du Kramp'n, du mistiga!“ (Eines Vaters Flucharie gegen seine erwachsene Tochter)

Und dann das Wirtshaus! Es muss viel Bier getrunken worden sein, „a kloans Schöpperl“, in Wirklichkeit immer viele Maß, zur Freude des Schankwirts: „Die b'suffnen Leutl sind dem Wirt sein Beutl.“ Entsprechend wütend konnte über den Wirt auch hergezogen werden, wenn er „vergisst, dieser Haderlump, dieser miserablige, dass er das obere Quartl auch hineintun muss in den Krug, der z'sammzupfte Banznhäuptling, der damische!“ (Banzen ist das Bierfass.) Im Wirtshaus wurde gekegelt, Haferltarock gespielt („Herz, Grasen, Schell, Eichel“), die Probleme des Alltags „dischkeriert“, gelegentlich durchaus auch gerauft („g'rafft“). „Als Wurfgeschoss“, schrieb Ludwig Thoma 1897 in seiner humoristischen Abhandlung „Agricola – frei nach Tacitus' Germania“ im Abschnitt „Waffen, Kriegswesen“, „als Wurfgeschoss dient ein irdener Krug mit Henkel, der ihn auch zum Hiebe tauglich erscheinen lässt. An ihren Zusammenkunftsorten sucht bei ausbrechendem Kampfe jeder möglichst viele dieser Gefäße zu ergreifen und schleudert sie dann ungemein weit.“ Und es gab eine Sitzordnung: Die Bauern hatten ihren Tisch, die Stallburschen und Holzknechte einen anderen, im „Herrgottswinkel“ hinten in der Ecke des Raums unter dem Gekreuzigten. Frauen und Mädchen gingen nur an Festtagen mit ins Wirtshaus.

Überhaupt gab es eine gewisse Hierarchie: Die Hofbauern waren höher angesehen als die kleinen „Gütler“, die wiederum höher als die „Häusler“ und erst recht als die „Zuhäusler“, die in einem „Zuhäusl“, einem Nebenhaus, zur Miete wohnten. Über den Hofbauern in der gesellschaftlichen Ordnung des Dorfes standen – mit ihrem eigenen Tisch im Wirtshaus – selbstverständlich der Pfarrer („Hochwürden“), ebenso der Lehrer, wenn er auch nicht unbedingt immer hohe Anerkennung genoss – darin von heutigen Lehrern nicht sehr unterschieden –, weiterhin der Advokat, wenn es einen gab, auch der „Kommandant“ der Gendarmerie sowie der Förster, für den die Holzknechte arbeiteten: „Watscheder, tu' aufklaftern“, lasse ich, in Abwandlung einer Textstelle von Georg Queri, den Förster zu meinem Uropa Michael sagen, „Watscheder, nimm den Schlag auf der Leiten, Watscheder, hilf beim Bäumaufladen.“ Schließlich war da noch der „Chirurgus“ oder Bader, der alle möglichen Wundoperationen durchführte, rasierte, Zähne zog – natürlich ohne Narkose, woher sollte er die auch haben? Auch der war nicht immer sehr angesehen, weil man wusste, dass es in den Städten die studierten – aber leider sehr teuren – Amts- und Bezirksärzte gab. „Baderwaschl“ wurde ihm manchmal spöttisch hinterhergerufen, was sich reimte auf „Host koan Kreizer Geld im Taschl.“ Die „Ehehalten“ (Dienstboten wie Knechte, „Stalldirnen“ und Tagelöhner) waren wie die Gütler und Häusler am unteren Ende der sozialen Leiter, sie durften sich keineswegs überall im Haus des Bauern frei bewegen und waren den bäuerlichen Herrschaften absolut untertan. Und wenn sich ein Knecht zu ausgiebig seiner Pfeife widmete, dann konnte ein Bauer schon aus der Haut fahren: „Den sein Pfeiferl stiehlt mir mei Zeit und mei Geld. So langsam arbeit' ja koa Maurer net als wia der. Dö Himmiherrgottspfeif', dö malafizische!“ Auch das finde ich bei Georg Queri (1917), bei uns so gut wie unbekannt, dabei ist einiges sehr amüsant zu lesen.

Es wurde viel Zigarre oder Pfeife geraucht (Wassersack, Beißer, Weichselrohr mit einer langen Hühnerfeder gereinigt und dann mit Stein und Zunder der Schwamm zum Glühen gebracht), aber auch Schmalzler geschnupft. Man aß selbstgebackenes Brot und Suppe, manchmal „Laugenbretzn“, „Radi“, gern Leberkäs' mit Knödeln, eher sonntags gab es „Schwoanshox'n“ oder „G'selchtes“ und anderes „Schweinernes“, Rindsbraten und „Kälbernes“ nur zu besonderen Anlässen, zum Nachtisch Schmalznudeln mit Sauerkraut, lese ich. Und sie hießen Jaggl, Hiasl, Gori, (Jakob, Matthias, Gregor) und Resl, Marei, Zenzi (Theresia, Maria, Crescentia/Kreszenz). Vereine: Auch in Bayern liebte man immer schon Vereine und Verbände: den Gesellenverein, die Zimmerstutzenschützen und andere Schützenvereine, die Feuerwehr, eine Musikkapelle, einen Männerchor, den Veteranenverband (des Krieges 1870/71), einen Kegelverein, einen Rauchklub (natürlich mit Fahne), einen Kartell- oder Bruderverein, einen Aloisiusverein – keine Ahnung, was die machten.

Wer war angesehen? Der Bauer, der seinen Hof beisammenhielt natürlich, die Bäuerin, die gut „hauste“, der Stallbursche, der nicht viel fragte, kräftig anpackte und nicht „hoamgart'n“ tat, herumhängen, die Magd, die „a guate Melcherin“ war. („Vo drei Strich hat sie so viel Milli ausg'molka, wia'r an anderene aus vieri.“) Und die jungen Mädchen mussten drall sein, um bei den jungen Burschen Erfolg zu haben. Eine in unseren Augen Schlanke wäre damals ein Hungerhaken gewesen, sie musste „nudelsauber“ sein, ein „wantsches Madl“.

Gab es Einbrüche? Immerhin wurden die Hoftüren verschlossen, wenn man fortging. Es wurde geschmuggelt, es wurde gewildert, man fluchte mit „valuadat'n Ausdruck“, Frauen klatschten, Männer rissen vulgäre Zoten und sangen „Schnadahupfln“:

„Koa Kotz', wos net maust,
Koa Spotz, wos net fliagt,
Koa Bäurin, wos haust
Und'n Mo net betriagt.“

Auf jedem Hof lebten ein, zwei Knechte und Mägde und vor allem Kinder, die schon früh mit anpacken mussten – viele unehelich. Das Wort „Bankert“ kommt von der Schlafbank der Magd, auf der diese und der Knecht oder der Bauer ihr „ledigs Z'samm- und Auseinanderlaufen“ haben, wie der Pfarrer resigniert seufzte. Einen Nachteil scheinen diese „ex soluto“ Gezeugten nicht davon gehabt zu haben.

So wird mir das Leben vor hundert Jahren geschildert, so lese ich es, so stelle ich es mir vor.

* * * * *

Als mein Opa Michael in die Schule kam (1901? 1902?), hat er vermutlich noch das alte Schulgebäude betreten, das ehemalige Mesnerhaus, heute Rathaus. 1903 wurde etwa hundert Meter weiter ein neues Schulgebäude fertiggestellt, in dem der kleine Michael auch noch als Schüler gesessen haben dürfte. Wo genau er gewohnt hat, ist nur teilweise bekannt: Sein Vater, der auf Halbwart geborene Nachzügler” Michael, als jüngster Watscheder auf dem Buchberg nicht erbberechtigt, zeigt in den Schlechinger Akten eine auffällige Unstetigkeit”, wie der Heimatpfleger Hartmut Rihl schreibt: Er hat allein zwischen 1894 und 1898 viermal die Wohnung gewechselt. Mal Holzknecht (Watscheder, tu' aufklaftern, nimm den Schlag auf der Leiten ...”), mal Briefträger (die Briefladungen nahm er in der Schlechinger Postablage”, später Postagentur” hinter der Kirche in Empfang), scheint er nicht so recht Boden unter die Füße bekommen zu haben. Einmal, 1897, hat er ein kleines Haus gekauft, beim heutigen Oppacher in Ettenhausen, jedoch zwei Jahre später wieder verkauft.

Das alles erfahre ich von Hartmut Rihl, dem amtlich bestellten Schlechinger Heimatpfleger”. Er ist mir immer wieder als der Experte der Schlechinger Geschichte genannt worden, ein Glücksfall. Er hat unter anderem ein Buch herausgegeben, einen Fotoband zur Geschichte Schlechings, in dem man einiges über das Leben hier vor hundert Jahren sehen und in den detaillierten Bildtexten lesen kann. Alle historischen Hinweistafeln auf den Häusern im ganzen Ort sind von ihm verfasst. Für all diese und weitere Verdienste ist er letztes Jahr zum Ehrenbürger Schlechings ernannt worden.

Heute sitze ich mit Hartmut Rihl auf der Terrasse seines Hauses in der Geigelsteinstraße in Ettenhausen. Er ist pensionierter Gymnasiallehrer für Biologie, Chemie und Geographie. Mit lauter Stimme plaudert er ohne Ende, springt immer wieder auf, um für mich Akten zu kopieren. Für meinen Besuch hat er extra seine Watscheder- und Winkelhofen-Aufzeichnungen aus dem Keller geholt. Fast enttäuscht, dass ich den Buchberg und den Streichen schon kenne – er wäre sonst mit mir dort hingefahren – bietet er an, mir wenigstens das Oppacher Haus zu zeigen, das mein Uropa, der unstete” Michael, 1897 gekauft und 1899 wieder abgestoßen hat. Außerdem fährt er mit mir nach Wagrain, gleich hinter der Achenbrücke links, kurz vor dem Weg hinauf zum Streichen. Warum nach Wagrain?

Nach den Unterlagen hat mein Uropa Ende 1895 mit seiner Familie in Wagrain gewohnt (Bestätigung im „Ahnenpass“), in einem „Zuhäusl”, einem kleinen Nebengebäude des Hofes Wagrain 4. Adresse des „Zuhäusls”: Wagrain 4 ½. Dort ist sein Sohn Michael geboren worden, mein Opa, am 22. November, als Sohn eines „Zuhäuslers“ und einer Dienstmagd, wie es in der Heiratsurkunde heißt, also auf der untersten Sprosse der Schlechinger Gesellschaftsleiter. (Das „Zuhäusl” steht heute nicht mehr, es ist irgendwann abgerissen oder vollkommen umgebaut worden. Es ist eines der kleinen Häuschen auf dem stattlichen Hof Wagrain 4, den es noch gibt.)

So wuchs mein Opa mit seinen Geschwistern bei seinem „unsteten” Vater auf. Vermutlich lebte die Familie in bitterer Armut, mehr noch als die anderen Familien des Dorfes. Was war das für ein Mann, dieser Holzknecht und Briefträger Watscheder Michael, Buchbergersohn? Trank er? Verbrachte er die Abende im Wirtshaus und verjubelte das wenige Geld, das er verdiente, beim Kegeln, beim Tarock? Oder war er einfach nur ein armes, unfähiges Hascherle? Das Bild, das wir in der Familie von ihm haben, ist wenig wohlwollend, eben wegen dieser „Unstetigkeit“, vor allem aber wegen der Katastrophe, die er über seine Familie kommen ließ. Eines Tages, am 6. Januar 1906, verschwand er und ist nie wieder aufgetaucht (Archiveintrag: „abgängig seit 6.1.1906“). Bis heute wissen wir nicht, was aus ihm geworden ist. Mein Opa Michael war damals zehn; dessen Großmutter Rosina hat dieses Weglaufen ihres Sohnes nicht mehr erleben müssen, sie war seit vier Jahren tot.

In meiner Familie kursierten die wildesten Gerüchte, Räuberpistolen, in denen große Geldschätze gestohlen und Morde begangen werden. Ich glaube, wir können getrost davon ausgehen, dass das zwar spannende und lustige Geschichten sind, mehr aber nicht. Ich stelle mir etwas anderes vor: Der Mann ließ seine Familie im Stich, stromerte durch den Chiemgau, versuchte sich als Tagelöhner und Knecht über Wasser zu halten, landete irgendwann in der Großstadt München, kam auch mit dem Stadtleben nicht klar, trank, vielleicht geriet er sogar mit dem Gesetz in Konflikt, etwa wegen Mundraub, von irgendwas musste er ja leben, dann kam seine Erlösung, der Weltkrieg, er wurde eingezogen und fiel. Das konnte in etwa der Lebensweg eines Mannes, der mit nichts zurecht kam, am Anfang des Jahrhunderts in Oberbayern gewesen sein.

Ein Jahr nach dem Verschwinden des Vaters starb die Mutter meines Opas, Maria, geborene Wurnig, aus Kössen, gut vorstellbar, dass sie ihrem Gram und ihrer Verzweiflung erlag. In den Akten findet man, dass sie in einem Kufsteiner Krankenhaus an Miliartuberkulose gestorben ist. Die Kinder wurden dadurch zu Vollwaisen. Man verteilte sie auf verschiedene Höfe im ganzen Land. Wer das gemacht hat, das ist mir nicht klar: Die Watschedersche Familie? Die Wurnigsche Familie? Amtliche Fürsorger? Michael jedenfalls, mein Opa, kam mit elf Jahren nach Maistall bei Kufstein zur Familie Mathias und Kreszenz Brandstätter. Und so wurde er, gebürtiger Bayer, aus einer bayrischen Familie stammend, Tiroler.


Sonnabend, 25. Juli

Karin Raab – Buchberg (2) – ein Dachlaubenpfosten

Auf dem Tisch vor dem Haus meiner Pension steht von den Daxers selbstgemachter Johannisbeersaft, Wespen krabbeln auf den Glasrändern herum, und ich unterhalte mich mit meiner neu entdeckten Watschederschen Kusine Karin Raab, die mit dem Auto aus Unterwössen hergefahren ist. Unser gemeinsamer Vorfahr ist unser Ururgroßvater Michael Watscheder, der 1876 vom Halbwart zum Buchberg gekommen ist. Dessen Söhne Johann (geb. 1860 in Oberaudorf, der Buchbergerbe, das „Buachei“) und mein Uropa, der „unstete” Michael (geb. 1868 auf dem Halbwart) waren Brüder. Johanns Tochter Agnes und mein Opa waren demnach Vetter und Kusine ersten Grades, wir sind also Vetter und Kusine dritten Grades.

Von Hartmut Rihl kam der Hinweis auf sie. Sie ist nämlich nicht einfach nur eine Watschedersche Verwandte, sie betreibt auch mit großem Interesse Ahnenforschung. Ihre Ordner quellen förmlich über von Aktenvermerken, Kopien, Aufzeichnungen, Fotos. Als sie die Halbwart-Geschichte erfuhr, von der sie nichts gewusst hatte, ist sie gleich mit dem Auto hingefahren, um sich den Hof anzusehen und mit den Besitzern zu sprechen, und um sich im Amt und in der Pfarrei von Schwaigs alle Urkunden, Kaufverträge usw. zeigen zu lassen, derer sie nur habhaft werden konnte.

Fast schon selbstverständlich – wir sind auf dem Land – stellt sich ganz schnell heraus, dass sie auch mit den Daxers irgendwelche gemeinsamen Bekanntschaften hat. Von ihr bekomme ich noch manches Detail und einige Korrekturen, vor allem zum Buchberghof: Der ist nach ihren Unterlagen nicht erst 1917 verkauft worden, wie ich von Rihl vermittelt bekommen habe, sondern schon 1911, und zwar von Johanns Frau Theresia. Deren Tod 1917 ist vermerkt unter „ehemalige(!) Buchbergerin“. Warum sie und nicht ihr Mann Johann, das „Buachei“, den Vertrag unterschrieben hat, verstehen wir nicht. Er hat noch bis 1934 gelebt – auch das erfahre ich neu von ihr, bisher haben wir gedacht, er sei 1914 gestorben.

Ich erfahre aber noch etwas anderes von ihr: Das Buchberger Haus sei nicht abgerissen worden, wie ich geglaubt habe, sondern erhalten, nur umgebaut. Die Hausfront, wie sie auf dem Foto zu sehen sei, existiere noch, sei sogar gut erhalten. Sie zeige hangabwärts, deshalb hätte ich sie bei meinem Besuch von oben nicht sehen können. Als wir darüber reden, fällt mir ein, dass sowohl die Frau Aigner, deren früheres Sägewerk das Haus 1911 gekauft hat, als auch Hartmut Rihl immer von „Umbau“, nie von „Neubau“ gesprochen haben.

Das muss ich mir noch einmal ansehen!

Ich gehe also gleich nach dem Abschied von Karin Raab erneut los zum Buchberg. „Fam. Harnisch“ steht auf dem Briefkasten unten am Weg. Ich stiefele wieder den Waldweg hinauf. Wieder die lästigen Bremsen, eine erwischt mich. Ich schlage sie auf meinem Arm tot, roter Blutfleck. Immerhin ist es heute nicht mehr so heiß wie all die vergangenen Tage. Wie ich gehofft habe stehen heute oben mehrere Autos in und vor dem Carport. Eine ältere Frau jätet vor dem Haus Unkraut. Ich spreche sie an und frage, ob sie hier wohne. „Ja“, sagt sie freundlich lächelnd. „Dies war doch einmal ein Bauernhaus?“ „Es war eine Sennerhütte des Sägewerks Aigner“, korrigiert sie mich. „Aber davor doch ein Bauernhaus?“ „Das weiß ich nicht.“ Ihr Akzent klingt wenig bairisch. „Kommen Sie von hier?“, frage ich. „Nee, aber ick wohne hier. Ick habe das Haus vor fünfzehn Jahren jekauft.“ Hätte noch gefehlt, dass sie gesagt hätte: „ha' ick jekooft“ . Eine Berlinerin.

Sie führt mich die Stufen hinunter hinter das Haus, besser gesagt vor das Haus, zur Terrasse, die sich unterhalb vor der alten Front befindet. Jetzt sehe ich die alte Vorderseite: Tatsächlich, so sieht ein altes Bauernhaus aus, hervorragend renoviert, im Bestand gut erhalten. Ich kann diese Frontseite leider nicht fotografieren, zu schmal ist die Terrasse, ich stehe zu dicht am Haus.

Die Frau lebt hier mit Tochter und Schwiegersohn, beide Lehrer, und deren Kindern. Ich unterhalte mich ein wenig mit der Tochter, die jedoch, wie erwartet, nichts über die Vergangenheit des Hauses weiß. Sie nennt mir aber einen Vinzenz Bachmann, Zimmerer unten in Mettenham, der ein Buch habe über die hiesige Architektur „oder sowas“, darin sei das Haus erwähnt, sogar ein Bild auf dem Einband, das Buch könne man kaufen.

Sofort mache ich mich auf den Weg nach Mettenham am Fuße des Buchbergs. Ein letztes Mal muss ich durch den Pferdebremsenwald, trete unten auf die Straße und gehe etwa einen Kilometer nach Norden. In Mettenham suche ich das Haus des Bauzimmerers Vinzenz Bachmann auf, Raitener Straße 17, ein sehr großes, schmuckes Bauernhaus. Die Tür steht offen. Ich klingele – immerhin gibt es hier eine Klingel, sonst muss man immer klopfen und rufen oder einfach reingehen, was ich als Städter nie mache. Ein etwas gedrungener, stämmiger Mann kommt kauend an die Tür. Ich muss ihn beim Mittagessen gestört haben. Er hat etwas, ich will nicht sagen Unwirsches an sich, aber etwas Kurz-Angebundenes. Ich fürchte abgewiesen zu werden, wie ich das manchmal erlebe. „Buch?“, sagt er. „Kommen Sie rein.“

Erfreut folge ich ihm ins Haus. Er führt mich in ein großes Büro und hat das Buch augenblicklich in der Hand. „Hermann Phleps: Holzbaukunst – Der Blockbau, Bruderverlag Karlsruhe“, lese ich, und er zeigt mir die Zeichnung von einer hölzernen Dachstuhlkonstruktion auf dem Buchdeckel. „Das ist Buchberg“, sagt er kurz. Ich frage, ob ich das Buch kaufen könne, ohne zu wissen, was genau darin steht. Nein, könne ich nicht, er habe nur dieses eine Exemplar. Er geht an seinen Computer, sucht im Internet und findet es antiquarisch für 250 €. Das ist mir zu teuer. Er bietet mir an, das Titelblatt zu fotokopieren. Gern nehme ich das Angebot an. „Worum geht es denn genau in dem Buch?“, möchte ich wissen. „Holzbaukunst in Europa. Das hat in den 30erjahren ein Architekturprofessor aus Karlsruhe geschrieben.“ Er blättert in dem Buch, sucht etwas, blättert lange, und findet dann die entsprechende Stelle mit der Skizze von der Buchbergkonstruktion. „Hier ist das Bild nochmal“, sagt er und zeigt mir die Zeichnung genau, einen Stützpfosten mit gedrechselten Rundungen. „Das ist eine Besonderheit, die es nur im Buchberghaus gibt.“ Und ich lese, dass es kennzeichnend für diese „Laube aus dem Chiemgau“ sei, wie „die Säule aus dem Vollen heraus gestaltet“ worden sei und wie zugleich „in der Höhe des Brustriegels … konsolartige Vorsprünge ausgespart worden sind“, usw. Ich verstehe nichts. Ob die Watscheders vor hundertfünfzig Jahren davon gewusst haben?

„Und“, fügt Vinzenz Bachmann hinzu, „hier steht, wann das Haus gebaut wurde.“ Ich fahre auf. Wann das Haus gebaut wurde? Das interessiert mich allerdings, und zwar sehr. „1698.“

1698! Das Buchberger Bauernhaus, das Michael Watscheder 1876 gekauft hat, war also damals schon fast hundertachtzig Jahre alt, heute über dreihundert. Und es steht noch. Was für schöne Nachrichten! Weitere Teilchen zum Familienpuzzle sind gefunden.

Herr Bachmann fotokopiert mir die Seite. Dann führt er mich in eine große Holzlagerhalle. „Hier ist er“, sagt er dann. Oben unter dem Hallendach, gut geschützt auf einem dicken Querbalken, liegt exakt dieser besondere Dachstuhl-Lauben-Stützpfosten. „Wir haben ihn gerettet“, sagt er. „Wir haben die Umbauarbeiten in dem Haus gemacht. Das Stück wäre verloren gegangen, wenn wir es dringelassen hätten. Jemand hätte es irgendwann einmal zersägt.“ „Und was geschieht jetzt damit?“ „Den bewahren wir gut auf.“ Für den Bauzimmerer offenbar eine Kostbarkeit. „Aber niemand weitererzählen!“

So kurz angebunden, wie der Mann redet, so hilfsbereit ist er in Wirklichkeit. Und welche Freude an dem Handwerk, welches Interesse an dem Fach stecken in dem Aufbewahren dieses einmalig gedrechselten Dachstuhlpfostens!
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Heute ist Dieter Kühn gestorben, wie ich viel später in Hamburg zufällig erfahren werde. Dieter Kühn ist mit seinen beiden Biografien über Oskar von Wolkenstein und Wolfram von Eschenbach eines der sprachlichen Vorbilder dieses Tagebuchs. Ich mochte immer die Verbindung von historischer Sachlichkeit mit dem persönlichen Zugang zu der beschriebenen Vergangenheit: Wie hat er die Fakten herausgefunden? Wie stellt er sich die dargestellte geschichtliche Welt aus heutiger Sicht vor? Szenarien: Wie könnte es gewesen sein?



Sonntag, 26. Juli

Zurück nach Kufstein

Wehmütig schaue ich mich um, als ich mit dem Bus – für 3,10 € bis Kössen – aus Schleching hinausfahre. Die Hochplatte mit der Zwillingswand bleibt zurück, die Kampenwand und der Geigelstein ziehen vorbei, in der Ferne hinter den weiten Wiesen verschwindet der Buchberg, Abschied vom Streichen links oben, und schon sind wir in der Achenklamm und am Klobenstein. Die ganze Busfahrt über, auch auf der weiteren Fahrt von Kössen nach Kufstein (6,30 €) sehe ich meine Wanderwege und -stationen noch einmal, und es geht so unglaublich schnell. Wofür ich auf dem Hinweg drei mühsame, intensiv erlebte, schweißnasse Wandertage gebraucht habe, fahre ich jetzt in einer guten Stunde zurück. Halbwart ist nicht zu sehen, zu weit unten geht die Straße direkt am Walchsee vorbei, einem kleinen, dunkelgrünen Badesee, an dem gerade heute, einem strahlenden Sonntag, viel Betrieb ist. Am Inn grüßt der Brünnstein und von weitem Watschöd von seiner Lichtung am Hang des Schildbarren. Dann taucht der Pendling auf, und schon bin ich wieder in Kufstein. (Diesmal Hotel Goldener Löwe mitten in der Altstadt, Zimmer 339, zentral, bequem, 45 € Striede-Spezialpreis, weil die Pension Striede jetzt kein Zimmer für mich frei hat.)

Wenn man im fernen Norddeutschland am Schreibtisch sitzt und die Wanderroute plant: Kufstein, Inntal, Bayern, wieder Tirol, wieder Bayern, diesmal Chiemgau, dann denkt man an länderübergreifende Weiten. Und das Gefühl hat man ja auch beim Durchwandern dieser Gebiete. Wenn man aber auf der Straße alles abfährt, merkt man, auf einem wie kleinen Raum sich die ganze Watschedersche Vergangenheit abgespielt hat, in einem Gebietskreis mit einem Durchmesser von gerade mal zwanzig Kilometern.

Aus diesem kleinen Kreis also stammt das Watschedersche Bauernblut, das durch meinen Körper fließt, gut vermischt mit dem Winkelhofschen Zustrom aus Südtirol. Von diesem Kreis kommt das Watschedersche Bäuerische in mir - das ich spüre trotz aller norddeutschen, evanglischen, bildungsbürgerlichen Sozialisation. Ich habe die Landschaft gesehen. Sie ist mir ganz vertraut geworden. Und ich habe sie lieb gewonnen.


Montag, 27. Juli

Bäckerei Schmidt

Bummel durch das Städtchen Kufstein, Mitbringsel shoppen, nicht gerade meine Leidenschaft, aber meinen Lieben möchte ich doch gern mit einem Schmankerl Freude machen. Außerdem suche ich dabei Bücher über das alte Kufstein. Und ich finde in einem Band das Foto von dem Geburtshaus meiner Mutter, das meine Schwester besitzt, eine Ansichtskarte. Untertitel: „Die Kinkstraße 1937. Im Gemüsegarten links am Zaun befand sich der Schmiedbäckbrunnen.“ Das Buch ist mir zu teuer, nur dieses einen Fotos wegen möchte ich es nicht kaufen, zumal ich das Foto habe.

Aber Schmiedbäckbrunnen? Das klingt ja ganz nach dem Bäcker Schmidt in der Kinkstraße, an dessen Schaufenster meine Mutter um 1928 als Fünfjährige sich die Nase plattdrückte und sich in die verführerische „gemütliche Hölle aus Teigfigürchen, Zuckerguss und Watte“ hineinsehnte, wie mein Bruder es so schön beschrieben hat. Wo war diese Bäckerei Schmidt? Oder Schmied? Es ist fast hundert Jahre her, wer soll das hier noch wissen? Ich frage eine junge Buchverkäuferin. Natürlich weiß sie es nicht. Sie fragt einen Kollegen. Auch der muss passen. „Der Schmiedbäckbrunnen“, versucht er im Wunsch mir zu helfen, „das muss der Brunnen auf dem Platz vor der „Volksschule“ und dem „Goldenen Löwen“ sein.“ Dann wird die Annie geholt, die älteste Verkäuferin im Laden. „Ach Gott“, stößt sie aus, „so alt bin ich nun auch wieder nicht!“ Nichts. Sie empfiehlt mir den „Bürgerservice“ im Rathaus. Dort gebe es seit drei Wochen einen neuen Chronisten, aber ob der das wisse, das wage sie zu bezweifeln. Und genau so ist es: Auch dort weiß keiner, wo die Bäckerei Schmidt in den 20erjahren war.

Enttäuscht gehe ich zum schmiedeeisernen Brunnen vor der „Volksschule“, die eine Realschule war und in die Hanna nicht gegangen ist, und fotografiere ihn, ob es nun der „Schmiedbäckbrunnen“ ist oder nicht.

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Nachtrag vom 24. August:

Heute erhalte ich von einem Hermann Horvath eine E-Mail mit diesem Inhalt:

„Sehr geehrter Herr Grimm,
endlich ist es mir gelungen, Ihnen die versprochenen Photos von der Kinkstraße in Kufstein zu schicken. Ich hoffe, Sie können damit was anfangen und verbleibe
mit freundlichen Grüßen aus Kufstein
Hermann Horvath“

Und ob ich damit etwas anfangen kann! Hermann Horvath hat das Buch mit den historischen Fotos von Kufstein herausgegeben, das ich in einem Buchladen gefunden habe, das Buch mit dem Foto von dem Geburtshaus meiner Mutter. Diesen Herrn Horvath habe ich per E-Mail über den Verlag gefragt, ob er wisse, wo sich die Bäckerei Schmidt befunden habe. Seine Antwort per Fotos lautet: Sein eigener Großvater, Stephan Horváth, aus Ungarn eingewanderter Konditor, hat im Haus Kinkstraße 20 ein Café mit Konditorei eingerichtet. Das hat meine Mutter wohl weniger interessiert. Aber gleich links nebenan, im Haus Nummer 22, war die Bäckerei Schmidt, also unmittelber neben dem Hauseingang des kleinen Mädchens. Es muss bei jeder Rückkehr vom Einkaufsweg an der Hand seiner Mutter, meiner Oma, die Düfte der Semmeln und Brezeln und „Kiachaln“ eingesogen und gequengelt haben: „Mamaaa? ...“ usw.

Also: Die Bäckerei Schmidt befand sich unten genau in dem Wohnhaus der Watscheders. (Heute ist da ein unattraktiver Blumenladen.) Und der „Schmiedbäckbrunnen“ heißt nach Hermann Horvath „Schmidtbrunnen“, tatsächlich nach der Bäckerei, der gegenüber, auf der anderen Straßenseite, er ursprünglich gestanden hat.

Damit wäre das mal geklärt.



Dienstag, 28 Juli

Michael Watscheder

Noch schneller als mit dem Bus fliegt man mit dem Zug an den inzwischen so vertrauten Orten vorbei. Gerade noch verabschiede ich mich hinten vom Pendling, da tauchen vorne schon Brünnstein und Schildbarren auf, und ganz kurz kann ich durch vorbeihuschende Bäume hindurch einen Blick auf Watschöd erhaschen: Ruhig liegt der Hof auf seiner Anhöhe. Das Erler Zollhaus ist verdeckt, nur das Dorf Erl ist zu sehen mit seinem weißen halbkreisförmigen Passionsspielhaus und der schwarzen futuristischen Festspielhalle. Dann sind wir aus den Bergen heraus im flachen Alpenvorland Richtung Rosenheim und München. Bfüat euch Gott alle miteinand'!

Wandern auf den Spuren von Vorfahren, das war vor allem ein großer Spaß. Viel habe ich gesehen, mit vielen habe ich gesprochen, viel habe ich erfahren, mancherlei Neues, viel Bestätigendes. Etliches ist auch offen geblieben, unbeantwortet. Aber in dem großen Mosaik sind schöne Steinchen hinzugekommen. Vor allem jedoch: Ich habe jetzt eine Vorstellung von der Landschaft, aus der mein Opa stammt. Denn um die väterlichen Vorfahren dieses Michael Watscheder ging es auf meinem Weg. Warum nur, habe ich mich unterwegs oft gefragt, warum nur habe ich mit ihm nie über seine Vergangenheit, seine Kindheit gesprochen? Was hätte er alles erzählen können! Warum habe ich ihn mir nicht einmal geschnappt, ihn ins Auto gesetzt und bin mit ihm nach Kufstein gefahren? Schleching hätte wohl wenig Sinn gehabt: Dort gab es schon lange keine Watscheders mehr, und einen Hartmut Rihl gab es noch nicht, der uns das mit Oberaudorf, Watschöd und Halbwart hätte sagen können. (Oder vielleicht doch Schleching? Wusste er mehr? Im Ahnenpass” meiner Mutter finde ich, sogar in ihrer Handschrift, „Halbwart“ und „Poider“. Sie wusste aber offenbar nicht, dass das keine Höfe in Schleching sind. Ich finde auch „Oberaudorf“. Wusste meine Mutter, wusste mein Opa, dass die Watscheders Oberaudorfer waren?)

Aber wenigstens Kufstein: Er hätte mir etwas zeigen und Geschichten dazu erzählen können. Wir hätten Verwandte und Freunde treffen können, von denen damals noch einige lebten. Warum nur habe ich das nicht gemacht? Es hat mich früher einfach nicht interessiert.


An meinen Opa musste ich während meiner Wanderung immer wieder denken, auf der Wanderung durch die Landschaft, die ihn zu dem gemacht hat, der er war: bedächtig, schwerfällig, fröhlich, bäuerisch - Eigenschaften, die ich in mir selber wiedererkenne.

Zu seinem Gedächtnis habe ich dies Tagebuch geschrieben.


Die Bücher, die ich im Zusammenhang mit der Wanderung gelesen habe, in denen ich viel über das bäuerliche Leben in Oberbayern um die Jahrhundertwende erfahren habe und aus denen auch die meisten Zitate stammen, sind folgende:


Ludwig Anzengruber: „Der Sternsteinhof“ (1885)

Anzengruber war zwar kein Bayer, sondern Wiener, aber dieser eindrucksvolle Roman ist mit seiner Darstellung der Häuslerin, die mit Tatkraft und rücksichtslosem Egoismus zu einer Großbäuerin wird, sicher dicht an den dörflichen Verhältnissen in Bayern. Den Film von Hans W. Geißendörfer von 1976 übrigens, der mir die Idee gab, jetzt mal das Buch zu lesen, habe ich noch in ziemlich guter Erinnerung: Die mir fremde Welt muss mich damals fasziniert haben, die meisten Filmhandlungen vergesse ich nämlich sonst immer.

Ludwig Ganghofer: „Der Unfried – Eine Hochlandsgeschichte“ (1888)

In diesem Roman, das in einem bayerischen Dorf spielt, wird viel geweint, Brüste heben sich zu verzweifelten Seufzern, glutschwarze Augen blitzen zornig usw. Der Spaß dieser Lektüre ist reichlich kitschig, die dramatische Handlung zufällig und gewollt. Aber spannend ist die Geschichte allemal.


Carl Oskar Renner: „Der Müllner-Peter von Sachrang“ (1972)

Ein historischer Roman vom Anfang des 19. Jahrhunderts aus der Zeit der Napoleonischen Besetzungen. Handlungsort: das oberbayerisch-tirolerische Grenzgebiet – Sachrang ist ein Dorf in einem Nachbartal von Schleching. Den Müllner-Peter hat es wirklich gegeben, was zur Folge hat, dass dem Autor in seiner Gestaltung Grenzen gesetzt waren. Dementsprechend hat das Buch öde, langweilige Passagen (seitenlange Studien, Chorproben, Reisen u.ä.), ist aber stellenweise durchaus auch lesbar, einiges im Leben des Mülllers war denn doch aufregend genug für den Roman.


Ludwig Thoma: „Andreas Vöst“ (1906) und: „Der Wittiber“ (1911)

Die beiden oberbayerischen „Bauernromane“ sind offenbar realistische, auf jeden Fall anschauliche, oft drastische Schilderungen der bäuerlichen Atmosphäre und Lebensverhältnisse am Anfang des 20. Jahrhunderts: sehr aufschlussreich, fesselnd.


Und nochmal Thoma: „Agricola – Bauerngeschichten“ (1897)

Es handelt sich um ein Büchlein mit Erzählungen, die auf Thomas eigenen Erlebnissen als Rechtsanwalt auf dem Land beruhen, köstliche humorige Beschreibungen und Charakterisierungen des Bauernschlages: schwerfällig, ungebildet, schlau, selbstbewusst, stur, usw. Kraglfing heißt hier das oberbayerische Suleyken. An einigen Stellen musste ich regelrecht auflachen.


Georg Queri: „Der bayrische Watschenbaum“ (1917)

Ähnlich wie die „Agricola“-Geschichten witzige, satirische Erzählungen, zum Beispiel mit der Beschreibung eines Stammtisches, der gern Hindenburg als Mitglied aufnehmen möchte, oder mit der Schilderung eines Holzknechts, der nach getaner Arbeit einfach nicht anders kann als im Wirtshaus einzukehren, das dummerweise direkt an seinem Heimweg steht, mit den entsprechenden komischen Folgen. Leider haben die Geschichten Längen, hören nicht auf, wo sie am besten aufhören sollten. Sie sind im übrigen geprägt vom Weltkrieg, in dessen Zeit sie geschrieben wurden.

Nochmal Queri: „Der Kapuziner – Roman aus dem tiefen Bayern“ (1920)

Dieses posthum erschiene Buch ist zwar wenig ergiebig, wenn man etwas über das oberbayerische Dorfleben oder den Dialekt erfahren will – die Handlung ist zudem im 18. Jahrhundert angesiedelt –, aber es ist eine herrlich geschriebene antiklerikale Satire, die sich auch über den geradezu absurden katholischen Volksaberglauben lustig macht, teilweise sehr krass (etwa Prügelstrafe in der Schule). Und es ist witzig. Nur ein Beispiel: Der kleine Jesuitenschulbub Pankraz spielt zu Hause eine antilutherische Predigt nach, die er in der Kirche gehört hat, so fanatisch, dass selbst seine frommen Zieheltern erschrecken, während der „Pater Guardian“, geistlicher – und heimlich biologischer – Vater des Jungen, diesen hocherfreut zum Zuckerbäcker führt; „der Pater belohnte die schöne Predigt mit einem zuckernen Martin Luther und hieß den Buben, dem ungläubigen Manne den Kopf abbeißen. Mit jugendlichem Ingrimm biss Pankraz zu – ach, süß ist es, gegen die Heiden zu kämpfen.“


Und die Bücher zu Schleching, Oberaudorf und zur Winkelhofener „Karlsburg“ in Brixen:

Schleching am Geigelstein – Die Dorfgemeinde im Tal der Tiroler Ache; Fotografische Erinnerungen von gestern und heute“, ein umfassender und sehr informativer Fotoband herausgegeben von u.a. Hartmut Rihl, „Ortsheimatpfleger“ (Texte); für 25 € im Tourismus-büro („Bürgerhaus“) in Schleching zu bekommen. Aus diesem Buch stammen einige der Fotos in meinem Fotoalbum.

Unser Audorf – Chronik 2. Teil“ von Dr. Josef Bernrieder, 1991 herausgegeben von der Gemeinde Oberaudorf, mit den für uns so erlösend informativen Besitzerlisten sämtlicher Bauernhöfe Oberaudorfs im "Anhang: Hofgeschichte der in der heutigen Gemeinde Oberaudorf befindlichen Anwesen" S. 709 - 979.

       „Milland - Beiträge zu Natur und Geschichte“, 1993
       herausgegeben vom Bildungsausschuss Milland, 
       darin S. 115 - 148: Erika Kustatscher: "Die Ansitze von
       Milland". Erika Kustatscher ist eine Südtiroler Historikerin,
       die ihren Aufsatz mit zahlreichen Anmerkungen versehen
       hat, die es sicher lohnt, nach der Winkelhofenschen
       Geschichte abzusuchen, nur als Beispiel: Ignaz Mader,
       Aus der Geschichte derer von Winkehofen, in: Der Schlern
       19, 1938, S. 132 - 134.



          Der Pointnerhof
(Poider am Kleinen Berg”)

ca. 1650 – 1885 in Watschederschem Besitz


ca. 1650 – ? Hanns Watscheder
schuldet 1652 seinem Sohn Hanns 900 Gulden und 30 Kreuzer

? – 1709 Hanns Watscheder

1709 – 1762 Simon Watscheder (stirbt 1773)
680 Gulden Schulden auf dem Hof;
heiratet 1721 Anna Rechenauer

1762 – 1798 Bernhard Watscheder (1731-1806)
muss 6 Geschwister auszahlen;
heiratet 1765 Anna Kurz

1798 – 1820 Johann Watscheder
übernimmt den Hof um 1.100 Gulden. Witwer,
heiratet Maria Neugschwendtner, Korbmachertochter aus Mühlbach. 1805 Forstrechtsentschädigungsanteile: 12,95 Tagwerk im Lengauerwald, Almhütte und Almanteil an der Großalm und Lengaualm.
1815/17: baut neues Gebäude – Stadl und Backofen abgesondert.

1820 – 1856 Sebastian Watscheder (stirbt vor 1856)
heiratet Anna Gfäller aus Oberau/Tirol

1856 – 1870 Sebastian Watscheder (1821-1893)
übernimmt den Hof um 6.000 Gulden (Erbvergleich) von der Mutter;
heiratet Katharina Hormayer aus Kitzbühel/Tirol

1870 – 1885 Johann Watscheder
heiratet Anna Bichler aus Vorderwildgrub (Oberaudorf);
verkauft den Hof 1885 

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